https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430647
Der Wind kräuselte die Härchen der Farnpflanzen und strich wispernd durch das Moos. Es regnete, doch die Wolken zogen zu schnell über den Himmel, um mehr als ein paar verlorene Tropfen fallen zu lassen. Der Himmel war grau und stürmisch, das perfekte Wetter, wie Merkanto fand.
Die Cereceri trotteten unermüdlich vorwärts, wie schon seit Tagen. Inzwischen hatten sich die Kinder der Sonne daran gewöhnt, von früh morgens – noch ehe die Sonne aufgegangen war – bis spät in die Nacht zu wandern. Fast zwei Wochen waren sie nun schon unterwegs seit dem Kampf in Quyhst. Am Rand des Pfades, den sie gelaufen waren, lagen immer wieder Gepäckstücke, die sie aufgegeben hatten: Schwere Öltücher, da sie sich unweigerlich warmen Gebieten näherten, Leder- und Pelzkleidung, die im Sonnenland, aber insbesondere unter Cereceri zu missfälligen Blicken führte, sowie unzählige Erinnerungsstücke, die sich als zu schwer erwiesen hatten. Merkanto hatte ein besonders schönes Trinkhorn mit Goldbesatz besessen, das ausgehöhlte Horn eines Feuerdrachen. Doch es hieß, diese Zeit hinter sich zu lassen. Sie wollten ein neues Leben beginnen.
Ihr Gepäck war signifikant geschrumpft, nur Gudrun hielt sturrköpfig an ihren Trankzutaten fest. Immerhin näherte sich ihre Reise dem nächsten Ziel: Die Tigerpfote, wo sie das Urteil der Cereceri und Comori erwarteten.
Relabai und die anderen Tiermenschen hatten nicht wieder die Dschungelwege genutzt, die ihnen geholfen hatten, die weißen Drachen einzuholen. Stattdessen schlug sich die Gruppe durch dichtes Unterholz, alles, damit „die Wege sich erholen“ konnten. Jackie hatte die Theorie geäußert (als die Cereceri einmal nicht in Hörweite gewesen waren), dass die Dschungelwege eine eigene, völlig unbekannte Form der Magie waren. Merkanto unterstützte die These. Je länger er nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass sie rechtzeitig in Quyhst angelangt waren, um Iljan und die anderen zu retten. Falls sie wirklich eine Heimat im Sonnenland finden könnten, so würde er gerne versuchen, die Geheimpfade zu erforschen. Ein erfüllenderes Lebensziel, als Kriege zu führen.
»Das vorne ist es«, Relabai hatte sich zurückfallen lassen und in einen Menschen verwandelt. Merkanto beschleunigte seinen Schritt, bis er neben dem Veteranen ging. Im Laufe der Reise hatten sie festgestellt, dass sie in mehr als einer Schlacht auf dem gleichen Schlachtfeld gestanden hatten, nur auf unterschiedlichen Seiten. Durch Relabai hatte Merkanto einen beinahe vollständigen Bericht des Krieges aus der gegnerischen Perspektive erhalten. Er war nur froh, dass der mächtige Cereceri scheinbar allen Groll vergessen hatte.
Die Tigerpfote lag endlich vor ihnen: Die Dschungelbäume wichen zurück, als die Kinder der Sonne auf die Wiesen traten. Vor ihnen, vom Dschungel durch einen breiten Grasstreifen getrennt, lag ein kleines Wäldchen, ein Hain von verschiedenen exotischen Bäumen, die sich um einen gewaltigen Mammutbaum in ihrer Mitte gruppierten. Wachsam dank der Erfahrung von ihren ersten Tagen im Dschungel nahm Merkanto den großen Baum in der Mitte genau unter die Lupe, während sie sich der Tigerpfote näherten. Allerdings konnte er kein Zeichen dafür entdecken, dass der große Baum ein Comori war. Einige der kleineren Bäumchen wirkten jedoch verdächtig symmetrisch – das Gefährliche war, dass Comori, wenn sie ihre vielen Augen schlossen, genau wie jeder andere Baum aussehen konnten, sie besaßen nicht einmal menschliche Proportionen.
Der Weg zur Tigerpfote kostete sie etwa eine Stunde, denn obwohl die Weiden offen und glatt waren, konnte man die Entfernung schnell unterschätzen. Somit war es tiefste Nacht, als sich die Gruppe endlich in den Schutz der Bäume begab, unermüdlich flankiert von den wachsamen Cereceri.
»Schlaft«, sagte Relabai zu ihnen, nachdem sie eine Lichtung innerhalb des Hains erreicht hatten. »Wir werden die Weisen unseres Volkes versammeln. Morgen findet die Verhandlung statt.«
Müde, wie sie waren, wurden die Kinder der Sonne nicht einmal von dieser beunruhigenden Aussicht lange wachgehalten.
Der nächste Morgen dämmerte viel zu früh über den Blättern der Tigerpfote. Cary erwachte mit einem Schreckmoment, ohne dass sie sich an den Grund für den Schreck erinnern konnte. Sie stand auf und sah sich um, konnte aber keine Gefahr entdecken. Sie schob den Schreck auf die bevorstehende Verhandlung.
Ihr Körper fühlte sich zerschlagen an. Die Nachwirkungen ihres Sturzes waren inzwischen zwar vergessen, doch die vielen Nächte auf unebenem Boden forderten ihren Tribut. Cary streckte sich wie eine Katze und ging dann dazu über, einige simple Dehnübungen zu machen. Zu ihrer großen Freude hatte ihr Körper nichts von seiner Flexibilität verloren.
»Frühstückt etwas«, empfahl Relabai, als die ganze Gruppe wenig später zusammen saß. Die Cereceri bewachten sie immer noch unermüdlich und unsichtbar, aus Verstecken im Wald heraus. Nur Relabai hatte sich ihnen gezeigt, doch Cary zweifelte nicht daran, dass weitere Tiermenschen und Comori in der Nähe waren.
Ihr Frühstück bestand aus kragen Portionen von Früchten und einem weichen, sauren Brot. Niemand hatte besonders viel Hunger. Cary schlenderte zu Iljan herüber, der die Nahrung ganz ablehnte und sorgenvoll am Rand der kleinen Lichtung stand.
»Sie versammeln sich«, sagte er statt einer Begrüßung, als sie neben ihn trat. Nicht einmal aufgesehen hatte er.
»Kannst du sie sehen?«, wunderte sich Cary und spähte über Iljans Schulter ins Gebüsch.
»Nein, aber ich höre ihre Herzen«, gestand der Vampir. Er streckte den Arm zur Seite: »Der Versammlungsort liegt etwa fünf Gehminuten in dieser Richtung, ich glaube nicht, dass wir sie von hier aus sehen könnten.«
Cary zog die Augenbrauen zusammen. »Da müsste die Wiese bereits beginnen. Ich dachte, die Verhandlung findet hier statt.«
Iljan sah sie ratlos an und zuckte mit den Schultern.
»Hast du Angst?«, fragte Cary einfühlsam.
Iljan seufzte und nickte. »Während der ganzen Reise habe ich immer wieder darüber nachgedacht, dass wir fliehen könnten. Wir hatten nur vier Bewacher, wenn wir uns aufgeteilt hätten, wären wir vielleicht alle entkommen, auf jeden Fall aber ein großer Teil von uns. Dann wieder hatten wir in letzter Zeit viel zu viel Pech und wenn wir eine Flucht versucht hätten und gescheitert wären, hätte uns das schlecht dastehen lassen. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass die Cereceri uns gerecht behandeln werden.« Der Vampir seufzte. »Glaubst du, ich bin zu naiv?«
Cary ließ sich Zeit für ihre Antwort. »Du hättest mit mir reden sollen. Wir sind gemeinsam die Anführer, die Last solcher Entscheidungen sollten wir gemeinsam tragen. Ich habe nie daran gezweifelt, dass die Comori sich für eine richtige Anhörung einsetzen werden, in der wir alles erklären können. Mehr Sorgen macht mir das, was wir bereits getan haben. Wir haben gemordet, Iljan. Das wird man uns nicht einfach vergessen lassen.«
Iljan senkte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, ob ich das Richtige tue, Cary!«
»Shh, Iljuscha«, sagte Cary. »Damit darfst du nicht einmal anfangen. Deine Mission ist richtig. Sie werden verstehen, dass wir keine Wahl hatten.«
Ihre Worte reichten nicht, um sich selbst zu überzeugen, doch Cary konnte sehen, wie der Zweifel aus Iljans Gesicht wich. Er griff nach ihrer Hand und sie ließ zu, dass er sie fasste.
»Gehen wir.«
Am den Dschungeln abgelegenen Rand der Tigerpfote stellte sich heraus, dass der Wald nicht die einzige Bauminsel auf den Wiesen war. Vier kleinere Haine erhoben sich in regelmäßigem Abstand wie ein Bollwerk vor der Tigerpfote. Najaxis glaubte, endlich den Grund für den Namen der Baumgruppe erkennen zu können: Es gab einen großen Flecken und davor vier kleinere – wie der Pfotenabdruck einer gewaltigen, grünen Raubkatze.
Zwischen den beiden mittleren Baumgruppen und dem Hauptwäldchen der Tigerpfote war das Gras niedergetrampelt worden, bis es schließlich brauner Erde Platz gemacht hatte. Ein runder Platz war entstanden, an dessen Rand unzählige Menschen hockten – Cereceri, nahm Najaxis an, obwohl er das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Relabai und Jafis, die als einzige bei den Kindern der Sonne geblieben waren, führten sie zum Rand des großen Sitzkreises. In der Mitte befand sich ein Rund aus großen Steinen, in dem Feuerholz aufgeschichtet worden war. Offenbar ging man davon aus, dass die Verhandlungen bis in die Nacht dauern konnten.
Die Kinder der Sonne ließen sich in dem ihnen zugedachten Teil des Kreises nieder. Lautlos bewegten sich große Bäume über die Wiese, um sich der Versammlung anzuschließen.
Die Cereceri machten einem großen Mammutbaum-Comori Platz. Das Baumwesen glitt auf seinen Wurzelfüßen in die Mitte des Kreises.
Dann … kehrte Stille ein. Alle Augen ruhten auf dem Baum. Najaxis kaute auf seiner Unterlippe.
Dann raschelten die Blätter des Baumes in einem Windzug, den sonst niemand spüren konnte, und unzählige Astlöcher klafften auf, um die Augen des Comori zu offenbaren – doch diese waren weiß wie ein Vollmond: Das Baumwesen war blind.
»Wie schön, dass alle gekommen sind«, eröffnete der Baum die Sitzung. »Wir haben uns hier versammelt, um über das Schicksal einer Gruppe dunkler Wesen und abtrünniger Wächter zu entscheiden.«
Aggressives Zischen und Fauchen war im Kreis der Cereceri zu vernehmen. Najaxis' Mut sank.
»Nicht so hastig!«, warnte der blinde Comori. »Meine Brüder in Wipfelgarten haben bereits die Bekanntschaft dieser Gruppe gemacht. Wenig später ließen sie die Gruppe sogar frei, um einen eigenen Kampf auszutragen. Vier aus eurer Mitte, verehrte Cereceri, haben sie bis nach Quyhst und zurück begleitet, und heute sind sie hier, um ihr gerechtes Urteil zu empfangen. So hört zuerst die ganze Geschichte, die selbst mir noch nicht bekannt ist. Dann erst werden wir entscheiden.«
Die anschließenden Verhandlungen waren noch länger, als Najaxis befürchtet hatte. Zuerst schilderte der blinde Comori in beunruhigender Menge von Einzelheiten, wie die Kinder der Sonne in Wipfelgarten angekommen waren. Er erzählte es aus der Sicht von Ajandorr, und zwar, als wäre er selbst dabei gewesen.
Dann wurden die Kinder der Sonne nacheinander aufgerufen und befragt. Es begann mit Iljan und Cary, die als Anführer galten, dann Merkanto, schließlich der Rest. Gudrun verweigerte als Einzige eine Aussage, mit dem Hinweis, dass sie nicht wirklich zu der Gruppe gehörte.
»Was sollen wir denn machen?«, fragte Jackie nervös, als sie sich in Vorbereitung auf die Befragung abseits der Versammlung trafen. Sie sollten getrennt werden, damit niemand die Aussagen der anderen belauschen konnte.
»Erzählt die Wahrheit«, befahl Cary ruhig. »Die ganze Wahrheit.«
Sie bekamen keine feste Reihenfolge zugeordnet. Najaxis saß in einem der Ballenhaine, die kleinen Wäldchen, die die Zehen der Tigerpfote bildeten, und wartete. Es war zermürbend. Der Tag verstrich, ohne dass er wusste, was bei der Versammlung vor sich ging. Ein stummer Junge mit goldbraunem Haar bewachte ihn, sprach aber kein Wort mit Najaxis. Der Inkubus rechnete jeden Moment damit, dass man ihn abholte, aber nichts geschah. Als es Abend wurde, brachte man ihm Essen und eine Decke – die ganze Nacht konnte Najaxis kaum schlafen und so war er, als er am Mittag des nächsten Tages endlich aufgerufen wurde, mit den Nerven am Ende.
Sein Bewacher trat zu Najaxis: »Es ist so weit.«
Der Inkubus folgte dem schweigsamen Cereceri über die Wiesen und zur Versammlung. Das Feuer in der Mitte war abgebrannt, aber es lag bereits neues Holz bereits.
»Wie viele waren schon dran?«, fragte Najaxis. »Bin ich der letzte?«
Sein Bewacher schwieg und führte ihn in die Mitte des Rings.
»Du bist Najaxis?«, fragte der blinde Comori.
»Ja«, Najaxis krächzte vor Angst.
»Und wieso hast du dich der Gruppe angeschlossen?«
Najaxis' Blick huschte zu Iljan. Der Vampir, Cary, Merkanto, Stella und Gudrun saßen am Rand des Ringes. Offenbar war die Verhandlung noch lange nicht zu Ende.
»Ich habe an Iljans Traum geglaubt«, sagte Najaxis aus.
»Und der wäre?«
»Dass … dass wir im Sonnenland eine neue Heimat finden könnten. Eine bessere Heimat. Dass wir überwinden können, als was wir geboren wurden.«
»Und wie habt ihr versucht, dieses Ziel zu erreichen?«
Wahrheitsgetreu erzählte Najaxis dem Baumwesen alles, was er in Begleitung Iljans erlebt hatte. Noch während er von den Kämpfen und den Opfern erzählte, las er in den blassen Gesichtern der Cereceri, als welche Monster sie dastehen mussten. Er erzählte von der Gefangennahme der drei weißen Wächter, von Quellheim, Fluchtversuchen, den Zwergenminen. Von dem Überfall auf die Elbenhändler und dem Alptraum, der Crisayn gewesen war – seine Beine zitterten bei der Erinnerung an den verzweifelten Befreiungsversuch von Abarax und ihm.
Er erzählte auch von der Hilfe, die ihnen durch die Mondhörner zugetragen worden war, doch in den Gesichtern der Cereceri konnte er lesen, dass sie ihm kein Wort glaubten. Dann erzählte er von Nejakai und ihrer kleinen Gruppe, der Flucht nach Wipfelgarten, dem Kampf an der Grenze zu Quyhst.
Wieder und wieder wurde er durch Zwischenfragen gestört. Der Comori wollte jedes noch so unwichtige Detail erfahren.
»Vielen Dank«, sagte der blinde Comori, als Jackie fertig war.
Auf schwachen Beinen ging sie zu Iljan und dem Rest ihrer Gruppe. Alle anderen saßen schon dort am Rand der Versammlung, offenbar war Jackie die letzte. Die Augen ihrer Freunde folgten ihr und hatten auch jedes Wort der Verhandlung verfolgt, aber sie sagten kein Wort. Offenbar war ihnen verboten worden, zu sprechen.
Jackie setzte sich zu ihnen und fröstelte. Sie wünschte sich, sie könnte die Worte zurücknehmen, die sie gesagt hatte. Jedes einzelne hatte schwerer und schwerer gewogen. Sie hatte gespürt, dass die Cereceri ihr nicht glaubten. Nur das Morden und Töten, das glaubten sie allzu gerne.
Sobald Jackie saß, kam Tumult auf. Die Cereceri schrien durcheinander, nur einige wütende Worte drangen durch den Lärm durch:
»Wieso habt ihr sie nicht längst getötet?!«
»… sind Monster, das sieht man doch!«
»Sie sollen dahin zurück gehen, wo sie herkommen!«
»Unverantwortlich, sowas frei durch unser Land laufen …«
»Lügner! Alles Lügen! Solche ändern sich nie!«
Jackie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen Merkantos Schulter. Schweigend legte der Magier einen Arm um sie.
Die Kinder der Sonne machten keine Anstalten, sich zu verteidigen, als die wütenden Cereceri aufsprangen und die Ersten Anstalten machten, auf die Gruppe zu zu stürmen, sicherlich nichts Gutes im Sinn.
Sie saßen im Gras, regungslos, besiegt.
»Ruhe!«, donnerte der blinde Comori und tatsächlich trat Stille ein. Respektvoll kehrten die Cereceri an ihre Plätze zurück. Der dritte Abend der Verhandlung zog über den Himmel, Sterne glitzerten und Grillen zirpten.
»Wir haben die Geschichte dieser Gruppe gehört«, verkündete der blinde Comori. »Nun kann eine Entscheidung gefällt werden.«
Bleierne Schwere senkte sich auf Jackies Glieder. Vorbei. Es war vorbei.
Doch der Comori schwieg und kroch stattdessen auf seinen Wurzelfüßen zum Rand des großen Sitzkreises. Das Feuer in der Mitte prasselte und knackte.
»Die Königin der Cereceri wird das Urteil nun verkünden«, teilte der Comori ihnen mit.
Die Augen aller Cereceri glitten zu den Kindern der Sonne, nein, ein Stück weiter. An Jafis blieben die Blicke hängen. Die Nebelparder-Cereceri stand auf und trat mit weichen Schritten in die Mitte des Kreises.