https://www.deviantart.com/ifritnox/art/709385330
Merkanto ächzte leise. Er wurde langsam zu alt, um durch feuchtes Unterholz zu robben. Die Äste griffen mit dornigen Fingern nach seinen Roben und der Magier fluchte.
Endlich kam er dort an, wo Iljan und Caryellê bereits auf ihn warteten. Der Vampir und die Elfe hatten sich einen guten Platz gesucht, eine Ansammlung dichten Strauchwerks auf einem kleinen Hügel nahe der Stadt, aber für die Wachen auf den zahlreichen Türmchen nicht zu sehen.
Merkanto verschnaufte. Crisayn lag vor ihm, das geheimnisumwitterte Reich der Nymphen und Dryaden.
Er war eine wundervolle Stadt und ihre verwinkelten Bauten luden dazu ein, das Auge unendlich lange schweifen zu lassen. Es gab unzählige Treppchen und Brückenbögen, schlanke Gebäude aus hellem Stein oder Muschelkalk oder sogar Glas, dazwischen wuchsen immer wieder unnatürlich große Bäume mit leuchtendem Blattwerk. Ein Baum war besonders riesig, fast schon ein Berg, dessen Äste einen Großteil der Stadt in gesprenkelte Schatten tauchten. Obwohl Crisayn aus der Entfernung wie ein Spielzeugort wirkte – erst recht mit den übergroßen Bäumen – rief sich Merkanto ins Gedächtnis, dass die Stadt Feindesland war. Wie auch früher im Krieg musste er nun die Soldaten auswählen, die sich in das Zauberreich wagen sollten, die Gefahren dabei abschätzend.
»Was kannst du mir sagen?«, fragte er Cary.
Die Elfe zögerte einen winzigen Moment, als würde sie einen letzten Kampf mit ihrem Gewissen führen. »Wie gesagt, wir wissen kaum etwas über die Stadt. Gerüchten zufolge soll hier die Königin des Waldes leben – das mag nur eine Metapher sein, jedenfalls ist sie niemals im Sonnenpalast erschienen. Ich denke, dass die meisten Nymphen hier wohnen, die Stadt wird keineswegs verlassen sein. Aber Nymphen sind gewöhnlich nicht besonders misstrauisch.«
»Was ist mit anderen Bewohnern?«, fragte Merkanto.
»Die Bäume deuten auf Dryaden hin«, meinte Cary. »Außerdem kann es Faune oder Satyrn geben. Jene Wesen, die in den Wäldern leben, können sich hierhin zurückziehen.«
»Das klingt, als hätten wir ausnahmsweise mal Glück«, ließ sich Iljan vernehmen.
Merkanto warf dem jungen Vampir einen Blick zu: »Ich würde mich nicht darauf verlassen.«
»Wer soll gehen?«, fragte Cary nun.
Iljan hob sofort die Hand: »Ich auf jeden Fall.«
»Du auf keinen Fall!«, widersprach Merkanto. »Dir sieht man die Dunkelheit viel zu deutlich an!«
Iljan warf ihm einen trotzigen Blick zu.
»Ich fürchte, Merkanto hat Recht«, mischte Cary sich ein. »Die Nymphen würden spüren, dass du ein dunkles Wesen bist. Ich denke, auch bei Abarax, Gudrun und Jackie würden sie es sofort merken.«
»Und Stella können wir auch nicht schicken«, meinte Merkanto. »Sie ist zu auffällig.«
»Viele bleiben da nicht mehr«, Iljans Stimme klang schmollend, aber das Gesicht des Vampirs war nachdenklich. »Terziel, Naja und ihr beide.«
Caryellê warf Merkanto einen Blick zu. Der Magier verzog leicht den Mundwinkel. »Ich bin mir nicht sicher, wie fein die Wahrnehmung der Nymphen ist. Cary?«
Die Elfe überlegte. »Ich weiß es nicht. Mir fällt an dir nichts auf, aber ich bin auch keine Nymphe oder Dryade. Allerdings … ich sage das nicht gerne, aber Najaxis könnte sogar eine gute Wahl sein.«
Merkanto lachte leise in sich hinein. »Die Frage ist – wenn wir ihn verlieren, finden wir ihn dann noch wieder?«
»Unwahrscheinlich«, Cary lachte jetzt.
»In dem Fall schlage ich vor, dass Najaxis hier bleibt«, sagte Merkanto nun. Er spürte, wie sich die ersten Umrisse eines Plans vor ihm ausbreiteten – ein wundervolles Gefühl. »Er ist unsere Nachhut. Wenn irgendetwas geschieht, kann er sich problemlos in die Stadt schleichen und uns helfen.«
Iljan sah der kleinen Dreiergruppe mit einem flauen Gefühl hinterher, als Merkanto, Cary und Terziel zwischen den Baumstämmen verschwanden. Caryellê war kaum wiederzuerkennen, denn sie hatten ihre Haare und ihr Gesicht mit Schlamm eingeschmiert, bis die Elfe ihrer eigenen Meinung nach wie eine geringe Nymphe und Gudruns Meinung nach wie eine zweibeinige Unke aussah. Iljan folgte dem wippenden, dünnen Vorhang langer Haare, die hinter Carys schlanker Gestalt wehten, mit dem Blick. Er war entsetzt über die schreckliche Angst, die in ihm aufstieg. Was, wenn er Cary nie wieder sah?
Er fragte sich, seit wann ihn das Schicksal der Elfe derartig berührte. Woher kam die Angst? Er wusste doch genau, dass Cary auf sich aufpassen konnte.
Mit einem leisen Seufzen drehte er sich ab. Die drei Gestalten waren im Dämmerlicht nicht mehr zu erkennen.
Iljan kehrte zu dem Rest der kleinen Gruppe zurück. Die Anderen hatten sich eng zusammen gedrängt, da Iljan ihnen ein Feuer verboten hatte. Noch immer regnete es schwach und die Gruppe rückte fröstelnd näher zusammen. Aber ein Feuer wäre zu riskant gewesen.
Crisayn lag in tiefem Schlaf unter dem Mondlicht. Cary fühlte einen eigentümlichen Frieden, der sich erfüllte, sobald sie in den äußeren Ring der Behausungen eingetreten waren. Wie seltsam, dass nun alle Anspannung von ihr abfiel, wo sie sich doch in höchster Gefahr befanden!
Doch die Nymphenstadt hatte eine beruhigende Atmosphäre. Das Mondlicht schimmerte durch die verzweigten Äste eines besonders großen Baumes hindurch und tränkte die Straßen in silbriges Licht. Über zahllose Regenrinnen plätscherte Wasser durch die Straßen, sammelte sich hier und da zu klaren Teichen oder sprang munter um den Sockel einer Statue. Die fein gearbeiteten Steinstatuen zeigten tanzende Nymphen, spielende Kinder oder Pflanzen, die Cary nur selten erkannte. Hier und da gab es dunkle Flecken von feuchtem, rutschigen Laub, das sich in den Straßen angesammelt hatte, aber alles in allem war Crisayn die sauberste Stadt, die Cary je gesehen hatte.
Sie folgten den gewundenen Pfaden, Cary schritt voran, dann folgte Merkanto und schließlich Terziel. Die Wege führten sie durch Glastunnel, unter Brücken hindurch und immer wieder vorbei an geduckten, blauen Blumen, die ihr eigenes Licht ausstrahlen.
Endlich öffnete sich der Weg und sie traten in den Schatten des gewaltigen, knorrigen Baumes, der die ganze Stadt überdachte. Hier lag, wie ein kleines Tal im Gewirr der Häuserschluchten, ein Marktplatz, auf dessen Mitte sich ein kleiner Hain erhob, in dem sich erst auf den zweiten Blick eine Reihe mit Strauchwerk überwucherter Marktstände erkennen ließ.
Cary lächelte selbstzufrieden. Ihr Instinkt hatte sie also nicht getäuscht.
Der Marktplatz war verlassen, doch von irgendwoher trug der Wind Gelächter und Platschen herüber. Die Stadt war also nicht vollständig im Schlummer versunken.
Caryellê hielt sich am Rand des Platzes und folgte der Linie zierlicher Zäune, die vor den Geschäften eine Art Vorgarten abriegelten, wo sicherlich des Tages Waren ausgestellt wurden. Nun waren die Geschäfte und auch die Marktstände im Inneren des Platzes verlassen, die Fenster dunkel und die Türen verriegelt.
»Das gefällt mir nicht. Wollen wir wirklich unschuldige Bürger überfallen?«, wisperte Terziel.
»Wir haben keine andere Wahl«, zischte Cary zurück. »Du hast die Elben doch gehört – wir gelten als Verräter! Mir wäre es auch lieber, einfach tagsüber in einen Laden zu gehen und die Sachen zu kaufen.«
»Verdammte Zwerge«, knurrte Merkanto zustimmend. »Das wäre leichter gewesen.«
Terziel widersprach nicht, doch in dem Blick, mit dem der Engel die Stände musterte, lag eindeutig Schuld. »Nun gut. Wen bestehlen wir denn?«
Sie wählten einen Laden am Rand des Platzes, mehr nach dem Zufallsprinzip als nach irgendeinem anderen Kriterium. Cary strich sich immer wieder nervös die Haare aus der Stirn. Die langen Tage in der Wildnis forderten nun einen Tribut, denn Carys kunstvolle Frisur war dem Regen und den Nächten in der freien Natur zum Opfer gefallen. Die langen Haare am Hinterkopf waren verfilzt, die kurz rasierte Seite wurde zu lang und die Strähnen, die auf der anderen Seite herab hingen, waren fettig geworden.
Terziel sah sich aufmerksam um, während Merkanto sich über das Schloss beugte. Cary sah ihm über die Schulter und beobachtete, wie der Magier eine Hand auf das Schloss legte. Es folgte ein kurzes Klicken und die weiße Tür schwang auf.
Cary und Merkanto betraten einen kleinen, weißen Vorraum, vollgestellt mit mehreren Holzgestellen. Offenbar waren dies die Waren, die tagsüber draußen standen – Hauptsächlich Trinkgefäße und Taschen. Cary drückte sich zwischen den Regalen hindurch, die nicht aus behauenem Holz sondern aus verzweigten Ästen bestanden, und erreichte eine zweite Tür. Diese war nicht verschlossen und so betrat Cary den eigentlichen Laden, während Merkanto sich noch mühte, die Regale nicht umzuwerfen.
Auch der zweite Raum war weiß, mit einer spitz zulaufenden Decke, durch deren Glasdach das Sternenlicht fiel. Die Wände waren nicht zu sehen: Auf unzähligen Ästen, die aus den Wänden zu wachsen schienen, waren Trinkschläuche und getrocknete Früchte aufgereiht.
»Bestens«, teilte Cary Merkanto mit: »Es ist eine Alimentae.«
»Wunderbar«, ächzte der Magier. »Wenn mir das etwas sagen würde!«
»Ein Laden für Essen«, übersetzte Cary augenrollend. Dann schnappte sie sich eine Tasche von dem Regal im Eingang und begann, Früchte, Trockenobst und Wasser hinein zu füllen. Merkanto brauchte einen Moment, um sich endlich aus dem Vorraum zu befreien, dann half er ihr.
Cary arbeitete verbissen und schnell. Die gefüllten Taschen reichte sie Merkanto, der die Taschen an Terziel draußen weiter reichte. Auf diese Weise füllten sie sechs der größten Jutetaschen, bevor der Mond sich weit über den Himmel bewegt hatte.
»Das reicht«, befahl Merkanto endlich und Cary hielt etwas wehmütig in ihrer Einpackwut inne. Doch der Magier hatte Recht – mehr Taschen würden sie nicht aus der Stadt transportiert bekommen.
Sie kehrten zu Terziel zurück, der mit unglücklichem Gesichtsausdruck auf dem Marktplatz wartete.
»Seid ihr fertig?«, fragte der Engel.
»Ja«, Cary fühlte sich bemüßigt, ihn zu trösten. »Wir tun das Richtige. Vielleicht können wir irgendwann für den Schaden aufkommen, wenn das alles hier vorbei ist.«
Terziel verzog das Gesicht, als glaube er nicht so recht daran oder als würde ihn diese Aussicht nicht zufrieden stellen. »Vielleicht.«
Jeder von ihnen schulterte zwei Taschen. Cary wankte unter dem Gewicht – gut, dass Merkanto sie gestoppt hatte! Etwas unsicher auf den Beinen übernahm sie wieder die Führung. Ihre Stiefel rutschten unangenehm über das feuchte Pflaster.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir hier sind«, murmelte Terziel hinter ihr.
»Was meinst du?«, fragte sie gedämpft über die Schulter.
»Crisayn. Ich meine – wir haben die Stadt der Nymphen entdeckt! Eine Legende, einen Mythos!«, Terziel war lauter geworden und bremste sich nun. Er fuhr im Flüsterton fort: »Und wir dringen einfach nur ein, um zu stehlen! Statt die Wunder zu betrachten, benehmen wir uns wir gemeine Diebe!«
Eine Gänsehaut kroch ganz unerwartet über Carys Arme. Sie sah sich um, konnte aber keine Gefahr entdecken. Sie schob es auf den Nachtwind. Vielleicht war es auch eine verspätete Reaktion auf Merkantos Zauber.
»Wir bewundern die Stadt ja, ich für meinen Teil jedenfalls schon«, verteidigte sich Cary. »Nur haben wir eine Aufgabe.«
»Du meinst eine Mission. Iljans Mission«, Terziel schniefte. »Wir stehlen für die dunkle Seite!«
Da war die Gänsehaut wieder, ein Schauer, der über Carys Arme lief und sich nun auch über den Rücken ausbreitete.
»Sag das nicht noch einmal!«, zischte sie Terziel alarmiert zu, als ihr eine alte Legende einfiel, nach der man eine Hamadryade aus dem Holz rufen konnte, indem man dreimal ihren Namen rief.
Der Engel starrte sie entgeistert an. »Ernsthaft, Cary? Man wird die Dinge doch wohl noch beim Namen nennen dürfen! Wir sind Diebe, wir stehlen für unsere Feinde, wir -«
Ein lauter Ton erscholl, eine Art Donnern, das durch den Stein unter ihren Füßen dröhnte. Die Zäune klirrten leise, Carys Zähne schlugen zitternd aufeinander.
Ein Wurzelruf – sie hatten eine Dryade geweckt. Vielleicht nicht durch ihren Namen, sondern durch ein anderes Signalwort – stehlen – doch das Ergebnis war das gleiche: Man hatte sie entdeckt.
»Verfluchte Scheiße!«, Merkanto hielt sich im nächsten Moment die Hand vor den Mund. »Verzeihung. Lauft!«
Cary sah sich um. Etwas störte sie an dem Platz und nun wusste sie auch, was: Es war hell geworden, die Blätter beugten sich nicht länger schützend über die Stadt. Der riesige Baum über ihnen bewegte sich, während überall in der Stadt plötzlich Rufe erschallten, die meisten davon unterirdische Wurzelrufe – von Hamadryaden, jenen Dryaden, die Teil eines Baumes geworden waren.
Terziel ließ beide Taschen fallen, die er getragen hatte, entfaltete die Schwingen und hob ab, doch knapp über dem Boden wurde der Engel von einem peitschenden Ast getroffen, der aus dem Nichts herbei gepfiffen kam. Cary duckte sich unter einem zweiten Ast hinweg, während Merkanto fluchte. Dann rannte der Magier los und versuchte, den Rand des Platzes zu erreichen. Vergebens, denn aus dem Boden fuhren plötzlich Hecken und Sträucher, Mauern aus Schlingpflanzen und giftigen Büschen. Sie waren auf dem Marktplatz gefangen.
Cary drehte sich um und starrte den riesenhaften Baum an, der jetzt in Bewegung geraten war. Auf der knorrigen, dunklen Rinde zeichnete sich ein Gesicht ab, die Augen glühten grünlich, der Mund darunter verzerrte sich, als das Wesen dahinter stummte Worte schrie. Aus dem Boden erhoben sich zwei gewaltige Busen, als der große Baum erst Terziel, dann Merkanto und schließlich Cary mit den langen Ästen packte und emporhob.
Caryellê konnte sich nicht wehren. Sprachlos starrte sie die uralte Hamadryade an – die Königin des Waldes.