https://www.deviantart.com/ifritnox/art/700781055
Die große Halle im Schloss Taidoni war leer und totenstill. Die meisten Fackeln waren gelöscht, und so lagen die von Reihen schwarzer, schlanker Säulen durchzogenen Hallen in tiefer Dunkelheit. Gudruns Schritte erzeugten auf dem polierten Marmor, der die Farbe eines Nachthimmels hatte, einen lauten Hall.
Sie erreichte den Thron atemlos, auf dem Nepumuk saß – Nepumuk Aramis Andreji Taidoni, der Graf dieses Schlosses und Herr der Vampire.
Ihr keuchender Atem klang ihr in den Ohren, als sie auf ein Knie fiel und den Nacken beugte.
»Ihr habt gerufen, Herr?«
»Ja, und schon vor einer halben Stunde!«, herrschte der Vampir sie an. Gudrun wagte nicht, den Blick zu heben. Auch so wusste sie, dass sich eine Zornesfalte durch seine hohe, weiße Stirn ziehen würde, dass die schwarzen Augen blitzen würden.
Es war etwas Ernstes geschehen, das ahnte sie sofort, und sie verfluchte den eisigen Wind, der verhindert hatte, dass sie früher eintraf.
»Mein Herr, ich kann nicht einmal beginnen, um Verzeihung zu bitten …«, sagte sie.
»Dann fang auch nicht an. Wir haben keine Zeit zu verlieren«, unterbrach der Vampir sie. »Steh auf, Gudrun!«
Sie erhob sich eilig und wagte nun doch, zu dem mächtigen Vampir zu sehen. Nepumuk hatte lange, weiße Haare, die hinter seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt ein Eigenleben zu führen schienen, bewegt von den kalten Winden, die beständig durch die Halle heulten. Seine Augen waren rot – er war aufgewühlt, aber Gudrun wusste, dass es nicht am Durst liegen konnte. Neben dem Thron lag noch Nepumuks letzte Mahlzeit, ein Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, totenbleich und ausgesaugt.
Gudrun sah genauer zu dem Grafen. Sie konnte sehen, was Nepumuk so häufig verbarg: Sorge, Zuneigung, die ganze Fülle seines Innenlebens, diese überwältigenden, intensiven Emotionen, die vielleicht keiner außer Gudrun zu sehen verstand.
»Iljan ist fortgelaufen«, sagte Nepumuk kalt und emotionslos. »Was für Flausen der Junge auch immer im Kopf hat, man muss sie ihm austreiben. Ich habe seine Erziehung wohl zu sehr schleifen lassen.« Jetzt sah er Gudrun direkt in die Augen. Die Hexe erzitterte, ein wohliger Schauer kroch über ihren Rücken. Dieser Blick, scheinbar voller Hass, aber doch voller Liebe und Angst um seinen Sohn!
»Finde den Jungen. Bring ihn her, gefesselt, wenn es Not tut. Ich lasse nicht zu, dass Iljan unseren Namen in Verruf bringt!«
Gudrun verbeugte sich tief. »Ich bin schon unterwegs.«
»Davon sehe ich nichts«, spottete der Graf kalt. »Beeil dich Hexe, keine leeren Floskeln mehr. Vor dem Stall wartet ein neuer Besen auf dich.«
Gudrun öffnete den Mund. Sie sollte etwas sagen, dass ihr eigener Besen ihr lieb und teuer war, dass es mit Besen wie mit Pferden war, er musste den richtigen Charakter haben, dass sie unter keinen Umständen auf ihr treues Fluggerät verzichten konnte.
»Er ist schneller als dein Stück Kaminholz«, erklärte Nepumuk und entließ sie mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand.
Gudrun eilte aus dem Thronsaal, der diese Bezeichnung vielleicht nicht verdiente, solange Nepumuk der Königin des Schattenreiches unterstand. Aber Gudrun hatte diese Halle schon immer den Thronsaal genannt, in den Tiefen ihres Herzens.
Sie fand einen schlanken, schwarzen Besen mit silbrigen Borsten vor, der mehr zu einem Vampir als einer Hexe passen würde. Trotzdem stieg sie auf, warf ihrem eigenen Besen nur einen letzten, wehmütigen Blick zu.
Sie gehorchte Nepumuk. Leicht konnte man sein Verhalten als Arroganz und Desinteresse missverstehen, aber Gudrun durchschaute den Schleier und sah das verletzliche Herz dahinter, den liebenden Vater.
Iljan war undankbar, wenn er diese Liebe ablehnte, dem verborgenen Herzen willentlich Schaden zufügte. Gudrun umklammerte den Besenstiel und stieg in die Höhe.
Sie würde Iljan finden und zurückbringen, denn das war Nepumuks Auftrag gewesen. Für Nepumuk würde sie alles tun, für die seltenen Momente, da er sie mit ihrem Vornamen ansprach, statt sie »Hexe« zu nennen. Für ein einziges »Das hast du gut gemacht.« oder »Ich bin zufrieden mit dir.« würde sie sogar sterben.