https://www.deviantart.com/ifritnox/art/704230125
Als wären Iljans Worte ein Befehl gewesen, knurrte Jackies Magen. Erst jetzt merkte sie, wie hungrig sie in Wahrheit war. Den anderen schien es ähnlich zu ergehen, denn sie versammelten sich sofort auf einer kleinen Lichtung. Najaxis und Abarax trugen ein paar Steine zusammen, mit denen sie eine Feuerstelle einkreisten. Jackie half mit, Feuerholz zu sammeln. Inzwischen zog die Nacht herauf. Aus zahlreichen Verstecken erhoben sich Schwärme von gelb leuchtenden Nachtfaltern und Glühwürmchen. Es schien, als würde die Dunkelheit nicht recht aufziehen wollen, denn überall tanzten die kleinen Wolken über den Gewässern.
Merkanto entzündete die Flammen. Es dauerte lange, bis das Holz brannte, denn sie hatten nur wenig Zunder und Merkanto hatte Mühe, die Blitze unter Kontrolle zu halten, bevor sie begannen, das Holz mit einem einzigen Schlag zu spalten.
Am Ende funktionierte es und die Flammen prasselten in die Höhe, die Funken gesellten sich zu den tausenden anderen Lichtpunkten unter dem hohen Blätterdach.
Die Kinder der Sonne setzten sich um das kleine Feuer. Iljan verteilte Brot und Trockenfrüchte. Stella zeigte Gudrun – und dann auch den anderen – welche Gemüse sie über den Flammen braten sollten. Die Aussicht auf eine warme Mahlzeit konnte die bedrückende Stimmung vertreiben, die auf der Gruppe gelastet hatte.
Jackie hielt den Maiskolben in beiden Händen und biss hinein, wie sie auch in eine Fleischkeule beißen würde. Sie zerrte den Mais mit den Zähnen herunter und spürte, wie warme Flüssigkeit über ihr Kinn lief.
Sie war überrascht, als sich Iljan in den Kreis setzte und Messer und Gabel zückte.
»Ich dachte, Vampire müssen nichts essen«, rief sie ihm zu.
»Ich muss langsam einen Ersatz für Blut suchen«, entgegnete Iljan mit einem schiefen Grinsen. Jackie musterte unterdessen das Besteck und hob eine Augenbraue.
»Was willst du denn mit der Nagelfeile?«, fragte sie kauend.
»Das ist ein Messer. Und eine Gabel«, erklärte Iljan mit der hochmütigen Stimme von Nepumuks Sohn. »Das Besteck zivilisierterer Leute. Sehr viel anspruchsvoller als … das da.«
Er warf einen verächtlichen Blick auf Jackies fettige Finger.
»Anspruchsvoller?«, fragte Caryellê in diesem Moment. Alle Blicke glitten zu der Elfe, die sich ein kleines Tellerchen besorgt hatte. Darauf standen einzige Rollen von Reis in schwarze Algen gepackt. Cary hielt zwei schlanke, dünne Stäbchen in der Hand und beförderte damit geschickt die Röllchen vom Teller zu ihrem Mund. »Wie interessant! Ich bin immer bereit, etwas Neues zu lernen!«
Damit streckte sie die Hände nach Iljans Besteck aus. Jackie verfolgte gespannt, wie Iljan Messer und Gabel herüber reichte und Cary ihm die Stäbchen in die Hände drückte.
»Also, wie funktioniert das?«, fragte die Elfe wissbegierig.
»Du hältst das Messer in der einen Hand. Nicht so, das ist kein Dolch! Leg den Zeigefinger hier hin«, erklärte Iljan, aber ihm war anzusehen, dass er der Situation nicht ganz traute. »Die Gabel hältst du genauso, Spitzen nach unten. Richtig. Du stößt die Gabel in das, was du essen willst und machst mit dem Messer ein mundgerechtes Stück ab. Ja, mit der Gabel festhalten. Du hast es raus.«
Cary zersägte fachmännisch ein Stück Mais und steckte sich das winzige Fitzelchen in den Mund. Inzwischen hatten alle mit dem Essen aufgehört und verfolgten Iljans Unterricht erwartungsvoll. Iljan spürte, dass etwas im Busch war. Er ging in die Falle.
»Und deine … Stöcke … kann ich die mal ausprobieren?«, fragte der Vampir.
Jackie beugte sich vor und hoffte, dass die Stöcke wirklich kompliziert waren und Iljan eine Lektion für seine Hochmütigkeit erhielt.
»Aber sicher doch!«, meinte Cary. »Es heißt übrigens Stäbchen.«
Iljan versuchte, mit einem Stäbchen in jeder Hand ein Stück Paprika aufzuheben. Auf halbem Weg rutschte die Paprikascheibe zur Seite und fiel zurück auf den Teller.
»Nicht so. Du hältst beide Stäbchen in einer Hand«, erklärte Cary. Sie streckte die Hand aus, nahm Iljan die Stäbchen ab und machte es vor. »Das erste Stäbchen hältst du so, mit dem Daumen und dem Mittelfinger.«
Sie gab Iljan das Stäbchen und der Vampir machte es nach.
»Das zweite Stäbchen hältst du wie eine Schreibfeder – du kannst doch schreiben, oder?«
»Ja, natürlich«, sagte Iljan verschnupft. Er hielt das zweite Stäbchen wie eine Schreibfeder.
»Das untere Stäbchen bleibt starr, das obere kannst du bewegen«, erklärte Cary. »Wie ein Vogelschnabel.«
Iljan klapperte unsicher mit den Stöckchen. Cary nickte ermutigend.
Iljan griff sich mit den Stäbchen das nächste Stück Paprika und hob es an. Irgendwas machte er falsch, denn plötzlich brach das obere Stäbchen aus und die Paprika sprang in hohem Bogen davon. Das Scheibchen wäre wohl auf dem Boden gelandet, doch es flog in Jackies Richtung und sie schnappte schneller zu als eine Schlange.
Gelächter halte durch den Wald, während Iljan die Stäbchen mit säuerlichem Gesichtsausdruck ihrer Besitzerin aushändigte.
Nach dem Essen blieben sie am Feuer sitzen. Gudrun vermutete, dass es an dem freundlichen, warmen Feuerschein lag, dass sich die Gruppe nicht wie üblich in ihre Splittergruppen zerteilte und zum Schlafen überging. Stattdessen redeten sie noch eine Weile.
Es dauerte nicht allzu lange, bis Iljan aufstand und zu den Vorräten hinüber ging. Alle Augen folgten dem Vampir, der mit einer großen, bauchigen Flaschen zurückkehrte.
»Wisst ihr, ich denke, wir haben uns etwas Entspannung verdient«, meinte Iljan und präsentierte die Flasche, die erbeuteten Wein enthielt.
»Ja!«, rief Jackie begeistert.
Gudrun zögerte, dann stand sie auf. »Ich hole ein paar Gläser, in Ordnung?«
»Mach das«, sagte Iljan und warf ihr einen Blick zu, in dem zum ersten Mal etwas anderes als Misstrauen und Verachtung stand. »Danke.«
Gudrun entnahm ihrem Beutel einige Kelche und Fläschchen, die eigentlich für Zaubertränke genutzt wurden, und verteilte sie in der Gruppe. Iljan schenkte den Wein ein und stellte sich dann ans Feuer, den Kelch erhoben.
»Auf unsere Mission«, sagte der Vampir und hob den Kelch.
Die anderen wiederholten den Ruf, dann tranken sie. Gudrun stellte fest, dass der Wein fruchtig und süß schmeckte, ganz anders als die scharfen, bitteren Getränke der Schattenlande.
»Das ist ja Erdbeerwasser!«, schimpfte Jackie und streckte Iljan ihr Glas hin. »Mehr, sonst werde ich ja nie betrunken!«
»Ihr solltet vorsichtig sein«, warf Cary ungehört ein. »Es ist mehr Alkohol drin als man schmeckt.«
Die Becher wurden erneut gefüllt. Den nächsten Trinkspruch, »Auf die Schönheiten in unserer Mitte«, sprach Najaxis aus. Er erhielt einen finsteren Blick von Cary, danach gingen sie dazu über, die Becher ohne Trinksprüche zu leeren.
»Terziel«, rief Merkanto über die Flammen. »Wenn du willst, kann ich deine Gewänder flicken. Gib sie mir einfach morgen früh.«
»Danke«, sagte der Engel überrascht und strich über das Loch am Bauch, dass der Pfeil hineingerissen hatte.
»Und ich – «, Gudrun musste ein Hicksen unterdrücken, »gebe euch was, um das Blut rauszuwaschen.«
»Das wäre wohl am Besten, ja«, Merkanto strich über seinen Mantel und den kleinen, dunklen Fleck drauf. Dann hob er die Hände. »Hast du eigentlich auch was gegen Brandwunden?«
Gudrun kratzte sich an dem großen Muttermal auf ihrer Wange. »Nicht direkt, aber ich könnte was zusammenbrauen. Die meisten Kräuter sollte ich haben und in dem Wald hier findet sich sicherlich der Rest.«
»Ich wäre vorsichtig«, Cary lehnte sich zu ihnen herüber. »Die Nymphen mögen es nicht, wenn man ihre Pflanzen ausreißt.«
Gudrun schenkte der Elfe einen abschätzigen Blick. »Du wirst eine echte Besserwisserin, wenn du trinkst, weißt du das?«
Cary prostete ihr zu. »Natürlich!«
Damit nahm die Elfe einen weiteren Schluck.
Abarax trankt alleine, schweigend und mit einem bedrohlichen Tempo. Er hielt es mit dem Trinken so ernsthaft, als wären die Gläser Soldaten einer feindlichen Armee, die er vernichten musste. Er merkte, wie der Wein ihn in einem ruhigen, auf sich bezogenen Zustand versetzte, doch er spürte auch, wie der in ihm brodelnde Zorn immer höher kochte. Während das Lachen um das Feuer herum immer lauter und schriller wurde, wuchs sein Bedürfnis, für sich zu sein.
Als er sich schließlich sicher war, dass niemand auf ihn achtete, stand er auf und trat mit sicheren Schritten in den Wald hinaus, nicht ohne sich eine Flasche von dem rasch schrumpfenden Haufen ihrer Vorräte zu nehmen.
Längst hatte Iljan nicht mehr die Hoheit über die Weinflaschen, die um das Feuer kreisten. Irgendwer hatte zusätzlich zu dem Wein auch eine Tonflasche mit würzigem Met geöffnet, danach hatte Gudrun feierlich einen klaren, hochprozentigen Alkohol aus ihrer persönlichen Sammlung geöffnet und verkündet, Cary, Terziel und Stella müssten etwas über die dunklen Lande lernen. Seitdem das Einhorn etwa die Hälfte der Flasche alleine getrunken hatte – das hieß, mit Gudruns fröhlicher Hilfe – torkelte Stella im Kreis und kämpfte unsicher gegen einige tief hängende Äste. Najaxis, der unter dem Einfluss von Alkohol förmlich aufblühte, hatte unterdessen begonnen, eine anzügliche Ballade vorzutragen und mit einem schauspielerischen Tanz zu begleiten. Der Inkubus hüpfte keuchend über den Waldboden und kümmerte sich kaum darum, dass sein Publikum allein aus der krakelenden Gudrun bestand. Selbst Gudrun alleine war noch ein gutes Publikum.
Iljan fühlte sich von dem Alkohol leicht berauscht und die Wärme brachte es fertig, den allgegenwärtigen, quälenden Durst zu betäuben. Er trank vielleicht etwas mehr, als gut war, aber irgendwie erschienen ständig Gesichter vor ihm, die mit ihm anstoßen wollten, und wer würde da nein sagen?
Je weiter der Abend fortschritt, desto schwieriger wurde es für Jackie, aus der Flasche zu trinken. Es begann damit, dass die Flasche mit einem Mal doppelt vorhanden war und sie sich unsicher war, aus welcher Öffnung sie trinken sollte. Dieses Problem überwand sie noch, doch dann wurden ihre Hände immer ungeschickter und sie musste dazu übergehen, die Flasche mit dem Mund zu packen und den Kopf in den Nacken zu werfen, um zu trinken. Die Kleidung wurde über ihrem Pelz zu warm und sie schüttelte sie ab. Die Luft roch aufregend nach fremden Kräutern, Tieren und Lebensformen, nach dem Rauch des Feuers und dem Urin der Gefährten, die sich immer häufiger am Rand der Lichtung erleichtern mussten. Darunter schwang natürlich der scharfe Geruch des Alkohols mit.
Irgendwann merkte sie, dass Najaxis neben ihr saß. Sein Publikum, Gudrun, war nach hinten übergekippt und schnarchte laut.
»Na, Wölfin?«, fragte Najaxis und legte einen Arm um Jackies Schultern.
Sie bleckte die Zähne, knurrte aber nicht. Der Inkubus hielt ihr eine neue Flasche vor die Schnauze und Jackie wedelte mit dem Schwanz.
»War schon ne verdammt gute Zeit«, meinte Merkanto.
Terziel nickte und brummte etwas zustimmendes, aber er hatte keine Ahnung, wovon der Magier sprach. Im Grunde suchte er nur eine Gelegenheit, sich höflich zu verabschieden, während der betrunkene Magier weiter lamentierte.
»Und eine verdammt grausame Zeit. So viele Tote … man ist richtig ins Nachdenken gekommen. Der Krieg is wie … wie … ein hungriges Monster. Frisst und frisst … so viele Unschuldige. So viele Leben, einfach fort … «
Terziel nickte, nippte an seinem Wein und sah sich um. Die Kinder der Sonne hatten sich wohlweislich von Merkanto fern gehalten. Auch so hatte sich die große Gruppe zerstreut. Das fröhliche Treiben war chaotisch, jeder schien nur seinen eigenen Gedanken zu folgen und die anderen nicht mehr wahrzunehmen. Terziel befand, dass es ein großer Fehler gewesen war, den ersten Becher Wein anzunehmen, denn auf den ersten folgte immer auch ein zweiter. Leider sorgte der Alkohol nicht dafür, dass er sich wohler fühlte. Ganz im Gegenteil, er kam sich in der Gruppe mehr und mehr wie ein Fremdkörper vor.
»Was für eine Zeit!«, Merkanto seufzte laut auf und schüttelte den Kopf. »War schon ne verdammt gute Zeit, der Krieg.«
Cary stand auf und stellte fest, dass die Welt sich drehte. Sie konnte noch in einer geraden Linie laufen, doch sie musste aufhören, das war klar. Sie suchte sich vorsichtig ihren Weg am Feuer vorbei, stieg über die schlafende Gudrun und …
»Hey.«
Iljan taumelte vor sie und bemühte sich, lässig an einem Baumstamm zu lehnen, als wäre er schon die ganze Zeit dort gewesen.
»Iljan«, sagte Cary ruhig.
»Du siehs … wunnersön aus«, sagte der Vampir.
»Und du bist betrunken«, entgegnete Cary kühl.
»Ich weis. Na und?«, fragte Iljan und machte einen Schritt auf sie zu, die Hand ausgestreckt. Für Cary war es kein Problem, unter seinem Arm hindurch zu tauchen. Sie drückte Iljan sanft, aber bestimmt, in die Gegenrichtung. »Vielleicht solltest du dich besser hinlegen.«
»Ja, vielleich«, gab Iljan zu und angelte ungeschickt nach ihrem Arm. »Komms du mit?«
»Ja, ich komme sofort. Geh schonmal vor«, sagte Cary, schubste Iljan in den Wald und huschte in die andere Richtung davon. Seufzend sank sie in den erstbesten Schatten, den sie finden konnte und schloss die Augen. Sie war müde. Außerdem begann der Alkohol, ungewünschte Erinnerungen zu wecken.
Und sie wollte nicht an ihren Verlobten denken.