https://www.deviantart.com/ifritnox/art/712963868
Cary horchte auf, als Schritte hinter der Dornenwand erklangen. Es war ein gänzlich unerwartetes Geräusch, fast sofort schlug ihr das Herz bis zum Hals. Terziel erwachte aus seiner selbstmitleidigen Starre und Merkanto sprang eilig von dem Fenster zurück, aus dem nun ein langes Band aus Streifen seiner Robe flatterte.
Mit einem Knirschen wie von knorrigen Zweigen schoben sich die Dornenranken beiseite und offenbarten einen kleinen Raum dahinter, der durch ein deutlich größeres Astloch von Außen zugänglich war. Ansonsten handelte es sich um nichts weiter als einen Vorraum, oder vielleicht eine Vorhöhle. Es war eine schmucklose, unbearbeitete Wunde im Stamm, doch die aus Ranken bestehenden Wände ließen weitere Zellen vermuten.
Im Raum standen drei Personen. Die erste war eindeutig eine Dryade, mit knorriger Rindenhaut und langen Flechten statt Haaren. Die Dryade war nackt, doch sie besaß keinerlei Geschlechtsorgane, für ihre Art recht unüblich. Ihr Unterleib ging in einen braunen Baumstumpf über, dessen Wurzeln sie über den Untergrund trugen.
Die anderen beiden mussten Wächter sein, zwei ätherische, weiße Nymphen, die eine mit einem deutlichen Blaustich. Sie hatten die Form von großgewachsenen Männern, aber keine Konturen bis auf das Sprudeln der unzähligen Luftblasen, die ihre Form ausfüllten. In den Händen trugen sie jeweils einen Speer aus einem langen Schilfrohr. Cary zweifelte nicht daran, dass das Schilf sich als sehr gefährlich herausstellen könnte.
»Ich bin Haryna«, sagte die Dryade mit einer leisen, aber harten Stimme. »Wer seid ihr?«
Cary tauschte einen kurzen Blick mit Merkanto, der die linke Schulter hob, dann kurz nickte.
»Ich bin Caryellê Assadar«, antwortete sie der Dryade. »Das hier ist Terziel und das ist Merkanto.«
Die genannten neigten leicht die Köpfe, doch die Dryade schien nicht sonderlich beeindruckt.
»Merkanto – der Zauberer aus dem Schattenreich?«
Merkanto verzog das Gesicht. »Ja«, gab er widerwillig zu.
Die Dryade nickte auf eine langsame Art, als hätte sich eine Annahme von ihr bestätigt. »Nun denn, Caryellê Assadar, Terziel und Merkanto – folgt mir bitte.«
Die Gefangenen standen auf, unsicher, was sie nun erwartete. Selbst Cary, die dieses Land immerhin gut genug kannte, um als Wächterin ihr Leben dafür zu opfern, wusste nicht, was Dryaden und Nymphen mit Eindringlingen anstellten. Sie wollte sich nicht allzu große Sorgen machen – immerhin waren sie im Sonnenland, oder nicht? – aber sie konnte das beklemmende Gefühl nicht abschütteln, das sich einstellte, als sie von den leuchtenden Wachen in die Mitte genommen und zum Ausgang der Höhle geführt wurden, wo sich ein breiter Ast wie eine luftige Treppe nach oben schlängelte.
Der Wind zerrte an ihnen. Unzählige Blätter raschelten und raunten über ihren Köpfen und schließlich zu den Seiten, während Cary, Terziel und Merkanto nervös immer höher stiegen. Terziel hielt die Schwingen aufgefaltet, um das Gleichgewicht zu halten. Dass man den Engel nicht gefesselt hatte, nahm Cary als gutes Zeichen. Etwas hoffnungsvoller folgte sie Haryna hinauf zur Baumkrone, wo der Ast schließlich immer dünner wurde. Sie kamen auf einem kleinen Platz aus, wo der Stamm einen scharfen Knick nach Innen beschrieb. Vor einer schmalen, aufragenden Wand aus Rinde befand sich so eine größere, ebene Fläche, auf der die drei Gefangenen und ihre Begleiter Platz fanden.
Haryna traf vor und hob einen Arm, um dem der knorrigen Hand gegen das Holz zu schlagen.
»Mutter! Mutter!«
Das Klopfen hallte überall um sie her wider. Cary sah sich unwillkürlich um, ob nicht irgendwo ein paar weitere Dryaden standen und klopften – es klang, als würden hunderte Spechte gegen einen gewaltigen, hohlen Stamm schlagen.
Dann ertönte ein knarzendes Seufzen, dem Geräusch von splitterndem Holz nicht unähnlich. In der Wand über ihren Köpfen öffneten sich zwei Augen und ein breiter, höhlenartiger Mund. Blassgrün waren die riesigen Augen, die wässrig über den Horizont schweiften und sich dann träge auf die Gestalten unter sich fokussierten.
»Haryna, meine Tochter«, seufzte die müdeste, traurigste und älteste Stimme, die Cary jemals vernommen hatte – und als Elfe hatte sie viele solcher Stimmen gehört. Gleichzeitig blies ein schwacher Wind aus dem Mund und trug den Geruch nach feuchtem, fauligen Holz mit sich. Cary erschauderte. Die gewaltige Hamadryade, die Herrin des Waldes, war tödlich erkrankt.
»Da bewegt sich was«, sagte Abarax und drängte sich wieder gegen Najaxis' Augen. Der Inkubus stolperte, als er plötzlich blind mitten auf dem Marktplatz stand.
»Was denn?«
»Verdammt!«
Da Abarax keine Antwort gab, drängte sich Najaxis selbst vorwärts und versuchte, das Bewusstsein des Nachtmahrs zur Seite zu schieben. Abarax wich zögerlich von einem Auge zurück und Najaxis konnte blinzelnd erblicken, was Abarax so entsetzt hatte: Der gewaltige Baum, der sich über die Stadt spannte, hatte sich in Bewegung versetzt. Die Blätter raschelten laut, die Äste wandten sich wie Schlangen umeinander. Die Bewegungen waren nicht schnell, doch zu auffällig, um allein dem Wind geschuldet zu sein – insbesondere, da es ein warmer, windstiller Tag war.
Ein Schauer kroch Najaxis über den Rücken und sein erster Instinkt war, schleunigst in die andere Richtung zu verschwinden.
»Sei nicht albern!«, Abarax übernahm mit erschreckender Leichtigkeit die Kontrolle über Najas Beine und trug ihn vorwärts. »Da oben sind Freunde, die unsere Hilfe brauchen.«
Ein flüchtiger Gedanke trieb an Najaxis vorbei, ein Fisch im Dunkel seines Bewusstseins, aber ein fremder Fisch. Dieser Gedankte zeigte für einen verschwommenen Moment ein Gesicht und etwas später erkannte Najaxis, dass Abarax in erster Linie an einen bestimmten Freund dachte – nur wer von den drei Vermissten es war, das konnte Naja nicht sagen. Abarax verbarg den Gedanken hastig und geschickt.
Währenddessen trugen Najaxis' Beine den Inkubus völlig ohne dessen Zutun durch die Menge und auf den Stamm des gigantischen Baumes zu. Er konnte keinen Muskeln rühren, um sich selbst aufzuhalten. Tief in seinem Bauch erwachte die Panik, die er erschrocken zu kontrollieren versuchte.
»Verlier jetzt bloß nicht die Nerven, das fehlt mir noch!«, fauchte Abarax. »Entspann dich einfach.«
»Das sagst du so leicht«, schnappte Najaxis. »Aber du hast ja auch die Kontrolle.«
»Habe ich nicht«, kam Abarax' Antwort sehr zu Najaxis' Entsetzen. »Und je mehr du dich wehrst, desto weniger.«
Naja versuchte, loszulassen, sich zu entspannen. Es war nicht leicht. Außerdem wuchs sein Unbehagen, weil er in der seltsamen Symbiose mit dem Nachtmahr überhaupt keine Privatsphäre mehr hatte. Alles, was er war, was er dachte und wollte, lag vor Abarax ausgelegt wie ein bunter Teppich.
»Nicht besonders bunt«, erfolgte ein bissiger Kommentar vonseiten des Bessessors. »Und sonderlich interessant ist es auch nicht.«
Najaxis setzte zu einer Erwiderung an, als er jäh nach vorne kippte und seine Hände sich rücksichtslos in die Borke des Baumes gruben. Kleine Splitter rissen die empfindlichen Handinnenseiten auf. Najaxis wand sich innerlich vor Entsetzen, doch Abarax zeigte keine Skrupel, den Körper – er nicht einmal ihm gehörte – zu verunstalten.
»Mutter, hier gibt es drei Fremde, die deiner Weisheit bedürfen«, sprach Haryna weiter. »Sieh doch, sogar ein dunkler Magier ist bei ihnen«, ihre Stimme wurde zu einem gefährlichen Zischen, »Merkanto aus dem Nachtland.«
Die riesige Hamadryade blinzelte träge und richtete die trüben Augen auf Cary, Terziel und Merkanto. Cary konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Königin des Waldes die Fremdlinge überhaupt nicht wahrnahm, sie nicht einmal sah.
»Merkanto, sagst du, mein Kind?«, fragte die Königin matt. Der Name schien ihr nichts zu sagen.
»Es sind Fremdlinge, sie sind in unsere Stadt eingedrungen!«
Haryna klang wütend, aber nicht frustriert, weil die Königin nicht die erwarteten Reaktion zeigte. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Cary.
»Sie sind Feinde unseres Lebensstils!«, rief Haryna nun pathetisch aus. »Sie könnten unser wohl gehütetes Geheimnis aller Welt verraten!«
»Das wäre schrecklich«, die Königin des Waldes klang schläfrig.
»Herrin, Mutter, wir müssen etwas dagegen tun!«, klagte Haryna.
Mit einem Mal riss die Königin des Waldes die Augen auf, ein Ruck ging durch den Baumstamm, der die Wachen, Cary, Terziel, Merkanto und Haryna von den Füßen riss. Die Königin des Waldes bewegte sich und ein alarmierter Ausdruck huschte über Harynas Gesicht. Ein Ast glitt vorbei an der Ebene, glitt und glitt unendlich lange nach unten und hob sich dann ebenso lange und langsam wieder hinauf.
Die sechs anderen rappelten sich auf und warteten fragend, Haryna wirkte panisch – Carys ungutes Gefühl verstärkte sich.
Als die Spitze des Astes endlich wieder bei ihnen angekommen war, zappelte in seiner Spitze ein unerwartetes, vertrautes Gesicht.
»Najaxis«, sagte Cary. Der Inkubus sah sich um, bemerkte sie und gab den Widerstand auf.
Merkanto seufzte. »Die Rettung naht.«
»Der krabbelte über meine Wurzeln«, sagte die Königin des Waldes mit beinahe kindischer Verträumtheit. Sie setzte den Inkubus vor Haryna. »Sag, Liebes, wo waren wir?«
»Bei den Eindringlingen. Offenbar gibt es noch mehr von ihnen!«, Haryna fuhr zu den nun vier Gefangenen herum.
Cary trat vor: »Ja, wir sind viele!«
Sie ließ ihre Stimme schrill klingen und hoffte, dass ihr Trick funktionieren würde. Sie betete, dass die anderen ihren Plan durchschauten und dass Haryna das gleiche nicht gelänge. »Wir sind eine große Gruppe, ein Vampir führt uns an – Iljan Taidoni persönlich! Wir sind im Auftrag seines Vaters hier und ihr kennt ihn! Die anderen werden bald hier sein!«
Haryna starrte Cary an. Sie schnaubte. Dann lachte sie plötzlich laut und schrill. »Nur ihr vier? Es sind wirklich nur ihr vier?«
»Verdammt, Cary!«, zischte Merkanto äußerst überzeugend. Sie drehte sich zu ihm um und nutzte die Gelegenheit, um die ganze Anspannung in einem Atemstoß entweichen zu lassen. Für Haryna sah es hoffentlich aus aus, als würde Cary niedergeschlagen in sich zusammensinken, doch sie triumphierte. Haryna war auf die doppelte Lüge hereingefallen und glaubte nun, dass die Gefangenen vollkommen allein und verzweifelt waren. Ein Blick auf den überaus verwirrten Najaxis zeigte Cary, was für eine meisterhafte Täuschung sie geleistet hatte. Sie zwinkerte dem Inkubus zu – er sollte bloß nichts sagen, womit er sie verraten könnte – und wandte sich wieder zu Haryna um.
»Ja, wir sind nur zu viert.«
Haryna triumphierte über das falsche Geständnis. »Solche Dreistigkeit! Solche Unverschämtheit! Verachtung gegenüber deiner Macht, Mutter! Können wir das zulassen?«, die Dryade beantwortete sich diese Frage selbst: »Nein, können wir nicht! Mutter, ich fordere die höchste Strafe für diese Feinde unserer Welt!«
Die große Hamadryade murmelte etwas, das halb im schmatzenden Geräusch ihrer Baumlippen unterging. Doch für Cary klang es wie: »Tu, was du nicht lassen kannst.«
»Was sagst du, Mutter?«, Haryna legte in dramatischer Geste die Hand hinter das Ohr. »Gnade? Gnade gegenüber diesen Käfern?«
Spätestens da wusste Caryellê, dass sie diesmal tief, wirklich tief im Dung saßen. Haryna drehte sich um, fieberglänzende Augen, ein zu breites Lächeln im Gesicht. »Gnade! Hört ihr das, ihr Unwürdigen? Euch wurde Gnade zugesprochen. Welche Gnade nur, Mutter? Lassen wir sie ziehen?«
Die Königin des Waldes murmelte, halb im Traum, unverständlich vor sich hin.
Haryna schlug die Hände vor den Mund. »Bleiben? Mutter, bleiben? In unserer Stadt? Sie sind Feinde, Eindringlinge!«
Cary tauschte einen Blick mit den anderen dreien, während Haryna die einseitige Diskussion führte. Merkanto sah düster nach vorne, Terziel hielt den Kopf mit melancholischem Gesichtsausdruck gesenkt. Najaxis blickte wild vom einen zum anderen und formte lautlos die Worte: »Was geht hier vor?!«
»Hört nun die Gnade, die außergewöhnliche Ehre, die euch die große Königin des Waldes in ihrer unbeschreiblichen Weisheit zuteilwerden lässt:«, Haryna trat mit großartiger Geste vor sie, breitete die Arme aus, die Handflächen dynamisch und effekthascherisch nach vorne und oben gerichtet, wie jemand, der gleichseitig eine Segnung erhält und ausspricht.
»Sie verzeiht euch! Sie verzeiht euch eure Sünden, eure vorherigen Leben! Ihr dürft bleiben in unserer wunderbaren Stadt, hier in Crisayn, dürft euch von euren Wunden und eurem Schatten rein waschen! Hier, im Herzen des Waldes, sollt ihr neu geboren werden. Die großartige Mutter, Königin des Waldes, will auch eure Mutter sein. Sie nimmt euch an, akzeptiert euch, wie ihr seid. Seid willkommen, neue Schwester, neue Brüder! Hier sollt ihr eine Heimat finden, ihr sollt zurückgeführt werden auf den rechten Weg, zurück zum Licht und zur Wahrheit der allmächtigen Königin! Ihr sollt ihre Kinder werden, Teil des Waldes, seiner Bäume und Quellen! Welch eine Gabe, welch ein Geschenk! Gepriesen sei die Königin!«
Haryna schüttelte sich ekstatisch und jauchzte. Vielleicht glaubte sie ihre eigenen Lügen und war von ihrem Blendwerk überzeugt. Die Wachen jubelten und einer umarmte Najaxis sogar, wirbelte den verdutzten Nachtmahr im Kreis um sich.
Cary, Terziel, Merkanto und Najaxis waren fassungslos. Cary war ganz besonders geschockt. Wie konnte es sein, dass sie im Sonnenreich plötzlich diese finsteren, finsteren Ecken fand? Als würde sie ein reines Kiesbett harken, doch unter jedem Stein, den sie umdrehte, fand sich ein Insekt – eine haarige Spinne, ein giftiger Käfer, ein fauchendes Etwas oder noch Schlimmeres … das Grauen wollte sie schier überwältigen, als man sie unter Glückwünschen nach unten führte, über die Äste der nun wieder tief schlafenden Königin – ihrem neuen Leben entgegen.