https://www.deviantart.com/ifritnox/art/716710265
Cary hatte den Rücken an die Wand gelehnt, die Knie vor die Brust gezogen und das Kinn auf den über den Beinen verschränkten Armen abgelegt. Zum ersten Mal seit der Schlacht an der Grenze, so schien es ihr, kam sie zur Ruhe. Es war eine erzwungene Ruhe in dem Gefängnis, das Haryna ihnen zugeteilt hatte, und Caryellê hatte das Gefühl, als ob die Ereignisse sie bis hierher getragen hatten, sie hierher geschwemmt hatten wie eine Flutwelle, die ein Stück Seetang auf den Strang warf. Da lag Cary nun also in der Sonne und vertrocknete und fragte sich, was sie getan hatte. Waren ihre Entscheidungen richtig gewesen? Sollte sie überhaupt hier sein?
Und im gleichen Moment fragte sie sich, ob sie hier sein wollte. Natürlich nicht in einer Hütte eingesperrt, aber wollte sie hier sein, Wesen aus den dunklen Landen an ihrer Seite und weitere Dunkle Wesen als ihre einzige Hoffnung?
Die überraschende Antwort war: Ja. Cary wollte hier sein. Sie vertraute darauf, dass Iljan sie retten würde, sie vertraute Abarax und Merkanto, die den Plan geschmiedet hatte und sie fühlte sich wohl in der seltsamen, zusammengewürfelten Gruppe.
Sie war glücklich.
Fighting and running from, turning from who we really are.*
»Was ist das für ein Lärm?«, fragte Merkanto und sprang auf. Terziel horchte auf und nutzte einen Flügelschlag, um vom Boden in den Stand zu springen. Auch Cary und Najaxis kamen auf die Füße. Draußen erklangen Schreie. Sie hörten die Geräusche schneller Schritte, ein Kind weinte. Terziel tauschte einen Blick mit den drei anderen.
»Sie kommen!«
Cannot suppress, so let's find the one we have shaped so far.
Sofort herrschte Chaos in der kleinen Holzhütte. Merkanto und Najaxis sprangen auf die eine Seite der Tür, Cary und Terziel auf die andere. Mit angehaltenem Atem pressten sie sich gegen das Holz. Najaxis schloss die Augen und fühlte die raue Holzwand im Rücken. Er war nervös. Nun hing alles davon ab, dass Merkantos Plan aufging.
Er presste die Augen und Lippen fest zusammen.
Flying too close to the sun, as if we're invincible.
Merkanto spürte die Anspannung, die sich in dem kleinen Räumchen bildete. Seine Fingerspitzen kribbelten, als sie vier auf den großen Knall warteten, angespannt, aufgeschreckt und absolut regungslos. Sein Herz klopfte laut und schnell. Draußen war inzwischen echte Panik ausgebrochen, Nymphen schrien und Dryaden kreischten, dazwischen glaubte er, ein vertrautes Knurren zu vernehmen. Abwartend sah er starr geradeaus und verließ sich allein auf seine anderen Sinne.
Cannot dictate, dominate the earth that we're living on.
Iljan hasste unnötiges Blutvergießen. Er hasste es, Angst und Schrecken zu verbreiten. Doch das war das einzig, worin ihre Gruppe wirklich gut war. Während er mit den anderen Crisayn stürmte, klammerte er sich an den Gedanken von Cary, an eine scharf umrissene Erinnerung an ihr hartes Gesicht und an ein flüchtiges Lächeln, das nicht ihm gegolten hatte.
We can't defy the laws, cut the laws that we consummate.
Abarax hatte sich in einen gewaltigen, pechschwarzen Tornado verwandelt, die größte und gefährlichste Form seiner Schattengestalt. Für die Nymphen musste er ein wahrer Alptraum sein, groß wie die zahlreichen Bäume von Crisayn, mit rot glühenden Augen und einer Fratze voller nadelspitzer Zähne mitten im wirbelnden Rauch.
Wie geplant griffen sie einen kleinen Vorort von Crisayn an, eine Ansammlung kleiner, runder Hütten hinter einem Hügel und umschlungen von den Wurzeln der mächtigen Königin. Hier befand sich ein eingezäuntes Lager, in dem Haryna den Rest der Gruppe gefangen hielt. Doch die Zäune waren darauf eingerichtet, eine Flucht zu verhindern – keinen Angriff.
Around the world, we grow weaker as we exterminate.
Die Zaunpfähle flogen zu allen Seiten davon wie Zahnstocher in einem Sturm, als Abarax durch die Barriere brach. Stella folgte in der Schneise, der Wind fuhr energisch in ihre flatternde Mähne. Die Effekte des Alkohols waren abgeklungen, in diesem Moment fühlte sie sich wie neugeboren, wie ein Fohlen auf der freien Weide.
»Stella!«, rief Gudrun und warf eine leuchtende Fackel nach vorne. Stella wurde schneller, warf den Kopf hoch und wieherte, als der brennende Ast auf ihr Fell traf.
[style type="italic"]»Lass es zu«[/style], hatte Gudrun gesagt.
Stella schloss die Augen und ging in Flammen auf wie eine Ölpfütze, die sich entzündete. Sie galoppierte noch schneller, ihre Hufe trommelten auf die Erde und sie senkte das Horn zum Angriff.
The only thing that gives, thing that brings air and light to us.
Gudrun beobachtete mit glänzenden Augen, wie Stella sich in eine Leuchtfackel verwandelte und dicht hinter Abarax in die Siedlung der erschrockenen Nymphen und Dryaden stürmte. Das flammende Einhorn war wunderschön und für einen Moment erinnerte Gudrun sich daran, was es hieß, im Land des Lichts zu leben. Tränen wollten ihr in die Augen treten, als ihr Herz erzitterte, nur für einen winzigen Moment, bei der Erinnerung an Schönheit und Glück.
Dann packte sie die kleine Schleuder, die sie aus einem Y-förmigen Ästchen und einem Stück Leder gebaut hatte und legte den ersten Trank als Munition ein. Sie wirbelte die Schleuder durch die Luft und ließ die Flasche nach vorne sausen, direkt auf die Hütte zu, in der die anderen gefangen saßen. Nymphen und Dryaden rannten kopflos durch das Dorf, ihre Schreckensschreie füllten die Luft und Gudrun lachte.
Sie liebte es, böse zu sein.
Wake up one day and find what we got is so serious:
Jackie preschte den Hügel hinauf, im Maul das mit einem Stofffetzen umwickelte Bündel. Sie hatte die Waffen ihrer gefangenen Freunde in einem Lagerhaus des Dörfchens gefunden, nun, als sie den Hügel erreichte, begann der Angriff, in dessen Lärm und Chaos ihr Diebstahl unterging. Donnernd wie ein Wirbelsturm sauste Abarax in die Stadt, dicht gefolgt von einer feurigen Stella. Jackie ließ das Bündel los, sprang über die Waffen hinweg und sprintete zur Kuppe des kleinen Hügels, der sich zwischen den mächtigen Wurzeln erhob und die verborgenere Siedlung der Gefangenen vom Rest der Stadt abtrennte.
Jackie hob den Kopf zum Himmel, spürte den Wind im Fell und … heulte.
We are the children of the sun!
We are the children of the sun!
Alle Bewohner von Crisayn konnten die rote Wölfin auf dem nächtlichen Hügel sehen, beschienen vom vollen Mond und dem Feuer, als Gudruns Trank die Tür der Hütte traf.
Der Trank explodierte und zerriss die einfache Holztür. Aus dem dichten, grünlichem Qualm stolperten vier Gestalten, die Arme schützend vor die Gesichter gehalten. Terziel, Merkanto, Najaxis und Cary besannen sich schnell und rannten auf Jackie zu, während nicht weit entfernt die nächste Hütte von Stella in Brand gesetzt wurde.
The human greed and our creed is all that we have to share.
Merkanto lief voraus, seine Roben bauschten sich hinter ihm wie Sturmwolken. Mit sicheren Schritten führte er Cary, Terziel und Najaxis durch die panische Menge und auf den Hügel zu, von dem Jackies Augen gelb herab blitzten. Die Wölfin sprang ihnen entgegen, hob unterwegs ein Bündel auf und warf es zum Fuß des Hügels, als die vier dort ankamen.
Knee deep in tragical, fabrical issues everywhere.
Abarax drehte sich um sich selbst und schleuderte die Hütten beiseite, als wären sie Spielzeug. Er brüllte in den dunklen Himmel, während er einen Platz inmitten der Siedlung am Rand von Crisayn schaffte, eine Art Auge des Sturms, im Zentrum des Angriffs. Er verspürte einen Blitz von Stellas Feuer, während er sich drehte, doch seine Augen funktionierten nicht länger. Er spürte die aufgewühlten Emotionen und wuchs durch die panische Angst der Überfallenen immer weiter in die Höhe.
Cannot replace the one, chase the one that we used to be.
Iljan entdeckte Cary und huschte an ihre Seite. Sie schrak zusammen, als er seine Schritte den ihren anpasste, für sie musste er aus der Schwärze selbst gekommen sein. Für einen winzigen Moment sahen sie einander schweigend in die Augen, ganz verloren in diesem Moment des Wiedersehens, doch Iljan fragte sich unwillkürlich, ob Cary diesen Moment wirklich genauso empfand wie er.
Er reichte ihr das kleine Fläschchen von Gudrun. »Hier.«
It isn't how we were, why we're here, what we're meant to be.
Cary stürzte die klare Flüssigkeit in einem Schluck herunter. Sofort breitete sich eine eisige Kälte in ihren Gliedern aus, sie stolperte. Der Bogen wollte ihren plötzlich kraftlosen Fingern entgleiten, da erschien Stella wie aus dem Nichts an ihrer Seite. Die Hitze des Einhorns war gewaltig. Cary, die an Gudruns Berechnungen gezweifelt hatte, spürte nun, dass Stellas Feuer ausreichte, um den Eistrank zu neutralisieren. Cary sprang auf Stellas Rücken und legte in einer fließenden Bewegung einen Pfeil auf die Sehne. Neben ihr sprang Iljan auf den Rücken von Jackie. Der rote Werwolf und das brennende Einhorn stürmten auf den Zaun zu.
Fighting and running from, turning from who we really are.
Cannot suppress, so let's find the one we have shaped so far.
Terziel hob in den Himmel ab. Merkanto sandte im Rennen einen Energieimpuls nach vorne, wo Abarax wütete. Der Nachtmahr hielt inne und wandte das Gesicht Merkanto und Najaxis zu, die keuchend den Hügel herab geeilt kamen.
Abarax, in seiner gewaltigen Alptraumform, streckte eine Pranke mit langen, nadeldürren Krallen nach ihnen aus. Merkanto und Najaxis sprangen auf die ausgestreckte Handfläche und klammerten sich an je eine Kralle. Über ihnen erklang Terziels Flügelschlag und wurde lauter, als Abarax die Hand anhob und sich zum Gehen wandte. Schatten und schwarze Wolken lösten sich wie Rauch aus seinem monströsen Körper, Merkanto konnte die ungewöhnliche Energie des Nachtmahrs pulsieren spüren.
Flying too close to the sun, as if we're invincible.
Cannot dictate our fate on this earth that we're living on.
Die Gruppe lief, flog und galoppierte auf den Ausgang zu, auf den Wald der Seen, der bereit stand, um sie in seiner Unendlichkeit aufzunehmen und zu verbergen. Stella hinterließ eine Flammenspur, Abarax düstere Wolken und Terziel weiße Federn, weil sein Flügel noch nicht vollständig geheilt war.
Doch die Freiheit war zum Greifen nah. Gudrun lief bereits in den Wald hinein, Abarax berührte die vordersten Baumkronen.
We are the children of the sun!
The love for everyone.
Always on the run.
Crisayn blieb hinter ihnen zurück. Die Stadt, das Chaos, die kranke Königin des Waldes, Haryna, alles blieb zurück. Cary beugte sich tief in Stellas glühende Mähne, ihr Herz war leicht vor Glück. Sie waren entkommen.
Noch dazu waren sie wieder vereint. Egal, wie unterschiedlich sie waren, sie liefen, rannten, flogen, ritten im gleichen Rhythmus, ihre Herzen schlugen alle im gleichen Takt. Cary warf einen Blick zur Seite, wo Iljan ritt, und musste breit grinsen. In Iljans dunklen Augen spiegelte sich der feurige Schein von Stella.
Als der Vampir zurück lächelte, wusste Cary, dass alles gut werden würde. Wie unwahrscheinlich Iljans Mission auch klang, sie glaubte ihm und sie glaubte an ihn. Sie würde alles tun, damit er sein Ziel erreichte.
The fire in our eyes.
The passion never dies.
We are the chosen ones.
The children of the sun!
Doch plötzlich bewegten sich die Bäume vor ihnen und formten eine hohe, undurchdringliche Mauer. Erschrocken bremste die Gruppe aus, Stella schnaubte und stieg auf die Hinterbeine, Abarax fiel förmlich in sich zusammen, dann türmte seine dunkle Gestalt sich auf wie Wolken, die sich an einer Gebirgskette stauten.
Auf dem höchsten Punkt des neu errichteten Walls stand eine einzelne, schlanke, bräunliche Gestalt und sah auf sie herab.
»Warum?«, rief Haryna zu ihnen herunter. Ihre Stimme zitterte und bebte, sie klang, als habe man ihr Herz zerrissen. »Warum lehnt ihr unser Leben ab? Warum verratet ihr mich?«
Riesige Ranken schoben sich aus der Mauer und ringelten sich wie Schlangen.
»Sie wird uns umbringen!«, fluchte Merkanto. »Sie ist wahnsinnig. Sie wird uns töten!«
Iljan tastete nach seinem Schwert, doch die Waffe war in Najaxis' Händen, wie er sich plötzlich erinnerte. Und der Inkubus machte keine Anstalten, den Degen auch zu benutzen.
Cary trieb Stella an und das Einhorn ging nach vorne, bis es vor allen anderen stand. Funken aus seinem Fell sprangen in die Luft und wurden vom Wind immer höher getrieben. Cary reckte die Faust in die Luft, die noch den Bogen umspannte.
»Wir lassen uns nicht gefangen nehmen!«, brüllte sie Haryna entgegen. »Und du kannst uns auch nicht aufhalten, denn wir sind die Kinder der Sonne!«
We are the children of the sun!
The love for everyone.
Always on the run.
The fire in our eyes.
The passion never dies.
We are the chosen ones.
The children of the sun!
Stella bäumte sich auf, ein Feuerstahl aus ihrem Horn zerfetzte Harynas Barriere. Die Kinder der Sonne setzten sich in Bewegung, so schnell wie zuvor. Sie sprangen und rannten durch die Bresche, unter den Augen der entsetzten Dryade. Triumphierend stürmten sie in den Wald hinein, die Herzen voller neuer Hoffnung.
Crisayn, ehemals schönste Stadt des Waldes, nun eine Todesfalle, blieb hinter ihnen zurück. Die Fänge der Falle waren aufgebrochen.
We are, we are, we are the children of the sun.
We are, we are the children of the sun.
We are, we are, we are the children.
Always on the run.
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*»Children of the Sun«, Thomas Bergersen feat. Merethe Soltvedt