https://www.deviantart.com/ifritnox/art/727619243
Normalerweise träumte Abarax nicht. Er war ein Nachtmahr, ein Alptraum, der von den Ängsten anderer Wesen lebte. Alpträume hatten keine eigenen Träume.
In dieser Nacht jedoch erschienen Bilder und Visionen hinter seinen geschlossenen Augenlidern.
Abarax sah eine grüne, hügelige Wiese, darauf spielten zwei Kinder, menschliche Zwillinge. Sie glichen einander wie ein Haar dem anderen, und doch waren sie grundverschieden.
Die Sonne schien, der blaue Himmel war mit weißen Wolken gesprenkelt, Vögel sangen in einem kleinen Wäldchen im Osten, junge Zentauren galoppieren im Norden über die Ebene, bloße Fohlen noch, doch bereits weit fort von ihrer Herde auf der Suche nach Abenteuern. Ein paar Bäche plätscherten durch das Land und eine kleine Gruppe Hanghühner floh ärgerlich schnatternd vor den beiden Jungen, die lachend versuchten, die Tierchen mit den unterschiedlich langen Beinen auf ebenes Gelände zu jagen, um eines zu fangen. Am Hang eines kleineren Hügels ging es rund und rund, denn die Hanghühner konnten nur in eine einzige Richtung laufen.
Plötzlich erscholl ein Ruf über der Ebene, die klare, helle Stimme einer Frau: »Alex! Tommy!«
Die Jungen sahen auf.
»Kommen!«, rief der eine, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt. Dann ergriff er seines Bruders Hand und lief los, auf die Stimme zu.
Der Bruder folgte stolpernd, doch die Szene veränderte sich. Im Rücken der Jungen erhob sich eine schwarze Wolke, eine schwarze Welle, die sich bis zum Himmel türmte und auf die Kinder zu rollte. Die Jungen rannten, doch einer war nicht schnell genug. Die Hände verloren den Halt zueinander, während sie beide auf das ferne Licht zuhielten, die Stimme ihrer Mutter.
Der kleinere Junge stolperte, weinte, warf sich auf den Rücken, als der Schatten über ihm in die Höhe wuchs. Er schützte das Gesicht mit einem Arm, dann stürzte die Dunkelheit auf ihn nieder.
Schwärze.
Schwereloses Schweben im Nichts.
»Alex!«, hörte der Junge die Stimme seines Bruders. »Alex!«
Und dann, die gleiche Stimme, aber viel ruhiger, zu einer anderen Zeit. »Ich lasse dich niemals im Stich, Alex, ich versprech's!«
»Thomas!«, jammerte der Junge, der allein in der Schwärze hing. »Tommy!«
Eine andere Stimme erklang, körperlos, gesichtslos, geschlechtslos.
»Alexander«, sprach sie den einsamen Jungen an. »Es ist Zeit.«
Dann folgte eine rasche Folge von Bildern: Die Strahlen der Morgensonne, die einen breiten, goldenen Pfad in den Himmel bildeten. Eine Schlange aus Feuer, die sich durch einen Wald wand, groß und bedrohlich. Ein leuchtender Regenbogen über einem verwitterten, grauen, düsteren Stein, wie zwei Bilder, die man übereinander gelegt hatte, das eine schön und friedlich, das andere grausige Realität. Das Gesicht eines blonden Engels.
Abarax erwachte mit einem Schrei, schweißgebadet, so, wie sonst seine Opfer erwachten. Zitternd hockte er da und wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigt hatte.
Die Morgensonne ging auf und ihre Strahlen brachen ungemein kräftig durch das Blätterdach. Abarax stand auf und folgte dem Licht, bis er an einen Fluss kam. In dessen Lauf erkannte er die Form der Schlange, und so folgte er dem Fluss bis zu dessen Ursprung in einem Rund verwitterter Steine.
Dort traf er auf eine kleine Gruppe, die sich zwischen den Steinen verbarg: Ein Vampir, eine Werwölfin, ein Zauberer und ein Drache.
Ihr unmöglicher Traum war der Regenbogen im Himmel über der düsteren Ebene, ein flüchtiger Schatten von Hoffnung, der irgendwann an der Realität zerbrechen musste.
Als Abarax auf Terziel traf, war sein Traum schon beinahe vergessen, doch er blieb bei den Kindern der Sonne, denn er spürte, dass er bei ihnen sein musste.
Irgendwann verstanden sie es, beide. Irgendwann schafften sie es, einander in die Augen zu sehen, blickten hinter die Fassade aus Licht und Schatten.
Dies war der Moment, in dem sie beschlossen, vergangene Fehler wieder gut zu machen.