https://www.deviantart.com/ifritnox/art/754130147
Iljan kniete sich hin und legte eine Hand auf den Boden, während er den Kopf mit konzentrierter Miene auf die Seite legte.
»Es sind viele«, sagte er, als er wieder aufstand und sein lockeres Hemd gerade rückte. »Sie haben uns umzingelt.«
»Was soll's? Es sind doch nur Hobbits!«, zischte Merkanto.
»Du solltest sie besser nicht unterschätzen«, Cary war blass geworden. »Sie können ungemein gefährlich sein, wenn sie erst einmal wütend sind.«
»Dann machen wir sie nicht wütend«, schlug Jackie vor. »Abarax?«
Mit einem zerknirschten Seufzen hob er die Hand. »Hier unten, Jackie.«
Mit dem neuen Körper war Abarax nur halb so groß wie der Rest ihrer Gruppe. Er bekam bereits einen steifen Nacken davon, ständig nach oben sehen zu müssen.
»Wir müssen ihn verstecken«, meinte Jackie. »Die Hobbits dürfen ihn nicht sehen.«
»Was hast du vor?«, fragte Iljan.
Jackie schenkte ihm ein fröhliches Lächeln. »Wir reden – wie Sonnenländer!«
Jemand griff unter Abarax Achseln und hob ihn hob. Abarax wirbelte herum, bereit, demjenigen die Zähne ins Gesicht zu schlagen, doch er erkannte Terziel.
»Du darfst das«, knurrte er seinen Bruder an. »Ausnahmsweise.«
Terziel setzte ihn in einen großen Busch. »Bleib da und mach keinen Mucks.«
Abarax verdrehte die Augen und schlang die Arme um die Zweige zu beiden Seiten. Als er nach unten schielte, war der Boden wirklich ausgesprochen weit weg. Und im Moment war er noch zu schwach, um sich in eine Rauchwolke zu verwandeln. Flashbacks von seinem Sturz an Bord des Schiffes blitzten vor seinem Inneren Auge auf und sein Herz begann zu rasen.
»Lass mich hier nicht allein!«, flehte er Terziel an.
Der Engel kam nicht mehr zum Antworten, denn nun schloss sich ein Kreis von Fackeln um die Gruppe. Unzählige Halblinge strömten aus dem Gebüsch zu allen Seiten, kleine, kraus gelockte Wesen mit behaarten Füßen und bäuerlicher Kleidung – die meisten jedenfalls, einige trugen auch Schlafröcke.
»Wer seid ihr, Eindringlinge?«, verlangte eine kleine, braunhaarige Gestalt zu wissen, die in einen schlecht passenden, winzigen Metallharnisch gesteckt war. Die Lederschnallen zu beiden Seiten standen offen, da der Bauchumfang des Trägers offenbar zu groß für den Panzer war.
Trotzdem waren die Hobbits eine bedrohliche Erscheinung, was vor allem an dem wütenden Glitzern in ihren Augen lag, die wie Kohlen in den sonst eher weichen und freundlichen Gesichtern saßen. Der Fackelschein spiegelte sich auf Heugabeln, rostigen Armbrüsten, alten Schwertern und ähnlichen Waffen.
Die Kinder der Sonne hoben die Hände.
»Wir sind Händler aus Antordia«, sagte Iljan.
»Händler, soso? Und was treibt ihr mitten in der Nacht auf einem Friedhof? Noch dazu ohne Waren?«
Die Hobbits beäugten ihre Gruppe misstrauisch. Stella hatte blitzschnell ihre Meereseinhornform angenommen, der Rest gab sich alle Mühe, nicht wie eine Gruppe gefährlicher Mörder auszusehen.
Iljan warf einen hilfesuchenden Blick zu den anderen und Cary trat vor.
»Wir wurden überfallen«, berichtete sie ernst.
»Cary, nicht!«, rief Terziel und drängelte sich vor. »Sie könnten mit dem Dieb unter einer Decke stecken!«
»Warum uns überfallen und dann erneut überfallen?«, fragte Cary zurück, während der Rest nur stumm zusah. »Das sind ehrliche Hobbits, sie könnten uns helfen.«
»Oder sie gehören zu den Dieben«, gab Terziel mit einem bösen Blick zu dem Sprecher in dem schlecht sitzenden Harnisch zurück. »Wir wissen nichts über sie!«
Cary stieß ihn zur Seite. »Wir haben eh keine Wahl, als mit ihnen zu reden.«
Oben in seinem Busch schluckte Abarax: Die Hobbits tauschten Blicke und begannen, untereinander zu wispern.
»Cary?«, fragte der Harnischträger und hob seine Armbrust. »Wie in: Caryellê Assadar?«
»Oh, nein. Nein!«, wehrte Cary schnell ab. »Sie ist eine entfernte Verwandte. Allerdings einige hundert Jahre älter. Ich bin Carimilla.«
Einige Hobbits ließen ihre Waffen sinken. Einer gähnte.
»Wir wurden überfallen, nicht weit von hier«, erklärte Cary. »Die Diebe sind in diese Richtung geflohen, aber wir haben ihre Spur verloren.«
Sie schenkte den Halblingen ein erstaunlich überzeugendes entschuldigendes Lächeln.
»Diebe?«, fragte einer. »Hier?«
»Nach dem, was in letzter Zeit hier los war, wundert mich gar nichts mehr«, antwortete ein anderer Hobbit aus der Menge.
Kollektiv senkten die kleinen Fabelwesen ihre Waffen.
»Willkommen in Eschenhügel«, sagte ihr Anführer. »Ich bin Kalin Dachsbau, der Büttel des Dorfes. Ihr könnt in unserer Taverne übernachten. Wir haben keine Zimmer in eurer Größe, aber wir können sicher ein bisschen Platz schaffen. Es wird nichts großartiges, aber ihr könnt die Nacht drinnen verbringen.«
»In einem Haus?«, fragte Jackie aufgeregt. »Mit richtigen Böden und Decken?«
Sie war zwar im Moment nicht in ihrer Wolfsgestalt, doch Abarax konnte förmlich sehen, wie sie mit dem Schwanz wedelte.
»Natürlich haben wir Böden und Decken! Wir wohnen doch nicht in Erdhöhlen!«, schimpften die Hobbits empört.
Cary hob beschwichtigend die Hände: »Sie meint es nicht so. Wir sind nur schon sehr lange unterwegs. Unsere letzte Unterkunft, die einem Haus noch am nächsten kam, war ein enges, schwankendes Schiff.«
Die Hobbits nickten mitfühlend. Abarax konnte nicht umhin, Carys Geschick zu bewundern. Offenbar hegten die Hobbits eine große Abneigung gegen Schiffe, die sich die Elfe zu nutzen gemacht hatte.
Die Hobbits nahmen die vermeintlichen Raubüberfallopfer in ihre Mitte und begleiteten sie in einem schlurfenden Zug vom Friedhof.
Schnell wurde es dunkel vom Abarax, der noch immer im Geäst eines Baumes hockte, noch dazu gefangen in einem schwächlichen, alten Hobbitkörper.
Er sah nach unten, wo der Boden im ersten Sonnenlicht immer weiter entfernt aussah.
»Ähm … Freunde?«
Jackie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal solchen Luxus erlebt hatte. Der lange Tisch ächzte unter unzähligen deftigen Mahlzeiten, die ihnen rotbäckige Hobbitfrauen unter gutmütigem Geschnatter vor die ausgehungerten Münder setzten. Es gab Kaninchen in einer Kräutersoße, Fisch mit Butter, Fleisch von verschiedenen Wildtieren in Waldpilzsoße und überhaupt jede Menge Gerichte mit Pilzen, Schalen voller dampfender Maiskolben direkt vom Feuer und ofenwarme Brötchen, in deren Teig kleine Fleischstückchen eingebacken waren.
Cary und Terziel hatten anfangs gezögert, sich überhaupt an den winzigen Tisch zu setzen, bis die Hobbits ihnen fröhlich versicherten, dass die Tiere ein gutes Leben gehabt hatten. Seitdem redete der Büttel unermüdlich auf die Gruppe ein, betreffs der Schweinezucht von Eschenhügel, der humanen Schlachtungsmethoden und dem Abkommen mit den Elfenjägern, die überzählige Tiere in den Elfenwäldern jagten, um ein Aussterben sämtlicher Pflanzen zu verhindern.
Niemand hörte dem Hobbit wirklich zu, was diesen jedoch nicht zu stören schien. Er saß gut gelaunt am Kopfende des Tisches und schickte nach und nach alle Hobbitfrauen, die das Essen brachten, zurück in ihr Bett. Die Kerzen in den drei Kronleuchtern über ihrem Kopf brannten langsam herunter, während sich die Kinder der Sonne in dem ungewohnten Festessen suhlten. Seit Wochen hatten sie von einer gestohlenen Mahlzeit zur nächsten gelebt und in den Zwischenräumen den Gürtel immer enger geschnallt. Bald merkte Jackie, wie ihre Hose sich spannte. Mit einem Glas voller Traubensaft lehnte sie sich zurück und seufzte, als sich herrliche Müdigkeit einstellte. Ihr war warm und sie war so satt wie schon lange nicht mehr.
Selbst Cary und Terziel, die sich einzig an die Feldfrüchte gehalten hatten, waren satt geworden, und immer noch gab es volle Teller. Als Kalin jedoch bemerkte, wie seinen Gästen die Augen zufielen, schickte er sie ohne Widerrede zu dulden nach oben in die winzigen Betten des Gasthauses. Die Kinder der Sonne wählten einen Raum aus, holten die Strohmatratzen von den Betten und stellten die leeren Gestelle an die Seite, um sich auf dem Boden ein großes Nest aus weichen Lacken, Decken und Kissen zu bauen.
Wenig später waren sie, alle auf einem großen Haufen liegend, eingeschlafen.
Iljan wurde von einem verstohlenen Geräusch wach, einem fast lautlosen Huschen, das einige sehr alte Vampirinstinkte Alarm schlagen ließ – Instinkte aus der Zeit, da Vampire in Grüften geschlafen hatten und sich vor herumschleichenden Vampirjägern in Acht nehmen mussten.
Als er sich aufsetzte, erkannte er, dass es nur Terziel war, der sich vorsichtig einen Weg durch die Schlafenden ertastete.
»Was hast du vor?«, flüsterte Iljan.
Terziel zuckte zusammen und drehte sich um. »Wer ist da?«
Iljan erinnerte sich daran, dass nicht jeder im Dunkeln so gut sehen konnte wie ein Vampir.
»Ich. Iljan.«
»Oh«, Terziel atmete erleichtert aus. »Ich wollte zurück zum Friedhof.«
»Warum das?«
»Abarax. Wir haben ihn dort einfach zurückgelassen.«
»Ich weiß«, Iljan seufzte. »Aber Terziel, das ist zu gefährlich. Wenn die Hobbits dich dort herumschleichen sehen, werden sie Verdacht schöpfen. Und wenn sie Abarax entdecken, ist alles aus!«
Terziel zögerte unschlüssig. »Aber er ist ganz allein. Während wir im Warmen liegen und uns die Bäuche vollschlagen.«
»Wir müssen unsere Rollen als Händler spielen«, beschwor Iljan den Engel. »Ich möchte mich nur ungerne mit einer Horde wütender Halblingsbauern anlegen. Außerdem … ich habe beim Essen natürlich was für Abarax eingesteckt. Wenn wir erst einmal wieder zusammen sind, kriegt er ein Festessen.«
Terziel ließ die Flügel hängen und kehrte sich blind voran tastend zu seinem Schlafplatz zurück.
»Ich habe trotzdem ein schlechtes Gewissen. Er ist ganz allein da draußen.«
»Er ist ein Nachtmahr – er wird schon klar kommen«, meinte Iljan abgelenkt.
Ihm war soeben aufgefallen, dass auch Gudruns Schlafplatz verlassen war. Die Hexe war nicht mehr im Zimmer.
Das Frühstück war noch herzlicher als das Abendessen, vielleicht hauptsächlich, weil die Gastgeber nun ausgeschlafener waren. Cary konnte allerdings nicht umhin, eine seltsame Stimmung zu bemerken.
Bei ihren früheren Besuchen in Hobbitdörfern hatten stets Kinder auf den Straßen gespielt, doch nun waren keine zu sehen. Es gab immer Gruppen von Bauern, die auf den Plätzen und Wegen zusammenstanden und tratschten. Zwar hatten sich auch hier vereinzelte Grüppchen gebildet, doch man stand näher zusammen und sprach leise und besorgt miteinander. Es gab keine lauthals schimpfenden Hausfrauen und keine gemütlichen Raucher, die dem Treiben zusahen und von ihren weit zurückliegenden, glorreichen Jugendtagen faselten. Fast schien es, als würde eine dunkle Wolke über dem Dorf hängen, die sich auch nicht von den ofenwarmen Brötchen mit frischem Honig als Belag vertreiben ließ.
»Als ihr uns gefunden habt, erzählte einer deiner Männer davon, dass hier in letzter Zeit viel los gewesen sei«, wandte sie sich an Kalin Dachsbau, der zwischen ihr und Iljan saß und bis eben versucht hatte, den Vampir dazu zubringen, auch noch bis zum zweiten Frühstück zu bleiben.
Jetzt verdüsterte sich sein Gesicht. »Tatsächlich, es geht hier einiges vor sich, das uns nicht gefällt«, murmelte er. »Weiße Wächter ziehen durch unsere Dörfer und rekrutieren jeden, dem nicht rechtzeitig eine gute Ausrede einfällt, warum er hier gebraucht wird. Die Händler, mit denen wir sonst Geschäfte machen, kommen immer seltener. Und vor ein paar Tagen haben viele berichtet, dass sie einen Drachen gesehen haben, der über unser Dorf flog und heulte wie tausend Höllenhunde. Seitdem haben wir mit den anderen Dörfern fast keinen Kontakt mehr, die meisten könnten genauso gut vom Erdboden verschluckt worden sein.« Kalin ließ die Schultern hängen. »Es sind unheimliche Zeiten. Viele sind besorgt.«
Cary hob eine Augenbraue. »Ein Drache, sagst du?«
»Ein dunkler Drache«, meinte Kalin. »Ich meine, ich hab ihn nicht selbst gesehen, aber alle sagen, dass er groß war und Feuer spuckte.«
»Wo ist er hingeflogen?«, fragte Cary nach.
»Weiter ins Landesinnere. Wir wissen aber nicht, wie weit.«
Sie schloss die Augen. Damit lag der Feuerdrache also auf ihrem Weg. Sie würden eine Möglichkeit finden müssen, ihn zu umgehen.
»Ein Feuerdrache im Sonnenland? Das ist doch verrückt«, meinte Gudrun mit vollem Mund, die sich als Einzige nicht von dem köstlichen Buffet ablenken ließ.
»Stimmt«, fügte Terziel lachend hinzu. »Als ob dunkle Wesen einfach so mitten in Herz des Sonnenlandes spazieren könnten!«
»Und was genau weißt du über Feuerdrachen?«, fragte Iljan Gudrun und verengte misstrauisch die Augen.
Die Hexe blickte ihn irritiert an, fuhr dann aber damit fort, sich Brötchen in den Mund zu schaufeln.
Cary sah zwischen den beiden hin und her. Vielleicht sollte sie Iljan fragen, ob etwas vorgefallen war, doch andererseits war der Vampir vermutlich immer noch ziemlich beleidigt.
Sie hätte sich an den Rat ihrer Großmutter halten und sich nicht mit anderen Wesen als Elfen einlassen sollen. Das brachte nur Probleme mit sich.