https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430775
Terziel wandte dem Geschehen in der Zelle nebenan den Rücken zu und tastete mit seinen gefesselten Händen hinter sich über den Boden. Schließlich stießen seine Finger auf kühles Metall: Der Schlüssel. Terziel ließ ihn liegen und tastete weiter, bis er den harten Griff des Dolches fand.
Und jetzt?, fragte er sich. Wie sollte er die Fesseln um seine Flügel und Hände lösen?
»Terziel!«, flüsterte Merkanto. »Hier drüben!«
Der Engel seufzte und drehte sich ungeschickt auf dem Boden. Seine Füße waren ebenfalls zusammengebunden, und so musste er würdelos über den Boden rutschen, gefesselte Hände und Messer voraus. Mit der Hacke des einen Fußes schob er den Schlüssel hinterdrein.
Als er am Gitter angelangte, hatte er sich aller Wahrscheinlichkeit nach die Robe am Hintern aufgescheuert.
Merkanto erwartete ihn mit dem Rücken zum Gitter. Die Hände des Magiers nahmen die Waffe entgegen. Während Merkanto sich abmühte, Terziels Fesseln zu durchschneiden, bekam der Engel aus dem Augenwinkel das Geschehen in der Nachbarzelle mit. Die Geräusche würde er am liebsten ausblenden. Kannten die Elfen denn keine Scham? Aber immerhin war er überzeugt, dass die Wache vollständig abgelenkt war.
Die schwieligen Finger des Magiers kratzten über seine Handgelenke. Terziel fragte sich ein weiteres Mal, wie er eigentlich hier gelandet war. Was für eine absonderliche Situation, Rücken an Rücken mit einem dunklen Mager darauf zu warten, dass dieser seine Fesseln löste. Hätte man ihm vor einem Jahr gesagt, dass er hier langen würde, er hätte es nicht geglaubt. Dann ließ der Druck der Seile plötzlich nach.
»Endlich!«, stöhnte Merkanto.
Terziel befreite seine Hände und half Merkanto, auch die Seile um seine Flügel und Arme zu lösen. Dann nahm er den Dolch nach vorne und schnitt seine Füße frei.
Ein schneller Blick in die Nachbarzelle zeigte, dass ihnen noch Zeit blieb. Terziel durchtrennte die Seile um Merkantos Arme und holte sich dann den Schlüsselbund, der in der Mitte des Zelle lag. Er hoffte, dass die Wache nicht sehen würde, wie er durch die Zelle spazierte. Doch Cary war eine meisterhafte Ablenkung.
Als Terziel wieder bei Merkanto ankam, trug der Magier nur noch die großen Bleifesseln, die seine Blitzmacht im Zaum hielten. Terziel durchsuchte den Schlüsselbund nach einem passenden Schlüssel und befreite Merkanto.
»Schließ' die Zellen auf«, wies Merkanto ihn flüsternd an. »Dann suchst du nach unseren Waffen, wir werden sie brauchen.«
Terziel nickte. Die Zellentür quietschte ganz sacht, als er sie öffnete. Er erstarrte und sah zu Cary herüber, die ihm einen alarmierten Blick zuwarf und dann die Wache herum warf, ehe diese das Geräusch hören und verarbeiten konnte.
»Sie hätte ihn auch einfach umbringen können«, murmelte Terziel leise. Er war wohl schon zu lange mit der Gruppe unterwegs.
Die meisten anderen hatten sich leise zu ihren Türen begeben und warteten ungeduldig, bis Terziel die Türen öffnete. Statt der Reihe nach zu gehen, lief Terziel zuerst zu Abarax. Sein Bruder lag in einem Kreis von Bannkräutern, den er nicht aus eigener Kraft verlassen konnte. Terziel öffnete die Tür und trat die Kräuter zusammen, dann schleifte er Abarax aus der Zelle.
»Geht es dir gut?« Sein Bruder konnte nicht aufstehen, dazu war er zu stark gefesselt.
»Immer doch«, Abarax lächelte schwach und Terziel ließ ihn beruhigt liegen, um die anderen zu befreien. Da Cary immer noch indisponiert und Iljan durch den Einfluss des Kreuz völlig entkräftet war, nahm Abarax die Schlüssel von Terziel entgegen. Der Engel warf einen letzten Blick zu Merkanto, der anhub, jeden von seinen Fesseln zu befreien, dann schlich er nach oben.
Die schmale Holztreppe führte ihn in einen kurzen, aber breiten Lagerraum, dessen schwere Tür anscheinend nicht verschlossen war. Von hinter dem Holz hörte Terziel Stimmen, weswegen er nicht wagte, die Tür zu öffnen. Doch durch einige Luken fiel etwas Licht in diesen oberen Raum. Es war gedämpftes Licht, das letzte Tageslicht.
Zu Terziels unendlicher Erleichterung fand er ihre Waffen in einer großen, unverschlossenen Truhe, in altes Segeltuch eingepackt für den Transport. Zuallererst schnallte er sich sein Schwert um, dann trug er so viel nach unten, wie er nur tragen konnte: Carys Dolch und Bogen, Iljans Degen, dazu ein paar Entermesser, die ihren Wachen gehören mussten.
»Wo ist mein Beutel?«, fragte Gudrun, als er wieder unten war.
»Hab ich nicht gesehen«, flüsterte Terziel. Inzwischen waren so gut wie alle unterwegs und sie mussten sich alle Mühe geben, leise zu bleiben. Merkanto beugte sich eben mit dem Schlüssel über Jackies Silberfesseln, Gudrun versuchte, Stellas Trense zu lösen und der Rest trachtete danach, das Kreuz lautlos von der Decke zu hebeln.
»Mit etwas Säure würde das alles schneller gehen«, flüsterte Gudrun, die die Trense kritisch musterte.
Terziel reichte ihr ein Entermesser: »Versuchs damit.«
In diesem Moment ertönte ein Ruf aus Carys Zelle: »Was zur Hölle?!«
Die Kinder der Sonne wirbelten herum, gerade erhob sich der Elf höchst würdelos aus dem Haufen verschlungener Gliedmaßen. Cary folgte ihm auf den Fuß, schlang einen Arm um seinen Hals und presste ihm die andere Hand auf den Mund. Der Elf, größer und stärker als sie, begann zu kämpfen. Carys einziges Glück war, dass die Wache so überrumpelt war.
»Öffnet die Tür!«, bellte Merkanto. Abarax sprang vor, er trug immer noch die Schlüssel. Terziel eilte seinem Bruder hinterher.
Abarax donnerte mit der Schulter gegen das Gitter und suchte nach dem passenden Schlüssel.
»Schneller!«, rief Cary.
Ein Schlüssel glitt ins Schloss, Abarax drehte ihn herum. Es klickte und die Tür sprang auf.
Doch der Elf hatte sich freigekämpft.
»Alarm! Alarm! Die Gefangenen fliehen!«, weiter kam er nicht, ehe Terziel ihm den Schwertknauf auf den Kopf schlug und der Elf bewusstlos zusammenbrach.
Am Deck über ihnen erklangen Schreie und das Trampeln vieler Füße.
Endlich glitt das Messer durch eine der wenigen Stellen, da die Silberketten der Trense mit Leder aneinander gebunden waren. Gudrun sprang zurück, als die Trense nach unten fiel und Stella stieg befreit auf die Hinterbeine.
Fast sofort konnte sie den Schatten rufen, endlich. Die Ketten hatten jede Magie unterdrückt, sie hatte den Schatten genauso wenig rufen könne, wie sie sich Flügel wachsen lassen konnte.
Nun sprang sie aus der Zelle, im Dunkeln vollkommen unsichtbar. Die anderen hörten nur das Geräusch ihrer Hufe auf dem Holz, als sie auf die Treppe zulief und nach oben sprang. Dort war ein kleiner Raum, dessen Tür gerade nach innen schlug, um einer Flut Bewaffneter Einlass zu gewähren.
Stella senkte das Horn und zielte auf die Schulter des Vordersten, ein stämmiger Zwerg. Für alle anderen sah es aus, als würde der Krieger plötzlich rückwärts gegen die Wand fliegen, erst sein Schmerzensschrei machte klar, dass etwas anderes vor sich ging. Stella wurde wieder sichtbar, kurz bevor sie das Horn nach hinten riss und den Zwerg freigab. Sie wirbelte herum und ihr Horn stieß ein Schwert aus der Luft, das auf ihren Hals gezielt hatte.
Der junge Druide, der den Streich geführt hatte, wich mit entsetztem Gesichtsausdruck vor Stella zurück. Sie schüttelte die Mähne und rief das Feuer zu sich. Flammen erhellten den kleinen Raum, bevor Stella durch die Türöffnung stürmte, hinaus in einen großen, mit Hängematten gefüllten Saal, auf eine weitere Treppe zu.
»Fangt es ein!«, befahl jemand hinter ihr. Zentauren, ein Pegasus und ein Greif nahmen die Verfolgung auf. Stella warf den Kopf in den Nacken und galoppierte in Richtung Seewind.
Die Tatsache, dass sie bereits mit ihren Waffen ausgerüstet waren, verlieh den Kindern der Sonne einen widernatürlich anmutenden Vorsprung. Während Iljan an der Spitze seiner Gruppe voran stürmte, empfand er Mitleid mit ihren Gegnern. Die Gefangenen, froh, dem stickigen Bauch des Schiffes entkommen zu sein, kämpften verbissen um jeden Schritt Freiheit. Die Besatzung dagegen, etwa dreißig Köpfe der verschiedensten Wesen, waren mit dem plötzlichen Kampf, noch dazu auf hoher See – keiner von ihnen erschien wie ein Einheimischer – völlig überfordert. Nachdem eine brennende Stella durch ihre Reihen galoppiert war, war der Kampfgeist vieler bereits erloschen. Einige ergaben sich auf der Stelle – darunter der Buddha, der zu ihren Wachen gezählt hatte – andere verloren den Mut und leisteten nur halbherzig Widerstand.
Iljan orderte Gudrun, Jackie und Abarax ab, um die, die sich ergeben hatten, unten in den Kerker zu sperren. Er wusste, dass Nejakai auf dem Schiff war und wollte lieber kein Risiko eingehen. Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Als er auf Deck trat, im klaren Mondschein, war Nejakai fast allein auf der Brücke, begleitet nur von dem Zentauren Faymurk und einem Seemann, anscheinend ein Mensch und der Kapitän des Schiffes.
Die blonde Magierin wurde blass, als sie die Kinder der Sonne an Deck strömen sah. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ihre kleine Armee so leicht überwältigt werden konnte. Sie riss den Arm hoch, um einen Zauber zu wirken. Iljan hob die Hand mit dem Degen, zielte und warf.
Er traf perfekt, ein straff gespanntes Tau über Nejakais Kopf. Der damit festgebundene Balken fiel in einem hübschen Bogen herunter und schlug der Magierin gegen den Hinterkopf. Nejakais Gesicht, eben noch von Erstaunen gezeichnet, dass der Degen sie verfehlt hatte, wurde schlaff und sie fiel auf die Planken, als habe sich jeder Knochen in ihrem Leib verflüssigt.
Als Cary an Deck trat, die noch hastig ihre neue, grüne Toga übergestreift hatte, war der Kampf vorbei. Nejakai war gefesselt und wurde nach unten getragen, Faymurk hatte sich zähneknirschend ergeben. Der Seefahrer, kein Krieger sondern ein von Nejakai angeheuerter Händler, stand immer noch am Steuer und fühlte sich fehl am Platz. Jackie bewachte ihn, doch es sah nicht aus, als ob er angreifen wollte.
»Sie sind alle eingesperrt«, berichtete Abarax. »Nejakai haben wir mit den Bleifesseln gesichert, aber die Zellen sind trotzdem hoffnungslos überfüllt. Und wir wissen nicht, ob weitere Zauberer unter ihnen sind.«
Iljan ließ den Blick über das Schiff gleiten. Das Deck war wie leergefegt, die Segel alle gerafft. Der Anker war draußen, das Schiff rührte sich nicht – als der Ausbruch bemerkt worden war, hatte man offenbar einen Nothalt angeordert, um alle Mannen unter Deck schicken zu können.
»Wir sind kein Gefangenentransport«, sagte Iljan, als seine Augen einen dunkleren Flecken am Horizont entdeckten. »Wir werden sie loswerden.«
Der nächste Morgen dämmerte unerträglich grell über den Wellen. Iljan wusste, dass er bald trinken musste, oder er riskierte, im Sonnenlicht in Flammen aufzugehen. Seine Kräfte schwanden zusehends.
»Segel hoch!«, rief Baradas, der menschliche Steuermann. Nachdem die Kinder der Sonne Nejakai überwältigt hatten, hatte er sie um Gnade angebettelt. Iljan hatte ihm nicht nur das Leben gelassen, sondern auch das Kommando über das Schiff, solange der Seemann sie dorthin brachte, wo sie hinwollten. Ein erfahrener Schiffer an Bord konnte nur hilfreich sein.
»Anker lichten!«
»Das heißt, an der Kurbel da drehen!«, übersetzte Merkanto die Seemannsbegriffe für die eher landrättisch veranlagten Kinder der Sonne. »Und dann sofort loslassen, sie dreht sich sehr schnell!«
Schwankend und stampfend ging das Schiff – die Silbermöwe – vor einer kleinen Insel vor Anker. Abarax und Stella eskortierten die Gefangenen aus dem Bauchraum an Deck, immer in Gruppen von fünf Personen. Iljan hielt sich im Schatten der Kapitänskajüte und beobachtete, wie einer nach dem anderen von der Planke sprang und durch das seichte Wasser zu der Insel watete. Weißer Strand, Kokospalmen und einige Steine erwarteten die Weißen Wächter dort. Die Kinder der Sonne ließen ihnen einen Großteil der Vorräte, die an Bord gewesen waren. Sie würden für einige Wochen reichen. Länger jedenfalls, als Iljan an Bord des Schiffes zu bleiben plante.
Nejakai wurde als Letzte gebracht, teilweise, um den Druck für sie zu erhöhen. Sie trug die übergroßen Handschellen, die vorher Merkanto hatte tragen müssen, und ging zwischen den Kindern der Sonne hindurch wie jemand, der würdevoll zum Galgen schreitet. Auf der Planke drehte sie sich nochmal um und ihr Blick fand Iljan im Schatten. Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln und Iljan fragte sich, wie viel von seiner Schwäche sie in diesem Moment erkannte. Es war unheimlich, wie sehr ihr Blick ihn zu durchdringen schien.
»Dies ist nicht das Ende!«, rief die weiß gekleidete Magierin, ehe sie mit einem Satz von der Planke sprang.
Sie landete im Wasser und kämpfte sich, durch die Fesseln behindert, an Land. Abarax kletterte in die Takelage und winkte spöttisch mit dem Schlüssel zu ihren Handschellen, die er immer noch in der Hand hielt. Dann, mit einem kräftigen Wurf, warf er die Schlüssel über das Schiff und versenkte sie auf der anderen Seite im Meer.
Nejakais Fluchen schallte über den ganzen Strand. Iljan musste lächeln, trotz der Sorgen, dass sie freundlicher hätten handeln sollen, trotz der Angst vor Nejakai.
Einen Moment überlegte er, ob er ihr die Schlüssel nicht doch bringen sollte – die Schlüssel und die Vorräte hatte er Nejakai zugesprochen, als er ihnen sagte, dass sie auf einer Insel ausgesetzt werden sollten.
Dann dachte er an Najaxis. Der Inkubus war kein Kämpfer gewesen, trotzdem hatten die Weißen Wächter, die ihn bloß fangen sollten, ihn erschlagen.
Sollte Nejakai ruhig nach ihren Schlüssel tauchen!
»Weiter fahren!«, rief er nach oben zu Baradas. »Kurs auf das Weiße Schloss!«
»Aye!«, tönte er von oben.