https://www.deviantart.com/ifritnox/art/710566778
»Nepumuk«, sagte Gudrun in den spiegelhellen See, vor dem sie kniete.
Die Wasseroberfläche kräuselte sich, als die verstreuten Kräuter im Wasser versanken. Dann erschien das bleiche Gesicht von Nepumuk Aramis Andreji Taidoni vor ihr.
»Hexe«, sagte der Vampir kühl. »Ich bin erstaunt, dass du dich so früh wieder meldest.«
In seiner Stimme schwang Sarkasmus mit. Gudrun senkte den Kopf. »Es tut mir leid, Meister. Ich muss einen unbeobachteten Moment abpassen. Ich kann mich nicht häufiger melden.« Dabei sehnte sie diese Gespräche doch herbei, diese kostbaren Minuten, da sie seines edlen Antlitzes angesichtig wurde.
Nepumuk runzelte ungehalten die Stirn. »Seid ihr immer noch im Sonnenland? Doch hoffentlich inzwischen auf dem Rückweg.«
Gudrun wich dem Blick es Vampirs aus. »Nein. Wir sind noch im Sonnenreich.«
Nepumuk schnaubte, sagte aber nichts. Gudrun wusste, dass sie ihn enttäuschte. Bei ihrem letzten Gespräch, damals noch in den Zwergenminen, hatte er betont, dass er seinen Sohn bald zurückhaben wollte.
»Ich muss Iljans Vertrauen gewinnen«, begann sie, sich zu rechtfertigen. »Er weiß, dass Ihr mich geschickt habt. Er wird mir wohl kaum zurück ins Schattenreich folgen.«
»Dann schlag ihn nieder«, stieß Nepumuk mit fest zusammengepresstem Kiefer hervor. Seine Augen waren blutig rot vor Zorn, doch Gudrun wusste, dass es nur die väterliche Sorge um das einzige Kind überspielen sollte. »Pfähl ihn und bring seine Asche her, dann können wir ihn hier neu erwecken. Nur bring ihn zurück, Hexe!«
Gudrun seufzte. »Und die anderen?«
»Die sind mir egal!«, schnaubte Nepumuk.
»Nein, ich meinte – sie werden mich wohl kaum ihren Anführer erschlagen lassen!«
»Du bist eine Hexe, oder nicht? Lass dir etwas einfallen. Vergifte die anderen. Oder locke Iljan von ihnen weg.«
»Ich werde Zeit brauchen«, sagte Gudrun und bewunderte im Stillen die angespannten, strengen Züge des Vampirs.
»Du hast keine Zeit«, entgegnete Nepumuk. »Denn wenn mein Sohn hinter der Grenze stirbt, dann wirst du sein Schicksal teilen!«
Damit fuhr ein Windzug über das Wasser und Nepumuks Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war. Gudrun blieb alleine zurück, im Moos kniend, erfüllt von einer Mischung aus Freude, Trauer, Sehnsucht und Angst.
Mit einem leisen Ächzen stand sie auf und streckte den Rücken durch. Sie sah mit ihren ungleichen Augen zum Blätterdach empor. Sie musste es schaffen, Iljan zurück zu bringen. Dann würde Nepumuk sie endlich für ihre Mühen loben, würde erkennen, mit welcher Hingabe Gudrun ihm diente.
Er würde sie mit ihrem Namen ansprechen, würde ihr in die Augen sehen: »Danke, Gudrun! Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«
Sie wusste genau, wie er das tun könnte. Mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen ging Gudrun zurück zu der Stelle, wo die anderen schliefen.
Iljan erwachte im Morgengrauen, als die ersten Sonnenstrahlen auf seine Haut trafen und sie zum Kribbeln brachten. Er schluckte ein paar Mal, weil sich seine Kehle unangenehm rau anfühlte. Als er in das Licht blinzelte, stach es schmerzhaft in seine Augen.
Er unterdrückte einen Schmerzlaut und rollte sich zur Seite in den Schatten. Der ewige Durst war wieder stärker geworden, nun ließen Iljans Kräfte nach. Er zog die Stiefel aus dem Licht und streifte sie über seine Füße.
Normalerweise machte ihm Sonnenlicht nichts aus, obwohl es unangenehm war. Doch wenn er zu wenig getrunken hatte, so wurden seine Abwehrkräfte schwächer. Er würde Jackie bald wieder um neues Blut bitten müssen. Die Vorstellung gefiel Iljan nicht. Überhaupt nicht.
Die anderen schliefen noch, obwohl Abarax' Herzschlag bereits schneller wurde und der Nachtmahr wohl bald aufwachen würde. Iljan stand lautlos auf und suchte sich einen Weg in den schützenden Schatten des Blätterdaches, während er seine Gefährten musterte. Gudrun lag am Rand der Gruppe, neben ihr schlief Stella im Stehen. Abarax hatte sich auf der anderen Seite zwischen die Wurzeln eines Baumes zurückgezogen, Jackie und Najaxis lagen dort, wo am Abend noch das Feuer geprasselt hatte.
Von Merkanto, Cary oder Terziel war keine Spur zu entdecken. Sie waren noch nicht aus der Stadt zurückgekehrt.
Iljan fühlte Sorge in sich aufsteigen und lenkte seine Schritte zu dem kleinen Aussichtspunkt, wo sie am gestrigen Tag ihr Vorgehen besprochen hatten. Sorgsam dem Sonnenlicht ausweichend legte er sich auf den Boden und betrachtete Crisayn im goldenen Morgennebel. Die Blätter der riesigen Bäume rauschten sanft im Wind und selbst bis hier konnte Iljan das Plätschern von Wasser und ab und zu glockenhelles Gelächter vernehmen. Es gab keine Anzeichen für die Aufregung, die nach einem Kampf herrschen würde. Es war, als hätten die drei Gefährten die Stadt nicht einmal erreicht.
Waren sie vielleicht von verschlossenen Toren aufgehalten worden? Oder saßen sie in der Stadt in einem Versteck und konnten nicht heraus?
Iljan merkte, dass er an einem Fingernagel kaute. Dabei hatte sich sein Vater solche Mühe gegeben, ihm solches Verhalten abzutrainieren. Iljan ließ die Hand sinken und kroch leise zurück, denn nun erklangen Geräusche aus dem Lager. Die anderen wachten auf.
»Nicht zurückgekehrt?«, wiederholte Jackie, die als eine der letzten aufgestanden war. Nur Najaxis räkelte sich noch auf dem Boden, war allerdings hellwach.
Die Sonne war aufgegangen, die Vögel in den Bäumen erwacht und Cary, Terziel und Merkanto waren immer noch verschwunden. So gesehen war Jackies Frage ziemlich überflüssig. Najaxis schloss die Augen und genoss einen Moment länger das Gefühl der wärmenden Sonnenstrahlen. Nach einem Regentag wie Gestern war das die beste Medizin.
»Vielleicht sollten wir sie suchen gehen«, schlug Jackie jetzt vor.
»Schon mal daran gedacht, dass wir besser von hier verschwinden, so schnell es geht?«, fragte Najaxis und öffnete die Augen.
»Was?«, fragte Iljan.
Najaxis streckte sich, dehnte die Nackenmuskeln und stand auf. »Ich spiele jetzt mal ein Gedankenspiel durch: Unsere drei Freunde wurden gefangen genommen, irgendeine überwichtige Nymphe kommt mit einem Messer auf sie zu, hält es dem Engel an den Hals. `Wo kommt ihr her?´, fragt sie. `Wie habt ihr unsere Stadt gefunden?´ Und: `Seid ihr alleine hier?´ Cary versucht natürlich zuerst, auf hart zu tun, aber so ist sie nicht. Was meint ihr, wie lange es dauert, bis die Kavallerie hier eintrifft?«
»Wenn sie gefangen sind, müssen wir sie befreien«, Iljan ballte eine Hand zu Faust.
»Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass sie gefangen wurden«, bestätigte Najaxis. »Das ist uns allen in letzter Zeit zu häufig passiert, sie würden wachsam und vorsichtig sein.«
»Das widerspricht deiner eigenen Argumentation«, sagte Iljan trocken.
»Viel besser, ich habe eine deutlich wahrscheinlichere Version für dich«, Najaxis grinste breit und freudlos. »Terziel hat die Nase voll bekommen, schnappt sich einen Knüppel und wenn Merkanto einen Moment nicht hinsieht – Bumm! Daraufhin starren sich der Engel und die Elfe an, taxieren einander, überlegen. Cary zuckt mit den Schultern. `Gut´, sagt sie. `Und wohin jetzt?´ Und sie rennen geradewegs zu den Weißen Wächtern und verraten ihnen alles!«
»Das würde Cary niemals tun!«, fauchte Iljan so heftig, dass Najaxis fürchtete, diesmal wirklich zu weit gegangen zu sein. Einer seiner größten Fehler war, dass er seine Grenzen einfach nicht abschätzen konnte.
Stella wieherte schrill und machte einen Schritt vor, aber Gudrun hielt das immer noch alkoholische Einhorn zurück.
»Was macht dich da so sicher?«, fragte Najaxis den Vampir furchtlos. »Cary war mit Leib und Seele Weiße Wächterin – wieso sollte sie ihre Prinzipien ändern? Sie hat uns was vorgespielt, damit wir sie ziehen lassen. Sie ist über alle Berge und – «
»Wag es nicht, so von ihr zu sprechen!«, ertönte eine silberhelle Stimme, die Najaxis nicht kannte. Er fuhr herum und erkannte verwundert, dass es Stellas Stimme war. Das Einhorn hatte Gudrun beiseite gestoßen und kam jetzt mit stampfenden Hufen auf ihn zu. »Wag es nicht, Caryellês Namen derartig zu beschmutzen! Sie ist treuer als eure ganze Gruppe zusammen und alle Wesen noch dazu, die du in deinem mickrigen Leben bisher getroffen hast! Sie besitzt mehr Ehre im Leib als man im ganzen Schattenreich finden würde, tausendmal mehr! Wenn sie sich euch angeschlossen hat, dann mit Leib und Seele, Inkubus. Und rede nicht von ihr, als würdest du sie kennen – «, Stella machte eine Pause und atmete schnaubend ein, bevor sie zwei Worte auf Latein ausstieß, »Drosophila melanogaster.«
Terziel starrte das hefegelbe Einhorn an, unsicher, ob ihr letzter Ausspruch ein Fluch gewesen war und er im nächsten Moment vom Blitz getroffen werden würden. Stella sah in diesem Moment unendlich gefährlich aus, obwohl ihre Mähne blubberte wie ein vor Lebensfreude überschäumendes Bier.
Gudrun brach in jähes, schallendes Gelächter aus. »Ist das sein Seelenname, Stella? Drosophila melanogaster? Das klingt weiblich, das passt bestens zu ihm! Was bedeutet es?«
Stella bedachte Najaxis mit einem vernichtenden Blick. Der Inkubus verstand nichts mehr und wagte auch nicht, sich zu rühren.
»Fruchtfliege«, stieß Stella durch den Nüstern hervor, leise wie ein knurrender Wolf. Damit drehte sie sich ab und trottete an Gudruns Seite. Die Hexe krümmte sich vor Lachen, bekam aber keine Luft mehr, sodass ihr lautloser Heiterkeitsanfall mehr nach Magenkrämpfen aussah.
»Schön, damit wäre geklärt, dass weder Cary noch Terziel uns verraten haben«, fuhr Iljan nach einer Weile fort, die sie alle sprachlos das Geschehene zu verstehen suchten.
»Du glaubst ihr?«, fragte Najaxis entgeistert, aber mit nicht einmal mehr halb so viel Überzeugung wie zuvor. »Stella ist Carys engste Freundin, natürlich verteidigt sie sie!«
Doch die Anklage kam matt herüber.
Fruchtfliege, geisterte es durch Najaxis' Kopf. Das sollte sein Seelenname sein? Er hatte sich etwas schöneres vorgestellt, beeindruckender. Missmutig starrte er das Einhorn an. Alte Scheißhausfliege!
»Wenn sie uns nicht verraten haben, sind sie gefangen«, nahm Jackie die Diskussion wieder auf. »Willst du sie wirklich retten?«
»Natürlich. Erstens ist Merkanto bei ihnen. Wir brauchen ihn. Und zweitens sind sie jetzt Teil unserer Gruppe«, Iljans Antwort war selbstsicher. Najaxis bildete sich ein, Gudrun anerkennend nicken zu sehen. Vermutlich war es nur Teil ihres Lachanfalls.
Die einfache Entscheidung war schnell gefällt: Die Gruppe brach ihr Lager ab und packte eilig alles zusammen, was bisher ausgepackt worden war. Stella bot an, einen Teil der Ausrüstung zu tragen. Es war seltsam, dass Iljan zuerst Gudrun zu Rate zog, ob Stellas neue Alkohol-Form die Vorräte in irgendeiner Weise beeinträchtigen könnte. Generell befand sich Stella in einer bizarren Lage. Plötzlich besaß sie eine ihr bisher unbekannte Gabe, die aus längst vergessenen Legenden entstanden zu sein schien. Und sie hatte die Weißen Wächter verloren, nun auch noch ihre letzten Freunde in Cary und Terziel, denn die beiden waren verschollen. Stattdessen hielt sie sich an eine dunkle Hexe, weil besagte Hexe einmal ein weißes Herz besessen hatte.
Um es kurz zu machen: Als Fohlen hatte sich Stella ihre Zukunft anders vorgestellt.
In diesem Moment brach Gudrun in wieherndes Gelächter aus. »Fruchtfliege!«, johlte die Hexe, während Stella scheute und beinahe die Taschen abgeworfen hätte.
»Ja, ja, wir haben es verstanden!«, rief Iljan von vorne. »Seit ihr beiden jetzt fertig?«
Gudrun nickte, wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und schnürte Stellas Gurte fest. »Du bist Gold wert, Stella, weißt du das?«
»Ich habe nur die Wahrheit gesagt.« Stella wühlte mit einem Huf die Erde auf und sah Gudrun dann an. »Ich habe Najaxis' Gedanken berührt und in dem Moment erhält er den Seelennamen. Es ist nicht wirklich meine Entscheidung.«
Gudrun kicherte in sich hinein. »Aber es war perfektes Timing.«
Stella schwieg und sah zu Najaxis herunter, der mit grießgrämigem Gesicht am Waldrand wartete. Wie konnte sie Gudrun klar machen, dass die unbedachte Offenbarung schlimme Folgen haben könnte? Wie konnte man einer Hexe, die nur an den eigenen Vorteil dachte (meistens jedenfalls) erklären, dass man um die seelischen Wunden eines anderen Wesens fürchtete, das man nicht wirklich leiden konnte? Sich um den verletzten Flügel einer kleinen Fliege sorgte?
Gudrun schnürte den letzten Riemen fest und versetzte Stella einen leichten Klaps auf die Schulter. »Fertig!«, rief sie Iljan zu.
Der Vampir nickte und setzte sich in Bewegung, umrundete einen See und führte sie tiefer in den Wald. Er hielt sich an der Seite der Stadt, in gleichbleibender Entfernung.
Die schwierigere Entscheidung blieb allerdings noch aus. Iljan beschleunigte seine Schritte, bis die anderen nur noch knapp in Hörweite waren, um nachdenken zu können. Sie mussten Cary, Merkanto und Terziel retten, keine Frage. Doch wie? Sollten sie alle vorwärts stürmen und das Risiko eingehen, dass sich ihre Freunde bisher nur unbemerkt versteckt hatten? Oder sollten sie vielleicht, wie es Merkantos Plan gewesen war, Najaxis allein in die Stadt schicken?
Iljan wünschte sich, der Magier wäre jetzt bei ihm. Merkanto war ein Taktiker, erfahren im Krieg und wusste, wie man am besten mit den verschiedensten Herausforderungen zurecht kam. Während des großen Kriegs hatte sich Merkanto mit seinen genialen Plänen einen Namen gemacht und war bald der Berater der Königin höchstselbst geworden und damit der oberste Berater im Krieg. Iljan hatte früh gelernt, auf Merkantos weisen Rat zu vertrauen.
Aber selbst diese Ratschläge anzuwenden, traute er sich nicht zu. Er besaß nicht Merkantos Intellekt, noch dessen Erfahren. Er wusste zu wenig über die möglichen Gründe, warum die drei Späher nicht zurückgekehrt waren. Er wusste überhaupt zu wenig, um eine Entscheidung zu fällen, derer er sich sicher sein konnte.
Er zuckte zusammen, als er Schritte hinter sich hörte und die vertraute Gänsehaut spürte.
»Jackie.«
»Hey. Du siehst aus, als würdest du dir Sorgen machen«, das Wolfsmädchen schloss zu ihm auf. »Und du siehst durstig aus!«
Iljan seufzte. Wie leicht sie ihn durchschauen konnte. »Ja und ja. Aber letzteres hat noch Zeit.«
»Du sorgst dich um Cary, richtig?«
»Und Merkanto und Terziel«, fügte Iljan hinzu und fragte sich gleichzeitig, warum er das betonen musste. »Ich … bin mir unsicher, wie wir ihnen helfen können.«
»Ich bin mir sicher, du findest einen Weg«, sagte Jackie und klopfte ihm auf die Schulter. »Du kannst sowas!«
Das war ihre Art, zuzugeben, dass sie selbst keine Ahnung hatte. Trotzdem konnte ihr Optimismus Iljans Laune erheblich verbessern. Er sah nach vorne. »Ich lasse mir was einfallen.«