https://www.deviantart.com/ifritnox/art/735756474
(Linguistisches Angemerke für alle, die sich dafür interessieren: „Quyhst“ spricht man „Quiehüst“, wobei das „ü“ kaum hörbar ist. Das /y/ wird wie ein langes „i“ ausgesprochen, wie übrigens auch alle anderen /y/ auf der hellen Seite der Grenze – im Schattenland wird ein /y/ „ü“ ausgesprochen. Weswegen es beispielsweise „Jackie“ heißt, wobei es durchaus möglich ist, dass sie „Jacky“ geschrieben wurde, bevor sie von den Werwölfen verschleppt und verwandelt wurde.)
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Die Himmelsdrachen stürzten ab.
Welche Magie die flügellosen Drachen auch immer in der Luft gehalten hatte, nachdem Mirkanish verwundet worden war, hatte sie versagt. Mit ihren relativ kurzen Beinen ruderten die weißen Drachen hilflos im Nichts, konnten mal ein wenig Aufschub gewinnen, dann sackten sie wieder ab.
Terziel wusste nur zu genau, dass jeder Rettungsversuch hoffnungslos war. Die Drachen konnten ihren Sturzflug nicht wieder stabilisieren. Unweigerlich kam der Erdboden immer näher. Terziel spannte die Flügel an – entfalten konnte er sie nicht, da Sephrith sie fest umklammert hielt – und spähte nach unten. Sein Herz raste. Als Engel hatte Terziel sich niemals vor Höhen gefürchtet. Doch das sah ganz anders aus, wenn man nicht selber fliegen konnte und auf Gedeih und Verderb dem Geschick eines Anderen ausgeliefert war.
Wieder stürzte Sephrith durch ein Luftloch. Terziels Magen schlug einen nervösen Salto. Sie waren jetzt dicht über den Baumkronen des Dschungels und Terziel versuchte, einen geeigneten Landeplatz auszumachen. Sie waren viel zu schnell unterwegs und die Drachen tobten und kämpften mit dem Wind, aber immerhin bemerkte Terziel, dass die Bäume weiter voneinander entfernt standen und dass sich in den großen Lücken zwischen ihnen andere, seltsame und bunte Gewächse breit gemacht hatten.
Wieder ging ein Ruck durch die Drachin. Während sie weiter vorwärts schossen, konnte Terziel eindrucksvoll beobachten, wie die Bäume unter ihnen zurückwichen und anderen, größeren Gewächsen Platz machten: Riesige Pilze wuchsen überall aus dem Boden, manche groß genug, um Häuser zu beherbergen, andere so groß wie Pferde oder noch kleiner – diese waren allerdings im Moment kaum zu erkennen. Die Morgensonne zeigte Terziel unzählige Farben, Formen und Muster, verschwommen durch den schnellen Flug der Drachen.
Sephrith sackte nochmals nach unten. Najaxis stieß einen gellenden Schrei aus – bis eben war der Inkubus überraschend leise verblieben – dann öffnete sich die Klaue, die Terziel hielt und er fiel.
Im Fallen öffnete er die Flügel. Er hörte verschiedene Schreie, als auch die anderen stürzten. Er hörte das Krachen, mit dem riesige Bäume in sich zusammenstürzten und ein schmerzerfülltes Brüllen von einem der Drachen.
Dann schlug Terziel hart auf den Boden auf und Schwärze umfing ihn.
Pochende Kopfschmerzen. Ein schrilles Klingeln in den Ohren. Das Gefühl, als ob eine Herde Okapis auf seinem Bauch einen Stepptanz aufgeführt hatten.
Najaxis drehte sich stöhnend auf die Seite und spuckte Erde aus. Er schüttelte den Kopf, um Schwindel, Pochen und Klingeln zu vertreiben. Doch die Welt drehte sich nur noch stärker. Er ließ sich zurück auf den Bauch fallen und atmete, die Ellbogen gegen den Boden gestemmt, einfach nur die Luft ein.
»Steh auf!«
Die Luft schmecke metallisch – vielleicht war es auch das Blut in seinem Mund. Najaxis würgte. Warum fühlte er sich, als ob er einen Kater hatte? Er war doch nur gefallen.
»Najaxis, steh auf!«
Hände packten seinen Oberarm, dann wurde er nach hinten gezogen. Er stöhnte und wedelte mit den Händen. Mehr konnte er nicht tun. Sein Körper gehorchte ihm nicht.
Jemand – wer auch immer – hakte seine Arme unter Najaxis' Ellbeugen hindurch und zerrte ihn nach hinten. Seine Füße schleiften über den Boden, der grau war, hier mit einem Stich ins Grüne, dort mit einem Schimmer von Lila oder Rot oder Blau.
Man ließ ihn auf den Boden fallen. Über sich sah Najaxis blauen Himmel. Dann beugte sich ein Gesicht über ihn, ein schmales, helles Gesicht, umrahmt von blonden Locken.
»Terziel!«
»Geht es dir gut?«, fragte der Engel.
Najaxis richtete sich vorsichtig auf die Ellbogen auf. Kein Schwindel. Und nur geringe Schmerzen. »Schon viel besser.«
»Ich glaube, du bist in Giftpilzen gelandet«, erklärte Terziel und streckte Najaxis eine Hand entgegen, damit der Inkubus aufstehen konnte. »Du bist nicht verletzt, oder?«
Najaxis sah an sich herunter. Er entdeckte ein paar Schrammen, die ihn unter anderen Umständen sehr stören würden. »Nein.«
»Gut. Suchen wir die anderen.«
Als er Terziel folgte, erkannte Najaxis, dass sie sich in einer Schneise der Verwüstung befanden. Holzsplitter, Baumstämme und zerstörte Pilze zeichneten eine schnurgerade Linie, die am Rand des Dschungels in den Baumwipfeln begann – wo nur einzelne Äste abgebrochen waren – und irgendwo außer Sicht im Pilzland endete. Dort mussten die Drachen niedergegangen sein. Außer Terziel und dem noch taumelnden Najaxis war nur Iljan zu sehen. Doch der Vampir saß teilnahmslos in der Schneise, offenbar dort, wo er gelandet war, und reagierte nicht auf ihre Rufe.
»Ich glaube, wir geben ihm besser einen Moment Zeit«, meinte Terziel.
Najaxis schluckte. »Ach ja. Caryellê.«
Terziel nickte und geleitete den Inkubus sanft fort von Iljan.
Sie gingen in Richtung Dschungel, vorbei an einigen großen Bäumen, die wie Streichhölzer umgeknickt waren.
»Ich möchte nicht einmal raten, wie viele Jahre diese Bäume gewachsen sind, nur um in einem einzigen Augenblick zerstört zu werden«, murmelte Terziel betrübt.
Najaxis ließ seinen Blick über die Zerstörung wandern. Über das Alter der Pflanzen hatte er sich keine Gedanken gemacht – dazu brauchte es wohl ein gutes Wesen, das den Blick von der eigenen Tragödie abwenden und an andere denken konnte.
Etwas fing Najas Blick ein: »Terziel! Da drüben!«
Sie hatten Abarax gefunden.
Als Terziel, mit einer zusammengerollten Jackie auf dem Arm, aus dem Wald trat, eilte Abarax ihnen entgegen. Terziel strauchelte, Abarax überwand die letzten Meter und fing sowohl Jackie als auch Terziel auf.
»Sie ist bewusstlos«, berichtete der Engel und rieb sich müde die Augen.
»Schön. Ich kümmere mich um sie. Du machst jetzt erst einmal eine Pause!«, ordnete Abarax an. Er nahm Jackie auf und überprüfte ihre Atmung und ihren Herzschlag. Beides war normal, doch sie hatte eine Platzwunde am Kopf.
Abarax trug Jackie zurück bis zu dem kleinen Lager, das sie unter einem großen Pilz mit fächerartigem, braunen Schirm aufgeschlagen hatten, etwa einen Steinwurf weit entfernt von Iljan, der mit dem Rücken zu ihnen auf dem Boden saß und sie ignorierte.
Abarax setzte Jackie ab und wischte ihr vorsichtig das getrocknete Blut von der Stirn. Wenig später schlug die Werwölfin bereits die Augen auf.
»Hallo Jackie«, sagte Abarax. »Wie geht es dir? Irgendwelche Schmerzen?«
Jackie schüttelte nach kurzem Zögern den Kopf.
Najaxis drängte sich an Abarax' Seite und fuchtelte Jackie mit einer Hand vor dem Gesicht herum: »Wie viele Finger zeige ich?«
»Vier«, antwortete Jackie und richtete sich auf. »Wieso lebst du noch?«
»Wir leben alle noch«, antwortete Najaxis grinsend. Im nächsten Moment schwand die Fröhlichkeit aus seinem Gesicht. »Ich meine … alle haben den Sturz überlebt.«
»Die Drachen haben uns erst kurz über dem Boden abgeworfen«, sagte Abarax ruhig in die plötzliche Stille, die sich wie ein bodenloses Loch aufgetan hatte. Er stand mit einem leisen Ächzen auf.
Er warf einen Blick zu Iljan, doch falls der Vampir überhaupt etwas mitbekommen hatte, so ließ er nichts davon erkennen. Abarax seufzte. »Kommt. Ich schlage vor, dass wir uns in den Dschungel zurückziehen.«
Die anderen nickten und standen nacheinander auf. Abarax sah zu, wie der kleine Zug – Terziel, Jackie und Najaxis – zum Waldrand taumelte. Dann ging er zu dem Vampir herüber.
»Iljan. Kommst du?«
Der junge Vampir antwortete nicht, aber nach einer Weile stand er auf und trottete zu ihnen. Er sah Abarax nicht in die Augen, noch einem anderen von ihnen.
Schweigend wanderten sie in den Dschungel hinein. Abarax zwang die müde Gruppe, sich einen halbwegs geschützten Platz im Gestrüpp zu suchen. Während die anderen dann ihre Wunden pflegten, innere wie äußerliche, suchte sich Abarax einen Platz auf einem niedrigen Ast und übernahm schweigend die Wache.
Die Cereceri beschleunigten unerwartet ihren Schritt und hetzten plötzlich vorwärts, als ob ein gefräßiges Monster hinter ihnen her war. Merkanto warf erschreckt einen Blick zurück, doch er konnte nichts erkennen. Da wurden Iska auch schon wieder langsamer und blieb dann stehen. Merkanto drehte sich nach vorne und befand sich fast auf Augenhöhe mit Abarax, der erstaunt die roten Augen aufriss.
»Merkanto!«, der Nachtmahr sprang von einem Ast herunter und kam auf die Gruppe zu. Bevor er sie erreicht hatte, knurrte Jafis und wuchs dann in die Höhe, als sie innerhalb eines Augenblicks ihre menschliche Gestalt annahm.
»Wer bist du?«, fragte sie unfreundlich.
»Wer bist du?!«, gab Abarax zurück. Dann sah er Merkanto an. »Wer ist das?«
»Cereceri«, Merkanto ließ sich von Iskas Rücken gleiten, ging auf Abarax zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sie helfen uns.«
»Dann ist das also einer von deinen Freunden?«, fragte Jafis nicht sonderlich begeistert.
Merkanto nickte. Dann wandte er sich an Abarax: »Wo ist der Rest?«
»Die anderen sind im Gebüsch, nicht weit entfernt«, berichtete Abarax. Stella, mit Gudrun auf dem Rücken, trottete zu ihnen. »Bis auf Caryellê. Sie … ist gefallen.«
Merkanto schwieg. Er spürte, wie Stella erzitterte.
»Wie?«, fragte er dann.
»Sie hat einen der Drachen verletzt«, erklärte Abarax. »Das hat uns die Flucht ermöglicht.«
Stella senkte ohne jedes Geräusch den Kopf. Gudrun klopfte ihr tröstend gegen den Hals.
Jackie hob den Kopf, als sie ein fremdes Tier witterte. Mit beängstigender Zielstrebigkeit trottete ein kleiner Fuchs in ihr Lager. Das rote Tier zeigte keine Scheu, sondern setzte sich mitten in ihr Lager und sah die Kinder der Sonne freimütig an.
Jackie runzelte die Stirn. Die bernsteinfarbenen Augen des Tieres waren seltsam. Sie wirkten zu intelligent, um zu einem gewöhnlichen Fuchs zu gehören.
»Was … bist du?«, flüsterte sie halblaut.
Der Fuchs öffnete den Mund und hechelte amüsiert.
»Ein Cereceri«, antwortete eine wohlbekannte Stimme und Merkanto kam hinter einem Baumstamm hervor, dicht gefolgt von Abarax, Stella, Gudrun, einem Elch und zwei fremden Menschen – einer Frau mit kurzen, graubraunen Haaren und ein Mann mit schwarzer Haut und leuchtenden, gelb-grünen Haaren.
»Merkanto!«, rief Jackie begeistert und sprang auf, um den Magier zu umarmen.
Es folgte ein erfreutes Wiedersehen mit Gelächter und einigen Umarmungen. Selbst Gudrun wurde angelächelt.
Einzig Iljan blieb außen vor. Er saß außerhalb ihres kleinen Lagers, hatte ihnen den Rücken zugekehrt und starrte in den Himmel hinauf. Niemand störte ihn.
Jackie hatte ihre Wolfsform angenommen. Es war kurz vor Vollmond, was sie überrascht hatte. Im Sonnenland hatte sie mindestens eine Mondphase verloren, vom Vollmond hatte sie nichts mitbekommen. Das verwunderte sie. Entweder der Mond hatte im Sonnenland weniger Einfluss, oder der Werwolfsfluch wurde schwächer, je weiter man sich von der Grenze entfernte. Jetzt waren sie wieder zurück und Jackie war beunruhigt.
An ihrer Seite saß der kleine Fuchs, Korba. Obwohl der Cereceri nicht einmal menschliche Form angenommen hatte, schien er Jackie zu mögen. Sie hatte den Kleinen kurzerhand unter ihre Fittiche genommen. Cereceri hatten sie schon immer fasziniert, sie waren die Sonnenland-Version von Formwandlern wie Werwölfen. Im Gegensatz zu Jackie wurden Cereceri mit der Fähigkeit zur Wandlung geboren, wobei ihre Tierform vom Charakter des Cereceri abhing.
Merkanto beichtete der Gruppe eben die Bedingungen, unter denen die Cereceri zu ihrer Rettung gekommen waren.
»Tigerpfote?«, fragte Abarax. »Davon habe ich noch nie gehört.«
»Es ist offenbar ein Waldstück am Ende des Dschungels, das von oben wie eine Pfote aussieht«, erklärte Merkanto.
»Und die Comori? Werden sie uns freisprechen?«, fragte Najaxis nervös.
»Das weiß ich nicht«, sagte Merkanto und warf einen Blick zu Relabai, der allerdings schwieg.
»Immerhin haben sie uns gehen lassen«, fuhr der Zauberer fort. »Ich denke nicht, dass wir viel zu befürchten haben.«
»Wir haben uns doch wohl schon oft genug getäuscht!«, murmelte Najaxis. »Mir gefällt das nicht. Warum müssen wir uns vor irgendwem verantworten?«
»Weil wir im Sonnenland sind«, sagte Merkanto. »Es sind ihre Gesetze.«
Najaxis seufzte, setzte die Diskussion aber nicht fort. »Wann brechen wir auf?«
»Morgen«, sagte Merkanto. »Ihr müsst euch von euren Wunden erholen.«
Diese Entscheidung war, wie sie bald feststellen würden, ein Fehler.