https://www.deviantart.com/ifritnox/art/715508777
Cary hatte beschlossen, Harynas seltsames Spiel für den Moment mitzuspielen. Die Dryade führte Cary, Terziel, Merkanto und Najaxis über einen breiten Ast der riesigen Königin des Waldes nach unten in die Stadt. Die beiden ätherischen Wachen folgten ihnen und Cary bezweifelte nicht, dass die beiden Nymphen sie beim kleinsten Fehler töten würden, Harynas freundlichen Worten von Vergebung und dem Beginn eines neuen Lebens zum Trotz.
Sie wurden auf dem Marktplatz von einer Menge in Empfang genommen. Die verschiedensten Dryaden, Nymphen und andere Waldwesen hatten sich hier versammelt. Die Kunde von den Gefangenen – und neuen Mitbewohnern – hatte schnell die Runde gemacht. Es schien, als sei die komplette Stadt angetreten, um die vier Fremdlinge schweigend zu mustern.
Es war geradezu unheimlich still. Caryellê fröstelte.
»Geliebte Gemeinde!«, rief Haryna über den stillen Platz und breitete die Arme aus. »Seht, unsere neuen Brüder und unsere neue Schwester. Diese vier werden nun bald Teil unseres wundervollen Volkes sein – heißt sie willkommen!«
»Willkommen in Crisayn, Stadt des Friedens!«, tönte die Menge mechanisch, wie Kinder, die ein auswendig gelerntes Gedicht aufsagten, ohne die Emotionen zwischen den Zeilen zu verstehen.
»Das ist ja eine heitere Gesellschaft«, raunte Najaxis gedämpft in Carys Rücken.
»Still!«, zischte Merkanto, der neben Cary stand und einen nervösen Blick zu Haryna warf. Die Dryade beachtete sie jedoch nicht weiter, und so flüsterte Merkanto hastig: »Sie ist eindeutig verblendet, aber das macht sie nicht ungefährlich. Seid vorsichtig, wirklich vorsichtig, was ihr sagt und tut. Wenn sie das Gefühl bekommt, dass wir eine Flucht planen, kann niemand sagen, wie sie reagieren wird.«
»Vermutlich, indem sie uns töten«, wisperte Cary zurück, in erster Linie, um Merkanto in Erinnerung zu rufen, dass sie die Anführerin der Weißen Wächter war und nicht irgendeine Elfe mit gerade mal zweistelligem Alter, der man solche Sachen noch erklären musste.
»Oh, seid ihr aufgeregt?«, Haryna unterband alle weiteren Gespräche und trat zu ihnen. »Es muss ja so wundervoll sein, das alles zum ersten Mal zu erleben! Kommt, ich zeige euch, wo ihr wohnen werdet, bis die Wandlung vollbracht ist.«
»Die … Wandlung?«, fragte Najaxis und wurde blass.
»Aber ja doch! Damit ihr wahrlich Teil unserer Gemeinde werdet, mit Wurzel und Zweig!«, erklärte Haryna mit träumerischer Stimme.
Cary tauschte einen besorgten Blick mit Terziel. Sie wusste, was das bedeutete. Sie wusste es genau: Haryna wollte sie zu Dryaden machen.
Während sie durch den Menge geführt wurden, musterte Cary die Gesichter, die vorbeitrieben wie Blätter in einem strömenden Fluss. Wie viele andere Wesen hatte Haryna bereits gewandelt, bei wie vielen Vorgängern ihre Gehirnwäsche vollzogen? Vielleicht stimmte es nicht, dass man Crisayn niemals gefunden hatte – vielleicht waren jene, die diese Stadt entdeckt hatten, nur niemals zurückgekehrt, um die Geschichte zu erzählen.
Iljan stand schweigend im Schatten einer großen Birke, während die Sonne quälend langsam über den Himmel zog. Er behielt die Stadt im Blick, versuchte zu erraten, was dort geschah. Bewegten sich verdächtig viele Wesen auf den Straßen? Oder waren die Straßen im Gegensatz verdächtig leer?
Er hoffte auf ein Zeichen von den Vermissten.
Als Jackie neben ihn trat, drehte er sich nicht um. Die Werwölfin stand eine ganze Weile schweigend an seiner Seite, die langen Haare bewegten sich im schwachen Wind.
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Jackie schließlich. »Cary hat uns nicht verraten.«
»Das dachte ich auch nicht«, meinte Iljan.
Jackie sah ihn an. »Du stehst seit Stunden hier. Komm zurück zu den anderen.«
Iljan sah nach hinten, wo der Rest ihrer geschrumpften Gruppe – Gudrun und Stella – sich um ein kleines Feuerchen versammelt hatte und ihre letzten Vorräte aufzehrte. Er hatte ihnen noch nicht verraten, dass es die letzten Vorräte waren. Die Sorge lastete immer schwerer auf seinen Schultern. Sie hatten kein Essen – wie sollten sie ohne Nahrung zum Sonnenpalast kommen? Und was hielt Cary, Terziel und Merkanto auf, wieso waren sie noch nicht zurück? Warum hatten sich Najaxis und Abarax noch nicht gemeldet?
»Iljan? Hallo, ich rede mit dir!« Jackie klang wütend.
»Entschuldige«, murmelte Iljan. »Was hattest du gesagt?«
»Ich habe gefragt, wann du zuletzt etwas getrunken hast.«
Iljan wich ihrem Blick aus. Noch so eine Sache, um die er sich kümmern musste: Der Durst wurde immer schlimmer, aber er durfte nicht nachgeben. Noch nicht. Er musste noch ein wenig aushalten, denn sonst würde der Drang nur immer stärker und stärker werden.
»Später«, antwortete er Jackie. »Geh jetzt zurück. Ich halte Wache, bis etwas passiert.«
»Und was willst du dann machen?«, fragte Jackie bissig. »Iljan, sie sind alle erwachsen. Sie kommen auch ohne dich zurecht! Hör einfach auf, dich so seltsam zu benehmen.«
Er sah seine Freundin an und konnte nichts erwidern. Wie sollte er ihr dieses Chaos in seinem Inneren erklären, die Angst und Sehnsucht und Sorge? Er würde all das am liebsten jemandem anvertrauen, und bisher war Jackie dieser Jemand gewesen. Doch durfte er sie damit belasten? Nein, diese Last musste er allein ertragen.
Er sah wieder zur Stadt herüber. Wo waren die anderen? Ging es ihnen gut?
Ging es … Cary … gut?
Das Haus, zu dem Haryna sie führte, unterschied sich augenscheinlich nicht von den anderen Gebäuden in Crisayn. Es war eine kleine Hütte mit einem runden Dach aus Muschelkalk. Das Innere bestand nur aus einem einzigen, kleinen Raum. Es gab einen kleinen, silbrigen Wasserfall, der aus dem Dach fiel, über die Wand rann und dann durch ein verziertes Gitter im Boden versank. Außerdem existierte eine kleine Bank, die in dem kreisrunden Räumchen stand. Es gab ein rundes Fenster in der gewölbten Wand, eine kleine Glühwürmchenlampe und an einer Seite eine Lagerstatt, eine Ansammlung von Kissen und Decken auf einem grünen Teppich.
Die ganze Hütte war rund und kugelig erbaut, bis auf die Bank und einige Regalbretter an den Wänden schien es keine gerade Linie zu geben. Auf den Regalen standen unzählige kleine Glasphiolen, die mit einer durchscheinendne Flüssigkeit gefüllt waren.
»Trinkt«, sagte Haryna, als sie bemerkte, dass Cary die Flässchen musterte. »Trink, wann immer ihr durstigt seid. Es ist das Blut unserer wunderbaren Herrin!«
Haryna schloss nach einem Lächeln und einigen letzten, falschen freundlichen Worten die Tür. Caryellê hört ein metallisches Klicken. Als Merkanto an der ovalen Tür rüttelte, ging sie nicht auf.
»Damit wären wir aus einem Gefängnis in das nächste gebracht worden«, schlussfolgerte der Magier.
»Ich habe nur das Gefühl, dass wir in der vorherigen Zelle besser aufgehoben waren«, musste Cary zugeben. »Was tun wir jetzt?«
»Was ihr tut, weiß ich nicht«, kam es von Najaxis, allerdings klang die Stimme des Inkubus' mit einem Mal deutlich dunkler und bedrohlicher. »Ich werde jetzt Iljan zu Hilfe holen!«
Cary, Terziel und Merkanto starrten den Nachtmahr an, dessen Augen sich pechschwarz verfärbt hatten. Er war besessen.
»Abarax!«, rief Merkanto aus. »Das ist ja mal eine Überraschung.«
»Eine gute, hoffe ich doch«, sprach der Nachtmahr aus Najaxis' Mund.
»In der Tat«, grinste Merkanto. »Aber bevor du losfliegst, sollten wir uns vielleicht überlegen, was wir Iljan sagen.«
»Dass wir gefangen sind und zu Dryaden werden sollen, vielleicht?«, schnappte Terziel. »Oder sagen wir lieber: Alles super, wir machen hier nur ein paar Tage Urlaub, zieht ohne uns weiter!«
Merkanto verdrehte die Augen. »Wir sagen ihm die Wahrheit, natürlich. Aber dann wird er sofort losrennen und uns befreien wollen. Wir müssen entscheiden, ob das wirklich die klügste Idee ist. Wenn Iljan und die anderen ebenfalls gefangen werden, haben wir nichts gewonnen.«
»Er wird uns befreien müssen«, meinte Cary. »Und zwar bald. Wir dürfen auf keinen Fall von dem Dryadenblut trinken. Und ich wette, dieser Wasserfall ist ebenfalls vergiftet. Abarax, kannst du vielleicht die Umgebung erkunden? Wir müssen wissen, wo die Hütte steht. Wie viele Wachen es gibt. Wir brauchen mehr Informationen.«
»Und dann komm zurück«, fügte Merkanto hinzu. »Vielleicht können wir unseren Ausbruch bereits planen.«
Abarax stöhnte genervt. »Schon gut. Wie ihr wollt! Ich sitze ja nicht hier fest und werde in einen Baum verwandelt!«
»Dryade«, verbesserte Cary, aber da fiel Najaxis auch schon in sich zusammen wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren. Aus dem Mund des Inkubus stieg eine dichte, schwarze Rauchwolke, die durch das runde Fenster glitt und verschwand.
Merkanto hatte den Inkubus aufgefangen, der nun flatternd die Augen öffnete und sich dann stöhnend die Stirn rieb. »Das ist kein Traum, oder?«
»Nein«, sagte Terziel.
In Najaxis' helle Augen traten Tränen: »Ich will keine Dryade werden!«
Abarax glitt durch helles Sonnenlicht und suchte Schatten. Er spürte einen finsteren Winkel nicht weit entfernt und huschte hinein. Dann verharrte er und versuchte, die unzähligen Eindrücke zu ordnen, die auf seine Schattensinne einströmten. Er spürte pulsierendes Leben, unzählige Wesen, die über Straßen und Wege liefen. Die verschiedensten Gedanken streiften seinen Geist – von unbedeutenden Gedanken an Pflanzenwachstum und Familie bis hin zu missgünstigem Neid, zu Gier, falschem Glauben und noch schlimmerem … anders als im Schattenland brodelten all diese Gedanken unter einer leuchtenden Fassade vor sich hin. Abarax fühlte sich, als hätte er in einen leuchtend roten Apfel gebissen, nur um festzustellen, dass dieser unter der glänzenden Fassade verfault und von Würmern durchdrungen war.
Das Sonnenland war nicht, wie Iljan es sich erträumt hatte. Doch anders als der Vampir war Abarax auch nicht auf der Suche nach einer festen neuen Heimat.
Ihn trieb anderes in dieses Land, eine andere Mission.
Als Schatten glitt er durch Crisayn und streckte schwarze Finger tastend nach dem Leben überall aus. Er spürte die Anwesenheit verschiedener Nymphen und Dryaden, ihren Lebensimpulsen folgend konnte er ein geistiges Netz der Straßen aufbauen.
Und schließlich kehrte er zu Caryellê, Merkanto, Terziel und Najaxis zurück.
»Iljan? Kommst du?«
Es war Abend geworden und Iljan verharrte immer noch auf seinem Aussichtspunkt, den Blick auf die Stadt gerichtet. Jackie wollte zu ihm gehen, aber etwas hielt sie davon ab, die letzten Schritte zu überwinden. Nach einer Weile erkannte sie das Gefühl.
Angst. Sie fürchtete sich vor Iljan, vor der schweigenden, sorgenvollen Silhouette, zu der er geworden war.
Dann seufzte der Vampir und seine Schultern sackten nach unten. »Ich komme.«
Jackie war erleichtert, als der Vampir zu ihnen an das kleine Feuer trat. Gudrun hatte einen kleinen Kessel über das Feuer gehängt und rührte eifrig darin herum. Sie warf ein paar weitere Kräuter herein und nahm den Kessel dann ab. Darin hatte sich eine beige Creme mit grünen Kräuterstückchen gebildet. Gudrun rührte nochmals und schnupperte an ihrer Mixtur.
»Sehr gut!«, grinste sie dann.
»Was ist das?«, fragte Iljan misstrauisch.
»Wundsalbe«, meinte Gudrun. »Für die zahlreichen Schnitte deiner Gefährten. Aber von sowas versteht ihr Vampire nichts, ihr mit euren Selbstheilungskräften!«
Iljan schnaubte bloß. »Riecht wie eine Kloake im Wald!«
»Das ist Naturmedizin!«, schimpfte Gudrun beleidigt. »Echte weiße Magie! Ich kann ja nicht immer Froschlaich und Spinnenpenisse verwenden!«
Jackie verzog das Gesicht bei der Vorstellung, eine Salbe aus den letztgenannten Zutaten verwenden zu müssen.
Iljan sah zu Stella herüber. Das Einhorn war inzwischen nicht mehr gerstenbraun, sondern wieder weiß wie bei ihrer ersten Begegnung. Stella hatte sich außerhalb des Feuerscheins auf einen Flecken Moos gelegt und ihnen den Rücken zugewandt. Nur ihre langen Ohren zuckten hin und wieder nach hinten.
»Was nun?«, fragte Gudrun und sah Iljan an. »Hat dein Grübeln dir irgendwas gebracht?«
Der Vampir schüttelte den Kopf und setzte sich ans Feuer. Jackie hockte sich neben ihn.
»Hast du schon mal daran gedacht, einfach umzukehren?«, fragte Gudrun. Ihr Tonfall war locker, doch Jackie merkte trotzdem, wie Iljan sich versteifte. Nervös rückte sie von ihm ab. Ihre Haut kribbelte.
»Ich sag ja nur. Noch hätten wir vielleicht die Chance, über die Grenze zu fliehen und mit dem Leben davon zu kommen!«, sagte Gudrun.
»Ich laufe nicht weg!«, knurrte Iljan. »Und mein Leben wäre drüben nichts mehr wert. Mein Vater wird mir nie verzeihen, dass ich geflohen bin.«
»Vielleicht … schätzt du ihn falsch ein«, meinte Gudrun.
»Nein«, sagte Iljan bitter. »Er ist ein Monster.«
»Aber …«, setzte Gudrun an, doch Iljan unterbrach sie mit einem heftigen Fauchen. »Er ist ein Monster! Du hast nicht gesehen, was er getan hat. Du kennst ihn kaum, du bist doch nur eines seiner Spielzeuge. Er ist ein Monster und ich werde nicht zurückkehren!«
Gudrun stand auf. »Ist ja schon gut! Man darf hier auch nichts mehr sagen!«
Die Hexe ging zu Stella herüber und zog einen Apfel aus der Tasche, den sie dem Einhorn gab.
Iljan starrte in die Flammen und atmete heftig. Jackie sah, wie sich die Haut über seinen Knöcheln spannte, so fest umschloss er seine Arme. Sie musste den heftigen Drang niederkämpfen, vor ihm davon zu rennen.
So hatte sie noch nie empfunden.
Sie sah sich um – und bemerkte etwas, einen Schatten, der durch den düsteren Wald auf sie zu kam.
»He, Iljan!«, rief sie, froh über die Ablenkung. »Da kommt Abarax!«
Der Nachtmahr schoss heran und nahm neben dem Feuer menschliche Form an. Er lächelte kalt und seine Augen blitzten spöttisch.
»Ich hoffe, ihr habt euch gut ausgeruht. Uns steht eine turbulente Nacht bevor.«