https://www.deviantart.com/ifritnox/art/695347175
Im Käfig der Weißen Wächter herrschte Schweigen. Terziel saß außen, den Rücken an die Stahlstangen gedrückt, aus denen der Käfig bestand. Stella stand schnaubend an der anderen Seite, dort, wo ihr Käfig an den von Iljan, Jackie und Abarax grenzte. Caryellê stand neben dem abgesperrten Eingang, umklammerte die Metallstangen und versuchte zu enträtseln, was in der Höhle vor sich ging.
Die Zwerge liefen aufgeregt hin und her. Auf den ersten Blick ein Chaos, doch Cary hatte schon die ersten Regeln erkannt. Es gab Straßen zwischen den blubbernden Lavaseen, und die Zwerge mit Schubkarren, Holz, Steinen, Spitzhacken und was sie sonst noch durch die Höhle trugen, nahmen feste Wege, spezifisch für ihren Arbeitsbereich.
Die Hauptader der unterirdischen Stadt war ein breiter, befestigter Weg, eine Straße aus Schotter, mit Zäunen, wo der Weg an Lavaseen vorbei führte, manchmal auch in einen Lavasee hinein aufgeschüttet. Diesen Weg nahmen die Zwerge mit Schubkarren voller Gestein. Sie kamen aus den Tunneln zu allen Seiten, aus denen beständiges Hämmern klang. Gefräßig wie Felsmaden bohrten sich die Zwerge in den Berg.
Die zweitbedeutendste Straße war eine erhöhte Holzplattform, von der Treppen zu den einzelnen Tunneln herab führten. Dort oben eilten Zwerge hin und her, die Stützbalken trugen, seltener auch eine Sammlung neuwertiger Spitzhacken, Grubenlampen oder anderer Werkzeuge.
Von den Tunneln gingen andere Wege zu den Schmieden, die sich an einer Stelle des Berges zusammenpferchten. Obwohl Cary wenig Ahnung von Steinen hatte, erkannte sie doch, dass eine Schmiede nur mit Eisen, die nächste nur mit Gold beliefert wurde.
Das ganze Treiben überwachte der weißbärtige Zwerg mit Namen Kanmack, der auf einer weiteren erhöhten Plattform stand, hoch über der Hitze und dem Staub, eine Hand auf dem Geländer abstützte, die andere in den Gürtel unter dem fülligen Bauch gesteckt hatte.
Neben Kanmack stand Kaymurk, der sie gefangen hatte, und polierte eine kleine Glasscheibe. Vor den Käfigen der Weißen Wächter stand schließlich Torkan, der Zwerg mit der Armbrust.
Trübsinnig starrten die Gefangenen auf die wimmelnden Zwerge. Cary machte sich Sorgen. Kanmack hatte davon gesprochen, die Gefangenen für irgendein rätselhaftes Projekt zu verwenden. Sie zweifelte nicht daran, dass er sie freilassen würde, sobald einmal geklärt war, dass sie wirklich zu den Weißen Wächtern gehörten. Bei den Kindern der Sonne war sie sich weniger sicher. Mehr als einmal sah sie zu ihnen herüber, zu Iljan, der in sich zusammengesunken war, zu Askook, der nach seinen zahlreichen Verletzungen vom Fieber geschüttelt wurde, zu Najaxis, dem das schleimige Lächeln wohl für immer vergangen war.
Sie erschienen Cary wie Kinder. Kinder, die keine Ahnung gehabt hatte, wie riskant und gefährlich ihre Unternehmung war. Vielleicht hatten sie wirklich geglaubt, auf dieser Seite der Grenze auf Akzeptanz zu stoßen. Vielleicht war ihre Unwissenheit nicht gespielt, und die Kinder der Sonne waren nichts als Werkzeuge einer höheren Macht.
Cary warf einen Blick zu Terziel und fühlte sich schuldig. Diese Gedanken waren ein Verrat an allem, wofür sie stand, an dem Glauben, dass alles hinter der Grenze böse war.
Das Metall unter ihren Händen fühlte sich warm an.
Offensichtlich wurde es Abend, oder jedenfalls bahnte sich eine Ruhepause an. Askook hob den Kopf und schüttelte sich leicht. Sein Kopf dröhnte, die empfindlichen Flügel ließen sich keine Krallenbreit bewegen und er hatte Hunger.
Die Höhle leerte sich langsam. Askook spannte den Kiefer unter dem festen Maulkorb an, in der Hoffnung, das Leder zerreißen zu können. Er hasste Zwerge.
Auch unter den anderen kam jetzt Bewegung auf. Iljan richtete sich auf und Jackie streckte sich langsam. Najaxis und Merkanto kamen stöhnend auf die Füße, beide waren im Kampf verwundet worden, doch nicht so ernst, dass sie nicht aufstehen könnten.
Der Zwerg mit dem weißen Bart polterte von seiner erhöhten Plattform herunter und schlug den Weg zu ihren Käfigen ein. Ein tiefes Grollen erwuchs aus Askooks Kehle und er blickte den Zwerg böse an.
Der andere Zwerg, der mit dem sehr kurzen, schwarzen Bart und der Armbrust, hob die Waffe drohend.
»Ruhig, mein Freund«, sagte Merkanto leise und Askook fühlte die Hand des Magiers auf der Schulter. Ein leichtes Prickeln ging von ihr aus. Entgegen seiner Worte war Merkanto alles andere als ruhig.
Drei Zwerge traten nun vor sie: der riesige Kanmack mit dem fülligen, schneeweißen Bart und einer Rüstung aus Leder und Eisen, den Gürtel und auch die Kleidung mit bunten Stoffstreifen und Edelsteinen verziert. Neben ihm stand Kaymurk, der bauschige, braune Locken hatte, den Bart zu zwei Zöpfen geflochten, die er sich über den Rücken geworfen hatte. Er trug ein einfaches Hemd und eine Lederhose, am Gürtel hingen ihm diverse Bergarbeitsutensilien.
Und schließlich Torkan, der eben die Armbrust spannte. Er trug einen ledernen Schulterschutz und eine Schürze mit Taschen darauf. Von dem jungen Zwerg mit dem kurzen, schwarzen Bart ging ein seltsam weibischer Geruch aus, obwohl ihn sonst nichts von den anderen Zwergen unterschied. Es musste eine Zwergin sein.
Kanmack hatte die Arme vor der Brust verschränkt und redete. Askook hatte noch nie besonders viel Geduld besessen, geschweige denn, dass sich für die Gespräche solch winziger, zerbrechlicher Wesen interessieren wollte. Er hörte nur mit einem Ohr zu und verstand nicht viel. Es ging um Gold, wie bei Zwergen üblich. Es folgte eine Flut von Fachbegriffen. Dann der Auftrag, dass die Gefangenen in einem bestimmten Gang Gold zu schürfen haben.
Iljan widersprach heftig, redete von Gefahr und Risiko, ihrer Mission und allerlei anderen Dingen. Sogar die Elfe mischte sich ein, und der Engel rief laut, dass er mit den Kindern der Sonne nichts zu tun habe.
Während der ganzen Zeit beobachtete Askook das Gesicht des größten Zwergs. Kanmack verzog keine Miene, nur langsam senkten sich die buschigen Augenbrauen nach unten. Kaymurk hatte sich eine kleine Glaslinse in das eine Auge geklemmt und betrachtete sie mit verkniffenem Blick. Askook fletschte mühsam die Zähne.
»Ihr legt auf der Stelle los!«, knurrte Kanmack schließlich und Torkan hob die schwere Armbrust. Kaymurk öffnete die Käfige. Alle drei.
»Das geht nicht! Wir brauchen Wasser, die Verletzten müssen versorgt werden!«, protestierte Cary laut. »Laut dem Gesetz von Havinairies Adiaramat, eurer Königin, dürfen keine Gefangenen -«
»Havinaires ist nicht unsere Königin«, fiel Kanmack ihr grob ins Wort. Askook sah, dass in dem Zwerg Wut aufstieg. Askook fand den Anblick der kleinen, vor Wut geballten Fäuste des Zwerg äußerst komisch.
Cary dagegen schnappte nach Luft, als hätte Kanmack ihr Unzucht vorgeworfen. Dem Engel sträubten sich sogar die Federn.
»Torkan führt euch in den Gang«, sagte Kanmack. »Wenn ihr ein paar schlaue Einfälle habt – vergesst sie wieder. Torkan ist ein meisterlicher Schütze, und hat meine Erlaubnis, euch allen einen Bolzen durch den Schädel zu jagen, wenn ihr danach ist.«
Askook schnaubte abfällig. Als ob er sich von einem Zwergenweib einschüchtern lassen würde! Er war ein Drache.
Torkan richtete die Armbrust auf ihn. »Die Schlange da zuerst.«
Askook knurrte bedrohlich und kauerte sich an den Boden. Schlange? Dem Zwerg würde er zeigen, wer hier die Schlange war!
Ehe es zu einem schlauen Einfall kommen konnte, schritt Iljan ein.
»Ich gehe voran. Sag mir die Richtung.«
Der verdammte Vampir leistete keinen Widerstand und führte die anderen auf den Tunnel zu, den Kanmack ihm wies.
Jackie folgte Iljan wie eine Hündin, die anderen kamen hinterher. Als letzten musste Torkan Abarax auf die Beine zerren: Der Nachtmahr hatte den Disput sitzenderweise beobachtet, mit einem unangenehmen Lächeln auf den dunklen Lippen.
Cary blieb an Stellas Seite. Das Einhorn hatte sich ein wenig erholt, trotzdem war sie noch unsicher auf den Beinen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Carys Magengegend aus, als man sie zu dem einsturzgefährdeten Tunnel führte.
Schon als sie näher traten, wurde die Hitze spürbar. Der Boden unter ihren Füßen wurde unsicher, der Fels zu beiden Seiten war heiß und von feurigen Adern durchzogen.
Die Luft war stickig und voller Staub.
Cary hustete und hielt sich den Ärmel vor das Gesicht. Die Kinder der Sonne schwankten und Najaxis wich sogar zurück. Caryellê erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Inkubus'. Er hatte die Augen weit aufgerissen, einen Ausdruck wie ein Kind, das einem brüllenden Drachen gegenüber steht. In diesem Moment wirkte er jung, viel zu jung.
Der Gang, in den sie geführt wurden, war zu nah an einen der Lavaseen gebaut worden. An einer Stelle war der Fels eingebrochen, und heiße Lava floss als Strom nach unten: Dorthin, wo die reichhaltigsten Goldvorräte der Zwerge waren. Cary sah die Überreste eines verzweifelten Rettungsversuchs: Aufgeschichtete Steine, ein Wall aus Schotter, ein Stiefel, den der Besitzer in der Lava zurückgelassen hatte.
Die Holzbalken, die die Decke abstützen sollten, waren verbrannt, der Weg zu einem Hindernisparcours geworden. Iljan lief voran, Askook trampelte furchtlos durch die heißen Pfützen.
Die anderen mussten zusehen, dass sie über den schmelzenden Stein kletterten, ohne in die Lava zu fallen.
Die Hitze machte es nicht besser. Endlich gab Torkan ihnen den Befehl, anzuhalten. Er warf ihnen einen Beutel zu, den er über der Schulter getragen hatte. Heraus rutschten ein paar Werkzeuge.
»Unten findet ihr einen Flaschenzug, mit dem wir die eingeschlossenen Zwerge befreit hatten. Sobald wir das Gewicht von einem von euch in Gold haben – reinem Gold – ziehen wir ihn nach oben. Und immer so weiter. Ihr könnt euch freikaufen.«
Die unfreiwilligen Arbeiter schenkten dem Zwerg finstere Blicke.
»Kommt«, sagte Iljan und hob eine Spitzhacke auf.
Die anderen, sogar Stella, Cary und Terziel, gehorchten dem Vampir.
Je tiefer sie kamen, desto mühsamer wurde das Atmen. Schon jetzt war Jackie in Schweiß gebadet, die Flüssigkeit perlte über ihre Haut. Sie fühlte sich, als ob man sie bei lebendigem Leib kochen würde und war nur dankbar, dass sie nicht länger das Halsband und damit ihre Wolfsform tragen musste.
Die Lava hatte den gesamten Höhlenboden überzogen, war aber zum Glück stellenweise bereits hart geworden. Trotzdem glaube Jackie nicht daran, dass sie auch nur eine Stunde hier unten aushalten würde.
Iljan suchte den anderen vorsichtig den sichersten Weg über die Lava. Der Vampir hatte bereits die Goldader entdeckt, die sich am Ende der kleinen Höhle befanden. In der Decke klaffte ein großes Loch, durch das die Seile des Flaschenaufzugs reichten.
»Also gut«, sagte Iljan optimistisch. »Wir klopfen zuerst ein paar Steine und verschaffen uns damit Platz. Dann beginnen wir, Gold zu schlagen. Wir fangen mit Askooks Gewicht in Gold an, er ist der schwerste von uns. Wenn wir das geschafft haben, sollte der Rest ein Klacks sein.«
»Und du meinst, sie lassen uns wirklich frei?«, fragte Merkanto.
»Wir sind im Reich der Sonne«, sagte Iljan mit fester Stimme. »Hier halten sie sich an ihr Wort.«
Aber Jackie merkte, dass Caryellê und Terziel beide schweigend einen Blick tauschten.
Sie hatten keine Einweisung in irgendeiner Form erhalten. Also ahmte Jackie nach, was sie bei den Zwergen eine Ebene höher beobachtet hatte, schwang die Spitzhacke und ließ sie auf den Felsen schlagen. Am Anfang war sie erstaunt, wie leicht sich der Stein abschlagen ließ. Sie wurde schnell belehrt, dass diese scheinbar spielerische Arbeit leicht über ihre Kräfte zu wachsen drohte. Die ersten Schläge waren kein Problem. Dann begann der Rücken zu schmerzen, die Hände rutschten über den rauen Stil, Splitter rissen ihr die Haut auf. Die Luft brannte in der Lunge, schmeckte nach Staub und Kohle.
Es dauerte nicht lange, bis sie mit offenem Mund keuchte, bis ihr jeder Muskel und Knochen wehtat, als hätte sie sich bei einer Verwandlung verletzt. Die Haare klebten feucht in ihrem Nacken, bald gab sie es auf, sie durch Kopfbewegungen lösen zu wollen. Sie bekam Blasen an den Händen, Schweiß lief ihr in die Augen.
Mutlos ließ sie die Spitzhacke sinken.
»Weiter«, sagte Iljan knapp. Sogar der Vampir, der nicht auf Sauerstoff angewiesen war, keuchte hingebungsvoll.
Jackie hob ein weiteres Mal die Hacke, schlug nochmals auf den Stein. Ihre Finger fühlten sich taub an, waren zu schwach, um das Holz zu halten.
Nicht weit entfernt richtete Caryellê sich auf und wischte sich Schweiß aus der Stirn. »Ich glaube, wir brauchen einen Rhythmus«, sagte die Elfe. »Die Zwerge haben bei der Arbeit gesungen.«
»Wir sind aber keine Zwerge«, knurrte Askook an seinem Maulkorb vorbei.
Die anderen schwiegen und ließen die Arbeit ruhen, froh über einen Vorwand für eine kleine Pause. Sie hatten einen kleinen Steinhaufen geschaffen, aus dem Askook das Gold aussortierte. Es war verschwindend wenig.
Jackie ließ den Blick über ihre erschöpfte Gruppe schweifen. Alle ließen die Köpfe hängen und waren mit einer verschmierten Schicht aus Staub und Schweiß bedeckt.
»Kennt denn jemand ein Lied?«, fragte Iljan und überging Askook geschickt.
Zur Überraschung aller hob Abarax nach kurzem Zögern die Hand. »Ich kenne ein Zwergenlied. Es ist nicht schwer.«
Der sonst so schweigsame Nachtmahr hob die Spitzhacke und ließ sie auf den Stein donnern. Dann nochmal. Und nochmal.
»Das ist der Rhythmus«, erklärte er den anderen vorwurfsvoll, die ihn bloß angestarrt hatten. »Fast alle Zwergenlieder beruhen auf dem Rhythmus der Bergwerke.«
»Ich rufe, ihr wiederholt«, erklärte Najaxis weiter. »Das gibt uns die Möglichkeit, abwechselnd Luft zu schnappen. Versucht, den Rhythmus zu halten, das ist wichtig.«
Sie schlugen gemeinsam auf den Stein ein. Das Klingen der Spitzhacken – und der Hufe von Stella – vereinte sich zu einem ohrenbetäubenden Schlagen, regelmäßig wie ein Herzschlag.
»Tief, tief, unter dem Berg!«, sang Abarax mit einer erstaunlich tiefen, tönenden Stimme.
»Tief, tief, unter dem Berg«, antwortete der Rest.
»Weitab, weitab vom Tageslicht!«
»Weitab, weitab vom Tageslicht.«
»Ich liebte ein Mädchen im Sonnenschein!«
Das Lied war langsam und schwerfällig, perfekt für ihre Arbeit. Der Rhythmus trug Jackie vorwärts, ließ sie die Schmerzen vergessen: »Ich liebte ein Mädchen im Sonnenschein.«
»Oh weh, oh weh, es ist vorbei – ich werd sie niemals wiedersehen.«
»Oh weh, oh weh, es ist vorbei«, begannen die ersten, die anderen setzten bei »Ich werde sie niemals wiederseh'n« ein. Es kam Verwirrung auf, aber Abarax arbeitete einfach weiter.
»Dort oben, hoffe ich, vergisst sie mich«, sang der Alp.
Jackie beobachtete, wie Terziel sich zu dem Nachtmahr herüber beugte, während die anderen die Strophe wiederholten.
»Was für ein fröhliches Lied«, sagte der Engel gedämpft.
»Es gibt keine fröhlichen Lieder in unserem Teil der Welt«, entgegnete Abarax mit einem bitteren Lächeln, bevor er die Stimme hob: »Und findet, was mir ist für immer verwehrt.«