https://www.deviantart.com/ifritnox/art/688564723
Mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen schwang sich Askook in den Himmel und ließ die Wiesen weit unter sich zurück. Der Wind strich kühl über seine empfindlichen Flügelhäute und begrüßte den Drachen wie ein verlorenes Kind. Mit ausgebreiteten Schwingen tanzte er auf dem Wind, folgte dessen Strömungen und dessen Ruf.
Im Reich der Schatten hieß es, ein Drache sei die Seele des Feuers, Kind der Flammen, ein Diener des brennenden Zorns und der verzehrenden Gier.
Askook dagegen hatte von den Drachen des Lichts gehört, schlanken, goldenen Wesen, die sich anderen Gesetzen verschrieben hatten. Nur im Notfall konnten diese Wesen Feuer spucken, und dann war es eine goldene Kugel, die kein reines Wesen verbrennen konnte. Ganz im Gegenteil, diesem Feuer wurden große Heilkräfte zugeschrieben.
Diese Wesen waren keine Kinder, sie waren Könige des Windes, die Brüder der Freiheit.
Askook würde jedes Feuer opfern, um zu ihnen gehören zu können, um über den mächtigen Schmiedebergen im Sonnenreich zu tanzen statt über den zerklüfteten, schwarzen Bergen des Schattenlands.
Schon der Wind über dieser Ebene war so viel klarer als in Askooks Heimat. Er konnte das feuchte Gras riechen, das tief unter ihm lag, wo die Kinder der Sonne, Gudrun und Stella auf ihn warteten.
Mit geweiteten Nüstern und konzentrierten Augen suchte Askook das Land unter sich ab. Er hatte die vielen Besprechungen zwischen Iljan und den anderen verschlafen und nur die Ergebnisse mitbekommen. Sie zogen nicht, wie einmal geplant, in die Wälder, denn Caryellê kannte diesen Plan. Stattdessen zogen sie in die entgegengesetzte Richtung, von Quellheim aus nach Westen, wo nur die Schmiedeberge lagen, eine unüberwindlich hohe Bergkette, die sich vom Schattenreich bis ins Sonnenland erstreckte. Sie befanden sich noch nah an der Grenze der beiden Reiche. In ihrer Reise waren sie weit zurückgeworfen. Doch sie mussten alles geben, um Caryellê zu entgehen.
Askooks Ungeduld wuchs mit jedem Tag.
Er kreiste ein paar Mal in der Nähe der Wandernden und genoss die vorübergehende Freiheit, bevor er wieder landete. Am Boden fühlte er sich plump und ungeschickt, schwer und fehl am Platz.
»Und?«, fragte Iljan.
»Weit und breit niemand zu sehen«, berichtete Askook. »Auch keine Beute.«
Iljan nickte und hob die schweren Taschen an. Sie hatten nur wenig ihrer Vorräte retten können, aber immer noch war es ein beachtliches Gewicht, das Askook zu tragen hatte. Jetzt ging ihre Nahrung zu neige; wann sie ihre Vorräte auffrischen konnten, stand irgendwo in den Sternen.
Askook ließ zu, dass die Taschen auf seinen Rücken geschnallt wurden. Dann sah er zu Stella zurück.
Vor einigen Nächten hatte Gudrun um eine Pause gebeten, um sich mit dem geschwächten Einhorn zu befassen. In der Hoffnung, dass sie nicht in drängender Gefahr waren, hatten die Kinder der Sonne zugestimmt.
Dann hatte Gudrun die Nacht an der Seite von Stella verbracht und den Widerstand des Einhorns gegen die Verwandlung gelöst.
Stellas Fell war jetzt grünlich, ihre Mähne grellrot, mit Strähnen von Rosa, Augen und Hufe waren gelb. Durch ihre grünes Fell zogen sich orange Streifen. Stella erinnerte an eine bunt gefärbte Giftschlange, und dies entsprach der Wahrheit.
Irgendwas hatte Stellas Verwandlungspotenzial geweckt. Kurz darauf musste sie etwas giftiges gefressen haben, möglicherweise Beeren, deren Eigenschaften sie nun in ihrer ersten Verwandlung angenommen hatte. Gudrun hatte betont, dass die Nachwirkungen in ein paar Tagen nachlassen würden und hatte den Kindern der Sonne fernerhin eingeschärft, Stella auf keinen Fall zu berühren.
Als würden die grellen Warnfarben nicht genügen.
»Weiter«, sagte Iljan und die Gruppe setzte sich müde in Bewegung.
»Wie geht es dir?«, fragte Gudrun leise.
Stella, aus einem gespenstischen Wachtraum gerissen, nahm die Hexe erst jetzt wahr. Sie blinzelte und sah sich um. Die Kinder der Sonne waren ein ganzes Stück vor ihr, nur Gudrun war an ihrer Seite geblieben. In den unterschiedlich gefärbten Augen der Hexe stand Sorge und Mitleid – ungewöhnliche Gefühle für eine böse Hexe.
Stella antwortete nicht. Stattdessen streckte sie sich, riss das Maul auf und schüttelte die Mähne.
»Ich weiß«, sagte Gudrun beruhigend. »Das Fieber sollte bald abklingen.«
Stella warf einen Seitenblick auf die Hexe. Konnte dieses Wesen wirklich verstehen, was sie gerade durchmachte? Klar, Gudrun konnte sicherlich die Schmerzen nachvollziehen, die Hitze in den Gliedern, die schreckliche, tödliche Müdigkeit, die Schlappheit – aber konnte Gudrun auch Stellas Zweifel verstehen, die Angst um ihre Unschuld, um ihren Platz im Reich der Sonne?
Stella schreckte zusammen, als sie Gudruns Finger im Fell spürte. Die Verwandlung hatte sie empfindlich gemacht, sie spürte jede Berührung überdeutlich, ein knisterndes Brennen unter der Haut.
»Du machst dir vielleicht Sorgen«, sagte Gudrun leise. »Ich kann dir damit nicht helfen. Ich kann dir nur sagen: Warte damit, dir Sorgen zu machen. Um die großen Fragen kannst du dich später noch kümmern.«
Stella senkte den Kopf. Was Gudrun sagte, klang vernünftig. Aber durfte sie einer dunklen Hexe vertrauen? Sollte in diesen Worten nicht logischerweise ein verborgener Giftstachel liegen, der Stella Wort für Wort von ihrem Glauben und ihren Prinzipien abbrachte?
Ihre Augen brannten mit einem Mal. Stella blieb stehen und schüttelte den Kopf, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Sie kniff die Augen fest zusammen.
Raue, klauenartige Hände umfassten ihren Kopf und hielten ihn fest. Die Fingernägel, geformt wie schwarze Krallen, fuhren erschreckend sanft durch Stellas Mähne, dann über ihre Augen.
»Sieh mich an«, sagte Gudrun leise, mit der Stimme einer Tierzunge: Jedes Tier musste einer solchen Stimme Vertrauen schenken, ihr gehorchen. Stella beruhigte sich schon beinahe gegen ihren Willen.
Dann schlug sie die Augen auf.
Gudruns Gesicht wirkte verändert. Etwas war daraus gewichen, etwas Hartes, Verschlossenes. Jetzt waren die Formen der Wangenknochen, Augen und Mundwinkel sanfter geworden, mehrere winzige Fältchen verschwunden. Sie lächelte freundlich, und Stella sah über die verschieden gefärbten Augen, über das pelzige Muttermal und die krumme Nase hinweg.
Sie konnte sehen, was Gudrun früher gewesen war, erhaschte einen winzigen Blick auf ein längst verstorbenes Wesen, ein Mädchen mit langem, schwarzen Haar, wunderschön wie eine Vampirin bei Neumond.
Auf einen Schlag verstand Stella, dass Gudrun früher auf der anderen Seite der Grenze gelebt hatte, hier, im Reich des Lichts. Sie verstand – gewusst hatte sie es immer, aber noch niemals verstanden – das Gudrun einst wie sie gewesen war: Ein unschuldiges Wesen.
Dann war der Moment vorbei, denn neuerliche Schmerzen durchzuckten Stella. Sie wieherte gequält.
Einen Moment konnte sie nichts sehen. Eine Art Film hatte sich über ihre Augen gelegt, verzerrte die Welt mit bunten Schlieren. Ihre Beine zitterten, die Hufe hatten keine Kraft mehr.
Als sie wieder sehen konnte, standen die Kinder der Sonne um sie herum.
»Was ist mit ihr?«, fragte Jackie, ein unbestimmtes, dumpfes Geräusch in Stellas Ohren.
»Fasst sie nicht an, sie ist noch giftig!«, ertönte Gudruns Stimme. »Ich glaube, sie verwandelt sich zurück. Überlasst das mir, verschafft mir nur Deckung!«
Stellas Mähne war von heißen Schweiß verklebt. Sie zitterte. Sie fror.
Gudrun streichelte sie, die sanften Hände waren Stellas einziger Halt in einer Welt, die im Chaos versank.
»Atme, Stella Cantici. Atme«, sagte Gudrun beschwörend.
Es war Abend, als die gequälten Geräusche des Einhorns endlich verstummten. Jackie stemmte sich aus dem hohen Gras hoch, in dem sie bisher gelegen hatte, und lief zu Gudrun, die nicht eine Sekunde von Stellas Seite gewichen war.
Stellas Fell war noch immer grün und orange verfärbt.
»Wie geht es ihr?«, fragte Iljan, der neben Jackie aufgetaucht war.
»Besser. Ihr Körper musste sich assimilieren«, sagte Gudrun.
Iljan zog unzufrieden die Brauen zusammen. »Ist das nicht bereits geschehen?«
»Bisher nur unvollständig. Ich muss etwas übersehen haben«, sagte Gudrun und sah dem Vampir in die Augen. »Jetzt ist Stella vollständig verwandelt, ihr Körper hat sich assimiliert.«
Iljan seufzte: »Keine schlauen Reden, Gudrun. Wird sich das von heute wiederholen?«
»Nein«, sagte Gudrun überzeugt.
Iljan neigte den Kopf. »Ich hoffe es. Wenn sie uns aufhält, lassen wir euch beide zurück.«
Damit stolzierte der Vampir davon. Jackie hob eine Braue und trottete Iljan dann nach.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie, als sie ihn eingeholt hatte.
»Was soll mit mir sein?«, fragte der Vampir zurück.
»Du bist doch sonst nicht so …«, sie gestikulierte hilflos. Herrisch, hatte sie sagen wollen. Aber das klang zu sehr nach Iljans Vater.
Iljan verstand sie trotzdem. Seine Schultern sanken nach unten. »Ich bin einfach müde. Enttäuscht. Nachdem, was in Quellheim passiert ist, was Cary und Terziel getan haben.«
»Dachtest du etwa, es würde so einfach werden?«, fragte Jackie. »Wir gehen ins Sonnenland und alle glauben uns? Natürlich müssen wir mit ein paar Rückschlägen rechnen. Das bedeutet nichts.«
Iljan schwieg. Langsam verstand Jackie, dass er es sich wirklich einfach vorgestellt hatte. Sie legte dem Vampir eine Hand auf den totenkalten Arm. »Wir schaffen das, Iljan. Wir werden am Ende gewonnen haben. Lass dich nicht davon fertig machen. Und lass es vor allem nicht an einem unschuldigen Einhorn aus!«
Iljan warf ihr einen seltsam düsteren Blick zu: »Es geht mir nicht um Stella, sondern um Gudrun. Sie hätte uns da oben ohne zu Zögern im Stich gelassen.«
»Aber sie ist zurückgekommen«, meinte Jackie schulterzuckend. »Ich mag sie ja auch nicht, aber das muss doch etwas bedeuten.«
»Ich frage mich, ob es etwas Gutes bedeutet«, sagte Iljan mit seiner entwaffnenden Ehrlichkeit.
Die Nacht war hereingebrochen, trotzdem machte Cary keine Anstalten, eine Pause einzulegen. Terziel hastete seiner Anführerin hinterher, wie schon seit Tagen, doch allmählich spürte er die Erschöpfung.
Nach dem Kampf an der Grenze und den darauffolgenden Tagen in Gefangenschaft war sein Flügel noch nicht geheilt. Sein Körper brauchte Ruhe, doch gerade die bekam er nicht. Seit die Kinder der Sonne aus Quellheim geflohen waren, hatte Terziel keine Pause mehr gehabt, denn Cary drängte unvermindert weiter.
Terziel grollte seiner Anführerin nicht. Erstens wäre ihm das nie in den Sinn gekommen, denn er war ein guter Soldat. Und zweitens war ihm klar, dass sie Stella retten mussten, das Einhorn, das gemeinsam mit den dunklen Wesen verschwunden war.
Deswegen beschwerte sich Terziel nicht einmal in Gedanken, während er barfuß durch das hohe Gras lief, in demselben ausdauernden Trab wie Caryellê Assadar. Ihm war warm. Durch das lange Laufen war der Stoff seines Übergewandes verrutscht, der – durch den breiten Schwertgurt gehalten – den vom Untergewand frei gelassenen Rücken decken sollte. Jetzt drang der Wind kühl auf die verschwitzte Haut zwischen Terziels Federn und ließ ihn frösteln. Ihm Rennen rückte er die Stoffstreifen zurecht, unzulänglich, trotzdem wurde ihm warm, schon beinahe zu warm.
Er keuchte leise. Die blonden Locken klebten an seiner Stirn.
Cary hob eine Hand und sie hielten abrupt an. Cary ging sofort in eine hockende Position und zog mit einer einzigen, fließenden Bewegung Pfeil und Bogen, legte den Pfeil an die Sehne und spannte ihre Waffe, die gefiederte Pfeilspitze unterhalb des Auges, das spitze Ohr eine scheinbare Verlängerung des Pfeils.
Terziel hockte sich ebenfalls hin, unterdrückte den keuchenden Atem und lauschte, spähte in die Nacht hinaus.
Die Kinder der Sonne reisten ohne Fackel, und sie tarnten sich gut. Deswegen brauchte Terziel einen Moment, ehe ihm die seltsame Erhebung im flachen Gras auffiel, ein drachenförmiger Hügel von den Ausmaßen eines Pferdes, der in der Leishebene nichts zu suchen hatte.
»Sind sie das?«, fragte er Cary mit einem Hauchen.
Die Elfe nickte knapp. Sie hatte die dunklen Augen verengt, scharfe Linien waren um ihre Mundwinkel erschienen.
»Wir müssen näher heran. Aber der Wind kommt aus unserer Richtung«, sie bewegte sich lautlos, dicht am Boden zur Seite.
Terziel folgte ihr und lockerte vorsichtig das Schwert in seiner Scheide. Das Gras strich leise um seine Knöchel.
Cary spähte wieder über den Pfeil. »Wenn wir das hohe Gras da vorne erreichen, bevor sie aufbrechen – dann haben wir sie.«
»Wäre es nicht besser, sie direkt anzugreifen?«, fragte Terziel leise.
»Du vergisst den Drachen. Und Jackie. Wenn wir jetzt vorwärts stürmen, dann riechen sie uns, bevor ich in Schussweite bin«, entgegnete Caryellê. »Wir brauchen Deckung, und wir müssen näher heran.«
Terziel nickte. Er hielt die Schwingen eng am Körper, während er Cary über das taufrische Gras folgte, in einem Bogen auf die Kinder der Sonne zu. Dann tauchten sie in das von Cary bezeichnete, hohe Gras ein, das ihnen bis über die Köpfe ging. Lautlos schlichen sie vorwärts, schoben sich langsam zwischen den hohen Grashalmen hindurch.
»Wir haben sie«, sagte Cary schließlich leise. »Bist du bereit, Terziel?«
»Ich bin bereit«, antwortete er, zog sein Schwert und spannte die Flügel auf.