https://www.deviantart.com/ifritnox/art/730183219
»Iljan, warte!«, rief Merkanto und die ganze Gruppe hielt an.
Der Magier hatte sich über etwas auf dem feuchten, dunklen Boden gebeugt und strich nun einige Farne beiseite.
Iljan eilte zu Merkanto und Cary folgte ihm auf dem Fuß. Bei dem Zauberer angekommen sahen sie, was er entdeckt hatte: Einige Bretter auf dem Boden, halb im Schlamm vergraben. Es waren gerade Holzbretter, eindeutig von Handwerkern bearbeitet, möglicherweise ein alter Fußweg. Nun war das Holz morsch und der Weg überwuchert, jedoch geschah dies schnell in den Dschungeln. Es konnte nicht lange her sein, dass der Weg angelegt worden war.
»Jemand wohnt hier«, meinte Merkanto. Er und Iljan sahen sich nervös um und auch Cary folgte ihrem Blick. Bei genauerem Hinsehen entdeckten sie breite Baumstümpfe, überwuchert von Ranken und Moos. Sie befanden sich auf einer Art Lichtung, wo weniger hohe Bäume und mehr Gestrüpp wuchs – ein alter Kahlschlag.
Cary dachte angestrengt nach. »Es muss ein Dorf sein, irgendeine kleine Siedlung«, sagte sie dann. »Im Dschungel gibt es viele Dörfer, und meist hören sie Neuigkeiten erst spät oder gar nicht. Wir könnten Glück haben.«
»Wie oft haben wir bisher Glück gehabt?«, fragte Merkanto. »Willst du darauf vertrauen?«
Cary schüttelte den Kopf: »Nein. Ich gehe und seh mir das an. Ihr anderen wartet hier.«
»Ich komme mit«, sagte Iljan jedoch schnell.
Cary zögerte. Eigentlich wäre es deutlich logischer, Jackie mitzunehmen, wenn sie sich schon in Begleitung in Gefahr bringen wollte. Und eigentlich wollte sie lieber allein gehen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Gut. Dann komm.«
Sie legten ihre Ausrüstung ab und verließen die Kinder der Sonne. Terziel wirkte froh über die erzwungene Pause und ließ sich dankbar auf den Boden sinken.
Bei genauerem Hinsehen konnte Cary tatsächlich das blasse Echo des Pfades im Unterholz entdecken – hier war ein Baumstamm an die Seite geräumt worden, dort Stufen in einen kleinen Hügel geschlagen. Eine schwache Spur von niedrigerer Vegetation führte sie durch den Dschungel.
Der Weg wand sich unordentlich um große Bäume herum oder machte einen Umweg an einem Bach oder See vorbei. Iljan und Cary gingen schweigend hintereinander.
Schließlich wurde der Weg breiter und unter den Pflanzen kam heller, fest getrampelter Boden in Sicht. Cary hielt an und duckte sich hinter einen großen Farn, Iljan beugte sich über ihre Schulter.
»Da!«, flüsterte der Vampir plötzlich und deutete nach oben.
Cary legte den Kopf in den Nacken und staunte. Vor ihnen öffnete sich der Wald zu einer Art Platz auf einem großen Hügel. Der Boden wirkte wie leergefegt, nur wenige Pflanzen wuchsen zwischen gigantischen Mammutbäumen. Doch dann sah Cary eine Wendeltreppe, die sich außen um einen Baum rankte, und anderswo Türen und Fenster, die auf ein Leben hinter der Rinde schließen ließen. Und oben in den Wipfeln, halb vom Blattwerk verborgen, sah sie nun große, kokonartige Behausungen aus verschlungenen Ästen, von denen blühende Lianen nach unten hingen und im Wind schaukelten. Hängebrücken und Seile, Pfade in luftiger Höhe, verbanden die Häuser miteinander und unzählige bunte Vögel kreisten kreischend um die Wipfel.
»Wipfelgarten!«, flüsterte sie. »Ich kenne diesen Ort!«
»Ist er gefährlich?«, fragte Iljan leise.
Cary wollte schon den Kopf schütteln – es gab wenige glücklichere Orte – doch dann erinnerte sie sich an ihre aktuelle Situation.
»Ich bin nicht ganz sicher. Sie haben bestimmt noch nichts von uns gehört, die Bewohner von Wipfelgarten leben abgeschieden. Aber sie schätzen Fremde nicht sehr, egal, wer sie sind. Sie waren einmal ein fröhliches Volk, aber der Krieg hat sie schwer getroffen. Sie haben viele ihrer jungen Männer verloren und sind wenig geworden.« Cary schluckte jetzt. »Es könnte sein, dass die Stadt vollkommen verlassen ist!«
»Bist du dir da sicher?«, fragte Iljan leise. »Für uns wäre das ein Glücksfall.«
Cary warf ihm einen schnellen Blick zu, aber irgendwie konnte sie Iljan nicht vorwerfen, dass er egoistisch wäre. Stattdessen sah sie nur, wie er sich Sorgen um ihre Gruppe machte.
»Ich kann mir nicht sicher sein«, entgegnete sie. »Beobachten wir das Dorf besser eine Weile.«
Iljan nickte. Cary schlug sich ein Stück weit in das Dickicht abseits der Straße und dann ließen sie sich hinter einer großen Pflanze nieder, zwischen deren fleischigen Blättern hindurch sie auf die Baumwipfelstadt sehen konnten.
Wie so oft in den Dschungeln, so fing es auch heute an zu regnen. Iljan und Cary mussten unter dem Strauch eng zusammenrücken, damit sie nicht nass wurden. Das Schweigen zwischen ihnen wurde durch den prasselnden Regen nur noch offensichtlicher.
»Wie … machen wir es eigentlich mit der Führung?«, fragte Iljan, um das Schweigen zu brechen. »Ich meine … hat irgendwer von uns größere Autorität als der andere?«
Cary zuckte mit den Schultern. »Darüber habe ich nicht nachgedacht. Hm. Bei den Wächtern war es meist so, dass es einen Anführer gab und etwa drei Hauptmänner – mal mehr, mal weniger, immerhin herrscht Krieg. Die Hauptmänner sprechen für ihre jeweilige Kompanie, der Anführer trifft Entscheidungen für das ganze Heer. Aber wir sind zu wenige, wir sind ja kaum eine Mannschaft, geschweige denn eine Kompanie oder ein Heer.« Sie sah zu Iljan auf. »Ich denke, wir sprechen uns einfach ab, wenn wir eine Entscheidung zu treffen habe.«
Iljan nickte und ließ den Blick wieder nach vorne schweifen. Und schon war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen! Er wünschte, sie könnten weiter reden. Er wollte so vieles von Cary und von dem Land der Sonne wissen. Aber er wagte nicht, zu fragen, denn das würde sicherlich wie ein Verhör wirken.
»Wie macht ihr es im Schattenland?«, fragte Cary plötzlich.
»Was?«, fragte Iljan erschrocken.
»Na, die Heeresführung«, Cary musste schmunzeln, eine ungewöhnliche Regung. Ihr Gesicht wirkte mit einem Mal sehr viel weicher.
»Nun, so ähnlich wie ihr, denke ich«, murmelte Iljan. »Ich kenne nur die politische Kriegsführung, um ehrlich zu sein. Die Königin macht die Gesetze und ihre Berater sorgen dafür, dass diese Gesetze durchgebracht werden. Deswegen gibt es die Armee, für die der Kriegsberater zuständig ist, und das war Merkanto. Mein Vater war für die Spione zuständig und hat darauf geachtet, dass im Schattenland ein Mindestmaß an Ordnung herrscht.«
Er seufzte und zog die Knie enger an die Brust. »Ich sollte seine zweite Hand und schließlich sein Berater werden. Er hat mich in einige seiner Fälle eingeführt, und es ist schrecklich. Er verfolgt jene Schattenwesen, die gegen unsere Gesetze verstoßen – Gnade zeigen, Geheimnisse ausplaudern oder schlecht über die Königin reden. Es gab einige, die von den traditionellen Wegen abgewichen sind. Jackie zum Beispiel, die versucht hat, niemanden zu verletzen. Ich glaube, diese Arbeit ist der Grund dafür, dass ich eine Mission wie die unsere überhaupt für möglich gehalten habe – dass ich überhaupt begonnen habe, darüber nachzudenken, dass es anders gehen könnte.«
Er warf Cary einen schnellen Blick zu und stellte fest, dass sie ihm aufmerksam lauschte.
»Das muss furchtbar gewesen sein«, sagte sie schließlich leise.
»Ich kann froh sein. Ohne diese Arbeit wäre ich niemals losgezogen. Ohne sie wäre ich nicht, wer ich heute bin. Ohne sie wäre ich nicht hier. Ohne sie –«, Iljan bremste sich gerade noch rechtzeitig ab, bevor er etwas Dummes sagte.
Cary sah ihn nachdenklich an. »Wenn ich deinen Vater jemals treffe, werde ich ihm danken müssen. Er hat nicht nur dir die Augen geöffnet, sondern auch mir. Und außerdem hat er mir das wohl spannendste Abenteuer meines Lebens beschert.«
Iljan grinste Cary an. »Stimmt, darin war er schon immer gut!« Dann wurde er plötzlich ernst: »So unwahrscheinlich das sein mag, falls du jemals in die Situation kommst, dass du meinem Vater begegnest – geh nicht davon aus, dass er wie ich ist. Du solltest Angst vor ihm haben.«
Cary warf ihm einen Blick zu. »Das klingt nicht gerade wie eine schöne Vater-Sohn-Beziehung.«
»Nein«, sagte Iljan, dann seufzte er. »Mein Vater ist ein Monster. Er quält andere zum Spaß. Er kennt weder Mitleid noch irgendeine andere Emotion. Er ist manipulativ, er benutzt andere Wesen, die tatsächlich fühlen können. Für ihn zählt nur sein Ruf und seine Stellung als Berater der Königin.«
Cary schwieg und Iljan sah auf seine Hände, verfolgte die Regentropfen, die über seine weiße Haut liefen. Er kam sich dumm vor, dass er Cary gegenüber mit seiner Lebensgeschichte herausgeplatzt war.
»Mit meinen Eltern war es auch nicht immer einfach«, sagte Cary plötzlich. Sie lachte trocken. »Wahrscheinlich kein Vergleich zu deinem Vater – sie haben mich beide sehr geliebt und wollten nur das beste für mich. Als ich sagte, dass ich eine Wächterin werden wollte, haben sie versucht, mich mit allen Mitteln zu hindern.« Ein Schatten huschte über ihr schönes Gesicht, das Echo eines lang vergangenen Schmerzes. »Nun, auch aus bester Absicht kann schlimmes entstehen. Ich bin schließlich trotzdem zu den Wächtern gegangen und ich war gut! Als ich zur Anführerin wurde, dachte ich mich am Ziel all meiner Träume.« Jetzt sah sie Iljan in die Augen. »Wie sehr man sich täuschen kann, was? Plötzlich stellt sich alles, woran ich glaubte, als eine Lüge oder zu mindestens sehr wackelige Wahrheit heraus.«
»Ich weiß, was du meinst«, Iljan lächelte schief. Cary hatte ihn nicht für dumm gehalten, ganz im Gegenteil hatte sie seine Offenheit mit gleicher Münze vergolten.
»Seltsame Geschichte«, murmelte Cary. »Aber wenn man einmal darinnen ist, will man auch wissen, wie es ausgeht.«
»Hoffentlich gut«, meinte Iljan. »Immerhin ist es meine Geschichte.«
Die Zurückgelassenen taten ihr bestes, um sich die Zeit zu vertreiben, bis ihre Anführer zurückkehrten. Sie lagerten nahe dem Platz, wo die Bäume abgeholzt worden waren, und wussten nicht, welches Schicksal Iljan und Cary ereilt haben mochte.
Jackie war unruhig und machte sich Sorgen, die wuchsen, je länger Iljan fort blieb. Er konnte gefangen genommen oder tot sein, und sie würde es nicht wissen, nicht, bis noch viel mehr Zeit verstrichen war.
Sie behielt jetzt ihre menschliche Form bei, obwohl ihre Sinne in dieser Gestalt weniger scharf waren. Doch sie brauchte einen klaren Kopf, um ihre Sorgen zu vertreiben – jedenfalls hoffte sie, das so zu erreichen. In menschlicher Form waren ihre Gedankengänge geordneter und weniger instinktiv. Der Drang, in den Wald hinaus zu laufen und Iljan zu suchen, wurde trotzdem immer stärker.
Jackie war ziemlich überrascht, als Gudrun zu ihr herüber geschlendert kam und sich – zwei dampfende Holztassen in der Hand – in ihrer unmittelbaren Nähe auf den Boden fallen ließ. Dann streckte die Hexe einen Arm aus und hielt Jackie eines der Getränke hin.
»Was ist das?«, fragte Jackie misstrauisch.
»Tee. Melisse. Beruhigt die Nerven«, antwortete Gudrun. »Es wächst Melisse im Dschungel und ich konnte nicht widerstehen, einen Tee daraus zu machen. Früher habe ich Melissentee geliebt, aber im Schattenland wächst es nicht.«
Jackies Misstrauen war nicht gemindert, trotzdem nahm sie die hölzerne Tasse an und schnupperte an dem Tee. Er roch insbesondere nach Hitze, doch darunter lag eine Geruchsnote von hölzerner Wärme, dunkel und aromatisch. Schon allein der Duft schien über ihre Atemwege direkt in ihren Körper zu dringen und ihren Herzschlag zu verlangsamen.
Vorsichtig nahm sie einen Schluck. »Schmeckt gut.«
»Du klingst überrascht«, spottete Gudrun. »Ich kann nicht nur Gift und Krötenschleim, weißt du? Das hier ist ein Lichtland-Tee, echte, weiße Magie.«
Jackie hätte die Tasse um ein Haar von sich geschleudert: »Du verhext mich?!«
»Ja, wenn du es als Zauber ansiehst, dass ich die natürliche Kraft der Pflanze nutze, um dir ein wenig Entspannung zu verschaffen.« Die Gudrun, die Jackie kannte, hätte eingeschnappt reagiert, doch diese Gudrun wirkte belustigt. Und ja – ein wenig beleidigt.
Jackie trank vorsichtig einen weiteren Schluck. Das Getränk schuf Wärme, die sich langsam durch ihren Körper ausbreitete und die Kälte und Trostlosigkeit des letzten Regenfalls verdrängte.
»Danke«, sagte sie schließlich.
Gudrun nickte, lächelte und trank aus ihrer Tasse. Ihre Aufmerksamkeit war bereits woanders, sie beobachtete einen Strauch, dessen Blätter von der Bewegung eines kleinen Tieres raschelten.
Jackie trank einen weiteren Schluck. Der Dschungel, ein Ort voller Räuber und Beute, rührte an ihrer Wolfsnatur. Ein weiterer Grund, in menschlicher Haut zu verweilen.
Cary und Iljan saßen noch eine Weile in ihrem Versteck, selbst nachdem der Regen nachgelassen hatte. Sie sprachen über dieses und jenes und Cary musste zugeben, dass die meisten von Iljans Geschichten sie überraschten. Sie waren weit gewandert, hatten Seite an Seite gekämpft, aber trotzdem wussten sie kaum etwas voneinander. Caryellê merkte, dass sie neugierig wurde. Was das Leben jenseits der Grenze wirklich so furchtbar, wie alle sagten? Iljans Geschichten erzählten viel von Morden und Dunkelheit, doch es gab auch Lichtblicke wie seine Freundschaft mit Jackie. Offensichtlich war weder das Weiß so rein, wie sie gedacht hatte, noch das Schwarz so dunkel.
Als die Sonne schließlich unterging und lange, bläuliche Schatten sich unter den Bäumen breit machten, stand Cary schließlich auf.
»Ich denke, wir können zu den anderen zurückkehren«, stellte sie fest, während sie ihre Beine ausschüttelte. »Das Dorf muss verlassen sein, aber vielleicht können wir dort ein paar vergessene Dinge auflesen, die niemand vermisst.«
Iljan erhob sich ebenfalls, doch noch bevor er antworten konnte, erklang eine ihnen unbekannte Stimme.
»Ein sehr nobler Plan, könnte man meinen. Nur an eurer Wachsamkeit hapert es ein wenig. Nun dreht euch um, ihr kleinen Wesen, und lasst euch ansehen.«
Im Zeitlupentempo befolgten Iljan und Cary den Befehl.
Sie waren nicht allein.