https://www.deviantart.com/ifritnox/art/725170654
Stella sprang leichtfüßig vorwärts, mit jenem schwerelosen Galopp der Einhörner, der keine Spuren im Gras hinterließ. Der Hügel kam näher, wo im Licht des aufziehenden Mondes der regungslose Drache zu erkennen war. Nun kamen auch der Zentaur und die weiße Reiterin in Sicht, die den Drachen begleitet hatten. Gudrun umklammerte ihre Fläschchen fester und beugte sich über Stellas lange Mähne.
In den Flaschen befand sich eine äußerst gefährliche Mischung, die Drachenatem genannt wurde: Sobald Luft an das Gemisch gelangte, würde sich eine Wolke von Feuer bilden, die auf einer Stelle schwebte und langsam vom Wind verteilt wurde wie Nebel. Dieses ungreifbare, schwebende Feuer war schwierig zu löschen. Nach allem, was Cary ihr gesagt hatte, wusste Gudrun nun, dass der Drachenatem im Land der Sonne so gut wie unbekannt war. Während Stella wütend auf den Hügel zu galoppierte, kaute Gudrun auf ihrer Unterlippe. Sie fragte sich, seit wann sie zur Kriegerin der Kinder der Sonne geworden war, wo doch ihre Aufgabe nur darin bestand, Iljan sicher zurück nach Hause zu bringen.
Sie hob den Arm mit der ersten Flasche. Der Hügel lag vor ihr und der Zentaur drehte sich eben erschrocken um, da er Stellas Schritte hörte.
Gudrun warf.
Ein lauter Knall zerriss die stille Luft über den Wiesen und auf der Hügelkuppe loderte Feuer auf. Merkanto drückte sich vom Boden hoch und schoss vorwärts, goldene Blitze leuchteten um seine Gestalt und seine Füße, damit sie ihn schneller vorwärts trugen. Seine Robe bauschte sich hinter ihm wie eine Sturmwolke und die Blitze brachen auch aus seinen Augen hervor. Seine Wahrnehmung verschob sich, Formen und Farben wurden zu Energien, dunkle Flecken für die starre Erde, helle Lichtpunkte und blaue Bewegungsstreifen, wo sich die Verteidiger auf dem Hügel erschrocken von den Flammen zurückzogen. Das Feuer tanzte als oranger Fleck vor Merkanto.
Er sprang unmittelbar vor dem Feuer ab und ein großer, dunkelblauer Windzug trug ihn hoch empor, über das Feuer hinweg und mitten zwischen die Verteidiger. Merkanto streckte die Finger aus und Blitze hagelten um ihn hernieder.
Terziel spürte, wie das Schwert seine Kehle verließ. Er ließ sich nach hinten fallen, ehe Neja ihren Fehler bemerkte. Die Hitze des Feuers traf ihn von der Seite und Terziel rollte sich ungeschickt durch das hohe Gras, nur darauf bedacht, von der Frau wegzukommen.
Die Luft prickelte für einen Moment und Terziel zog den Kopf ein, nur Sekunden, bevor ein Stakkato von Blitzen auf die Erde niederfuhr, kleine Grassoden aus dem Boden riss und auf Terziels Arme und Beine prasselte wie Hagel. Terziel rollte sich auf den Bauch und zog die Knie an, um dann den Kopf unter seinen Schultern und Flügeln in Sicherheit zu bringen. Er atmete den feuchten, erdigen Geruch des Bodens ein und wartete mit geschlossenen Augen und gefesselt darauf, was kommen würde.
Es war nichts Gutes, denn unvermittelt wurde er an den Haaren gepackt und sein Kopf unsanft in den Nacken gerissen. Als Terziel nach oben sah, erkannte er Nejas Gesicht im zuckenden Licht der Blitze. Sie hob ihr Schwert und setzte es ihm wieder an die Kehle.
»Hört sofort auf!«, donnerte sie. »Oder der Engel stirbt!«
Die Blitze erstarben. Terziel begegnete Merkantos Blick, denn der Zauberer stand mit leeren Händen zwischen Neja, dem Zentauren und Sophram.
In diesem Moment riss Faymurk in Merkantos Rücken den Speer hoch und bäumte sich auf, um den Magier mit voller Wucht zu durchbohren. Terziel riss den Mund auf, um eine Warnung zu brüllen.
Cary ließ die Sehne los. Melodisch pfeifend schoss der Pfeil durch die Luft, durch eine Lücke im Feuer und direkt in die Hand der weißgekleideten Frau, die daraufhin ihr Schwert fallen ließ.
»Merkanto!«, brüllte Iljan, der vor ihr auf Jackies Rücken saß. Mit schnellen Sätzen sprang die rote Wölfin vorwärts, die zwei Reiter schienen sie nicht wirklich zu verlangsamen. Doch sie waren immer noch nicht schnell genug. Der Zentaur stieß zu.
Merkanto sah, wie Terziel die Augen weit aufriss. In blindem Vertrauen warf Merkanto sich zur Seite und hörte einen dumpfen Aufprall. Ein Speer bohrte sich dort in den Boden, wo er eben noch gestanden hatte, und braune Hufe trafen auf die Erde. Merkanto warf sich auf den Rücken und sah in das vor Hass verzerrte Gesicht des Zentaurs. Ehe der Pferdemensch erneut ausholen konnte, streckte Merkanto eine Hand aus und schleuderte ihm einen Blitz in die Brust, der den Angreifer nach hinten taumeln ließ. Gerade, als der Zentaur sein Gleichgewicht wiederfand, sprang Jackie hinter dem Feuer her und schnappte nach seinen Hinterbeinen.
Merkanto kämpfte sich auf die Beine, einen Moment lang drehte sich alles um ihn. Er wurde langsam zu alt für solche Kämpfe.
Dann stolperte er nach vorne, als ihn ein Gewicht in den Rücken traf. Ganz anders als erwartet hatte sich die Frau bereits von der Pfeilwunde erholt.
Stella sah, wie Merkanto fiel und unter der Frau begraben wurde. Ihre Hufe glitten auf dem weichen Boden aus, als sie hart wendete und dann vorwärts sprang. Sie konnte spüren, wie Gudrun den Halt verlor und stechende Schmerzen strahlten von ihrer Mähne aus, als die Hexe sich verzweifelt daran festklammerte.
Doch Stella kümmerte sich nicht darum, als Gudrun letztendlich doch zur Seite fiel. Denn in ihrem Herzen brannte der verzweifele Wunsch, den Zauberer zu retten. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren Augen, sie schnaubte hitzig aus und dann – explodierte sie in Flammen, die aus ihrer Mähne und ihrem Schweif empor schossen. Die Hitzewelle trug sie vorwärts, als ob sie auf dem Druck einer Explosion reiten würde. Sie senkte das Horn und ein Flammenstrahl schoss daraus hervor. Er traf die weiße Frau von der Seite und fegte sie von Merkanto und in den Drachenatem.
Doch das Feuer berührte das weiße Kleid der Frau nicht, denn ab einem Abstand von zwei Fingerbreit von ihrer Haut wurde das Feuer plötzlich wie von einer zweiten Haut abgewiesen.
Stella sprang auf den Kampfplatz und baute sich über Merkanto auf, der sich mühsam erhob, Gesicht, Kleidung und Hände voller Dreck. Stella beachtete ihn nicht. Sie suchte die dunkler werdende Nacht nach der Bewegung eines weißen Kleides ab.
Iljan war von Jackies Rücken gesprungen, als sich die Wölfin auf den Zentaur stürzte. Nach einer schnellen Rolle durchs Gras kam er gerade rechtzeitig auf die Füße, um zu sehen, wie Stella Merkanto rettete. Und er sah auch, dass die Frau auf rätselhafte Weise vor dem Feuer bewahrt wurde. Eilig lief er an Stellas Seite, wo auch Cary aufgetaucht war. Einen Pfeil auf der Bogensehne spähte die Elfe in die Flammen, die den Kampfplatz nun fast vollständig einhüllten.
Mit einem hohen Schrei griff die Frau an: Sie kam aus der Luft und stürzte wie ein Raubvogel herab. Stella, Iljan, Merkanto und Cary sprangen auseinander. Ein Pfeil flog und verfehlte die Frau um Haaresbreite, doch dafür wandte sie sich nun Cary zu. Ihre Augen glühten in einem unheimlichen Licht, ebenso ihre Hand, die sie hoch riss, um damit auf Cary zu zeigen. Ein Lichtstrahl schoss vorwärts.
Iljan preschte nach vorne, schneller als ein menschliches Auge sehen konnte, und riss Cary aus der Bahn des Lichtstrahls. Sie fielen ins Gras und rollten übereinander, den Hang hinunter und durch die Flammen. Iljan hörte Cary schreien und spürte Hitze. Sie kamen am Hügel aus, Carys Kleidung brannte. Iljan kniete sich über sie und schlug die Flammen aus, erstickte sie in einer schnellen, beherzten Umarmung.
Dann lagen sie keuchend auf der kalten Erde, doch als Iljan den Kopf hob, teilten sich die Flammen über ihnen und die weiße Frau kam hindurch wie durch ein Tor.
»Schnell!«, rief er Cary zu und zerrte sie auf die Beine. Hand in Hand rannten sie los, blindlings den Hang hinab. Lichtblitze hagelten um sie herum auf den Boden, verfehlten sie nur durch viel Glück. Dann kam ihnen plötzlich ein Schatten entgegen. Die Gestalt warf etwas auf die beiden Flüchtenden. Iljan ließ sich zu Boden fallen und zog Cary mit sich. Die weiße Frau hinter ihnen wurde von dem Geschoss getroffen, eine Wolke von Flammen erschien um ihre Gestalt. Iljan bezweifelte, dass es der Frau ernstlich schaden würde.
»Sie ist eine verdammte Magierin!«, brüllte Gudrun – denn niemand anderes hatte den rettenden Drachenatem geworfen – und half ihnen auf die Beine. »Wir müssen fliehen oder sie bringt uns noch alle um!«
»Wo ist Abarax?«, fragte Iljan. »Wir müssen ihn befreien, dann können wir fort.«
»Ich glaube, der Nachtmahr ist wirklich unsere geringste Sorge«, fluchte Gudrun, packte Iljan kurzerhand am Ärmel und zog ihn hinter sich her. »Du kommst jetzt mit, keine Widerrede!«
Iljan widersetzte sich, doch selbst seine Vampirkräfte hatten keine Chance gegen eine entschlossene Gudrun. Er spürte einen Ruck an seiner anderen Hand, die immer noch Cary umklammert hielt. Jetzt riss die Elfe sich los: »Geh! Geht zu Najaxis und brecht mit den Vorräten auf. Ich hole Abarax.« Und nach einem letzten Blick in Iljans Augen, der ihm wie ein stummes Versprechen vorkam, drehte sie um und lief zurück zum Hügel, einen Bogen um die Flammenwolke schlagend.
Sophram roch das Feuer und erschrak. Abarax spürte die Wellen von Schreck, die durch den Körper des Drachen liefen. Stundenlang, vielleicht sogar tagelang waren sie im Kampf verharrt, zwei gleichstarke Gegner. Doch nun wankte Sophrams Verteidigung.
Abarax stürzte nach vorne an die Augen, um einen Blick auf das Geschehen zu werfen. Es sah nicht gut aus: Feuer loderte in einem dichten Ring, schemenhafte Gestalten rangen miteinander, Licht und Blitze und Pfeile schossen durch die Lüfte.
Jetzt griff Sophram nach seinen Augen und Abarax überließ sie ihm. Er wand sich aus dem Griff des Drachen, als dieser entsetzt auf den Kampf starrte.
Innerhalb von Sekunden wechselte Abarax' Wahrnehmung, als er aus dem Maul des Drachen strömte und zu Rauch wurde. Er spürte die Luft vor Hitze flimmern und die Mächte von Merkanto und einem weiteren, unbekannten und mächtigen Magier. Schleunigst nahm er körperliche Gestalt an, die Form eines großen, pechschwarzen Monsters mit einem glühenden Maul voller langer, spitzer Zähne. Um ihn her tobte der Kampf. Er hielt nach Terziel Ausschau.
Terziel hatte sich aus dem Feuerkreis gerettet und stand nun fassungslos dem Inferno gegenüber. Nicht weit entfernt kämpfte Jackie wild knurrend mit dem Zentauren Faymurk, doch beide bewegten sich so schnell, dass Terziel nicht eingreifen könnte, ohne womöglich Jackie zu verletzen. Im Feuerring dagegen brach soeben Chaos aus, denn der Drache Sophram löste sich aus seiner Starre und spie Feuer, welches den Drachenatem von Gudrun nur noch verstärkte. Stella, ebenfalls in Feuer gehüllt, stellte sich dem Drachen entgegen und schuf eine Art Schutzschild, hinter dem Merkanto gerade unsicher auf die Füße kam.
Terziel sah auch zwei Gestalten vom Schauplatz des Kampfes fliehen, doch konnte er sie auf die Entfernung nicht erkennen. Dafür sah er Cary, die sich gerade wieder dem Feuer näherte.
»Rückzug!«, brüllte die Elfe. »Rückzug zum Wald!«
Und dann schoss ein heller Blitz an der Elfe vorbei. Ehe Terziel sich auch nur rühren konnte, spürte er kaltes Metall am Hals und einen Arm, der ihn umklammerte. Neja hatte ihn eingefangen. Noch während Terziel sich mit Händen und Flügeln wehrte, spürte er das Kribbeln von Magie, das von Neja ausging.
»Halt! Niemand rührt sich!«, die Stimme donnerte über den Hügel. Auf einen Schlag erstarb das Feuer. Merkanto ließ die Hände sinken und erkannte Terziel nicht weit entfernt.
Erneut war der Engel in der Gewalt der weißen Frau. Er erwiderte Merkantos Blick mit weit aufgerissenen Augen.
Sophram hörte auf, Feuer zu speien und Stella wich zurück, immer noch in Flammen. Cary hatte zwar einen Pfeil auf der Sehne und zielte auf die weiße Frau, schoss aber nicht.
Stille legte sich über den Hügel, nur durchbrochen von Jackies Knurren, die dem Zentauren gegenüber stand.
»Legt eure Waffen weg!«, befahl die weiße Frau mit kalter Stimme.
Cary Blick huschte zu Merkanto. Sie ließ den Bogen ins Gras fallen, doch mit den Lippen formte sie ein einziges Wort: Rede.
»Wer … bist du?«, stammelte Merkanto an die weiße Frau gewandt.
»Ich bin Neja. Nejakai, die Weiße«, sagte die Frau. »Und ich sehe deine Macht, Gewittermagier. Lass die Blitze los, oder der Engel stirbt!«
Merkanto seufzte und entspannte sich, indem er die Hände streckte. Die Macht der Blitze verließ ihn.
»Nejakai, wie? Ich kenne deinen Namen«, sprach er weiter, in der Hoffnung, dass Caryellê einen Plan hatte. »Ich habe mir dich größer vorgestellt.«
»Das ist der Fluch eines großen Namen«, entgegnete Nejakai gelassen. »Und du bist?«
»Merkanto«, antwortete Merkanto. »Ich trage allerdings keinen Titel mehr.«
Die Augen von Nejakai weiteten sich und für einen, einen einzigen, winzigen Moment, war sie zu geschockt, um sich zu rühren.
Cary hechtete nach vorne, riss den Bogen hoch, auf dessen Sehne immer noch der Pfeil lag, und schoss. Nejakai wirbelte herum und blockte den Pfeil ab, doch in diesem Moment senkte sich eine schwarze Wolke aus dem Himmel über sie und Terziel. Dann wirbelte die Wolke wie ein Tornado um sich selbst und spuckte den Engel aus.
»Lauft!«, brüllte Cary. Stella stieg auf die Hinterbeine und schoss einen mächtigen Flammenstrahl gegen den Drachen, worauf Sophram auf den Rücken geworfen wurde. Jackie sprang auf den Zentauren und vergrub die Fänge in dessen Vorderbein.
Dann, nachdem ihre Gegner auf diese Weise verhindert waren, rannten sie los. Merkanto spürte den Wind in seinen Roben, als er ließ, blindlings Stellas Flammenspur folgend. Er hörte das Schlagen von Terziels Schwingen und dann einen entsetzten Ruf des Engels: »Abarax!«