https://www.deviantart.com/ifritnox/art/754130166
Obwohl die Hobbits sie drängten, noch etwas zu bleiben, zogen die Kinder der Sonne bereits früh am Morgen los. Cary und Iljan verabschiedeten sich steif von Kalin, während sie den jeweils anderen gekonnt ignorierten. Sobald das kleine Dorf außer Sicht war, zog Iljan sich ein Tuch gegen die Sonne über den Kopf und trottete grimmig schweigend vorwärts. Als sie einen besonders dicken und breiten Baumstamm am Wegrand fanden, ließ er anhalten.
»Hier warten wir«, sagte er Terziel. »Du erkennst den Baum doch wieder?«
Der Engel nickte.
»Wir gehen vom Weg aus geradeaus ins Dickicht, nur bis wir außer Sichtweite von der Straße sind. Bist du sicher, dass du alleine gehen willst?«
Terziel nickte entschlossen. »Zu viele würden zu stark auffallen.«
»Viel Glück.«
»Danke.«
Terziel wandte sich ab und machte sich auf den Weg zurück zum Dorf und zum Friedhof, wo er Abarax zu finden hoffte. Iljan führte die Restlichen vom Weg ab ins Gebüsch, wo sie sich zwischen verschiedenen Sträuchern und Büschen niederließen. Jackie hatte ein paar Beeren gepflückt und probierte eine nach der anderen. Gudrun setzte sich neben Stella und begann, die dunkelblaue Mähne des Einhorns zu flechten.
Iljans Stimmung sank weiter, als Cary auf ihn zu kam. Sie war das letzte Wesen, das er jetzt sehen wollte, geschweige denn, dass er sich mit ihr unterhalten wollte.
»Was willst du?«, fragte er sie unfreundlich, als sie vor ihm stehen blieb.
»Das was passiert ist … auf dem Schiff«, sie wich seinem Blick aus. »Du machst da doch jetzt keine große Sache draus, oder, Iljan? Unsere Lage ist zu prekär, als dass wir uns untereinander streiten könnten.«
»Ach«, sagte er bloß.
Cary atmete tief durch. »Ich wollte mich entschuldigen für das, was ich gesagt habe. Ich hätte es anders formulieren müssen, besser … ausdrücken, ich – «
»Du kannst es dir sparen«, fauchte Iljan sie an. »Ich hab's verstanden, ehrlich.«
»Ich denke nicht, dass du verstehst ...«
»Diese Wichtigtuerei kannst du dir auch sparen«, knurrte er. »Hast du noch was Wichtiges zu sagen? Etwas, das mich interessiert, zum Beispiel?«
»Ach, weißt du was, vergiss es«, fauchte Cary zurück. »Du würdest es eh nicht verstehen.«
»DAS habe ich allerdings verstanden.«
»Gut!«, schimpfte Cary.
»Gut!«, gab Iljan zurück.
»Gut!«, sagte Cary nochmals und stolzierte davon.
Iljan zog das Tuch enger um den Kopf. Die Sonnenstrahlen schienen besonders warm und grell, sie fühlten sich unangenehm auf seiner Haut an, obwohl er noch genug Kraft hatte, um ihre Wirkung abzuwehren.
Wütend starrte er Cary hinterher. Diese ganze Unternehmung war ein großer Fehler gewesen.
»Wo warst du heute Nacht?«, fragte Stella.
Gudrun hielt im Flechten inne. »Was?«
»Ich hab gesehen, wie du das Gasthaus verlassen hast und in den Wald gegangen bist. Warst du bei Abarax?«
»Nein. Ich … hör mal, Stella, ich will nicht darüber reden. Ich müsste dich belügen. Aber das will ich nicht.«
Stella warf lachend den Kopf zurück. »Du bist dir nur nicht sicher, ob du es könntest!«
»Treffer«, grinste Gudrun, obwohl sie sich recht sicher war, Stella selbst in Gedanken belügen zu können, wenn sie es nur wollte. Tatsache war, dass sie es tatsächlich nicht tun wollte.
»Also ist es ein Geheimnis, Aelinos?«, stichelte das Einhorn mit glockenheller Stimme.
»Ein gefährliches Geheimnis. Je weniger du weißt, desto besser für dich«, sagte Gudrun. Sie blieb ernst.
»Versprichst du mir nur, dass es unsere Gruppe nicht in Gefahr bringt, dieses Geheimnis von dir?«
»Klar, ich verspreche es!«, antwortete Gudrun.
»Dann ist ja alles gut«, meinte Stella sorglos und zupfte ein paar Blätter von einem niedrig hängenden Ast.
Gudrun wandte seufzend den Blick ab. Nun hatte sie das Einhorn ja doch belogen.
Allein unterwegs konnte Terziel überhaupt erst zur Kenntnis nehmen, wie schön das Hobbitland war. Selbst die relative Wildnis der Pfade im Gebüsch, weit fort von den Dörfern und deswegen verwaist, strahlten eine behagliche, bequeme Ruhe aus. Die Bäume und Büsche waren alt, aber trotzdem niedrig, als würde sich die Vegetation ihren kleinen Bewohnern anpassen. Vögel zwitscherten, kleine Tiere huschten durch das Gebüsch – Igel, Hanghühner, Kaninchen. In solchen Wäldern durfte man keine Einhörner oder Wolpertinger erwarten, keine weißen Hirsche oder sprechenden Bären. Stattdessen wirkte das ganze Land kindlich im Vergleich mit dem Rest des Sonnenlands.
Schließlich merkte Terziel, wie das Unkraut zurückwich und den ersten Ausläufern der von Hobbits in wohlgeordnete Bahnen gebrachten Natur Platz machte. Beerensträucher wuchsen nicht länger in vereinzelten Nischen, sondern in größeren Gruppen, vermutlich, da Generationen von Hobbitkindern unter den Sträuchern gesessen und die Kerne in das Erdreich gespuckt hatten. Blumen zogen sich immer mehr zurück, von fleißigen kleinen Händen ausgegraben, um in Tontöpfen auf Fensterbänken zu enden.
Terziel verließ den Weg und schlug sich tiefer in das Gebüsch, um Eschenhügel weitläufig zu umrunden. Der Friedhof lag von ihm aus gesehen auf der anderen Seite des Dorfes. Er musste dorthin gelangen, ehe Abarax etwas zustieß.
Jackie ließ kleine Steinchen über den Teich flitschen, der sich unter einer geschwungenen Holzbrücke erstreckte. Die Brücke war Teil des Pfades, zu dem sie inzwischen zurückgekehrt waren. Die Sonne senkte sich bereits und Iljan sorgte sich.
»Mir ist langweilig«, brummte sie und schnippte den nächsten Stein los. »Warum gehen wir sie nicht suchen?«
»Weil wir noch nicht sicher sein können, dass sie wirklich in Schwierigkeiten stecken«, erklärte ihr Merkanto geduldig. »Klar, wenn Terziel direkt zum Friedhof gelaufen wäre und Abarax gefunden hätte, müsste er schon längst wieder hier sein. Aber wir können nicht wissen, dass es so einfach lief. Vielleicht musste Terziel einen Umweg machen. Vielleicht hat Abarax nicht auf uns gewartet und Terziel muss ihn suchen. Wenn wir jetzt Hals über Kopf losrennen, finden die beiden uns jedenfalls nicht wieder. Es ist immer besser, abzuwarten.«
»Wenn ihnen aber etwas zugestoßen ist, können wir es nicht wissen!«, antwortete Jackie und warf den nächsten Stein mit zu viel Kraft, sodass dieser mit einem Platschen unterging. »Wir müssen doch nachsehen, ob sie nicht gefangen wurden!«
»Du musst auf dein Herz hören«, sagte Merkanto beruhigend.
»Mein Herz sagt mir, dass alles schief gelaufen ist. Unsere Freunde wurden gefangen, gefoltert, getötet! Wir können niemandem vertrauen, alle wollen uns immer noch Schaden zufügen, und selbst wenn wir hilfreiche Wesen treffen, müssen wir uns immer erst beweisen, alles mögliche verheimlichen und ihre Hilfe bringt uns dann auch nicht viel weiter!«, Jackie ließ den nächsten Stein frustriert auf den Boden fallen. »Je länger wir warten, desto mehr schreckliche Dinge können Terziel und Abarax zustoßen!«
Merkanto seufzte und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, Cary kam mit federleichten Schritten zu ihnen und ließ sich auf Jackies anderer Seite in das weiche Moos sinken. »Hobbits sind schnell erzürnt, doch sie sind auch sehr gerecht. Falls sie Terziel und Abarax haben, dann sind beide im Gefängnis, aber die Hobbits werden ihnen kein Haar krümmen. Eher werden sie die Königin um Rat fragen und versuchen, die beiden möglichst schnell loszuwerden. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass sie irgendwo auf den Schutz der Nacht warten, um uns sicher zu erreichen.«
»Und wenn nicht?«, fragte Jackie. »Wenn diese Zauberin uns eingeholt hat?«
»Nejakai? Oh, nein, die sitzt noch auf der Insel fest. Sie können kein Floß bauen, dass sie bis nach Siebenhoch bringt und Schiffe kommen an der Insel nur selten vorbei. Und dann muss sie unsere Spur auch erst einmal wiederfinden. Es wird alles gut werden, Jackie, du wirst schon sehen.«
Sie seufzte und konnte den Blick immer noch nicht von dem aufgewühlten Wasser abwenden. Sie fühlte sich trotz Carys freundlicher Worte hilflos. In ihren Träumen hielt sie die Hände ihrer Freunde fest, nur damit diese sich zu Sand verwandelten und ihr durch die Finger rieselten. Seit sie das Sonnenland betreten hatten, waren ihre Träume nach und nach zerplatzt. Langsam fragte sie sich, ob sie überhaupt hier leben wollte, in einem Land voller Wesen, die sie aus tiefstem Herzen hassten.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie Cary ansah. »Danke. Ich hoffe einfach das Beste.«
Caryellê stand auf. »Ich weiß, wie du dich fühlst, kleine Wölfin. Aber die Welt ist nicht immer so schwarz, wie sie uns erscheint. Selbst wenn es Nacht um dich her ist, leuchtet immer noch irgendwo die Sonne.«
Die Elfe ging davon, während Jackie seufzend erkannte, dass Cary ihr falsches Lächeln mühelos durchschaut hatte.
Es wurde Nacht und immer noch war keine Nachricht von Abarax oder Terziel gekommen. Nach außen hin gab sich Iljan optimistisch, bis er sich sicher sein konnte, dass alle eingeschlafen waren.
Dann gab er der inneren Unruhe nach und machte sich auf den Weg, um die beiden zu suchen.
Sein Ausflug mit Jackie hatte ihm eines gezeigt: Seine Vampirinstinkte hatte er zu lange unterdrückt, während sie auf der Reise gewesen waren. Er hatte nicht nur auf das Blut verzichtet, sondern auch auf alle anderen Fähigkeiten: Den Gestaltwandel, die geschärften Sinne, alles hatte er weit hinter sich lassen wollen. Doch wäre er kein Vampir gewesen, hätte ihre Reise in Quyhst ein schlimmes Ende gefunden. Vielleicht war es Zeit, seine Herkunft nicht länger zu leugnen. Er war damals aufgebrochen, um das alles hinter sich zu lassen, doch inzwischen wusste er nicht länger, ob er seien Fähigkeiten wirklich aufgeben wollte – und für wen.
Er ließ seine friedlich schlafenden Freunde ein sicheres Stück in den Wald hinein zurück und begab sich auf den Pfad. Er atmete tief durch und konnte die Nachtluft riechen, die Herzen kleiner Wesen im Unterholz schlagen hören. Der Wind war kühl auf seiner Haut, der grelle Mond mit seinem gespiegelten Sonnenfeuer, das die Macht der Vampire schwächte, war weit fort.
Iljan breitete die Arme aus und spürte, wie er schrumpfte, ehe er als kleine Fledermaus losflatterte. Natürlich flog er erst einmal gegen den nächsten Baumstumpf. Er war schon immer ein schlechter Flieger gewesen, nun war er aus der Übung, geschwächt von dem langen Verzicht auf Blut und seine Sinne waren eingerostet.
Er flog nach oben und versuchte, sich auf sein Gehör zu besinnen. Er hörte die Blätter unter sich rauschen und brachte es fertig, sich über den Baumkronen zu halten, bis der Wald einer größeren Fläche wich. Iljan flatterte herum, bis er einen großen, festen Widerstand erhörte, auf dem er sich niederlassen konnte. Seine Landung war unsanft.
Blind drehte er den kleinen Kopf in jede Richtung und witterte. Er roch Blut, allerdings in geringen Mengen. Ein Kratzer, bereits getrocknet. Irgendwo unter ihm schlief ein Hobbit unruhig, also musste er sich auf einem Hausdach befinden, in Eschenhügel.
Seine großen Ohren zuckten hin und her, als er versuchte, einzelne Geräusche aus dem nächtlichen Konzert herauszuhören. Frösche quakten in Teichen, Käuzchen riefen, er hörte, wie Spinnen ihre Netze webten und eine Mutter, die ihren Kindern anstelle einer Gute-Nacht-Geschichte versichere, der Drache werde dieses Dorf niemals erreichen und sei längst weitergezogen. Und ihrem Cousin Habbi ging es auch gut, ganz sicher.
Iljan krabbelte weiter und erreichte den Rand des Daches. Er witterte verschiedenste Blutquellen. Konnte er den Geruch von Terziel und Abarax herausfiltern? Er witterte stärker. Da war ein seltsamer Geruch, der keinem Hobbit gehörte. Mit einem todesmutigen Satz schwang er sich wieder in den Himmel, wich knapp einem Schornstein aus und flog näher zum Ursprung des Geruchs.
Dann landete er erneut auf einem Dach. Inzwischen taten seine Greiffinger von den heftigen Landungen weh. Nach kurzem Zögern nahm Iljan seine menschliche Gestalt an, obwohl das Strohdach unter ihm ächzte.
Nun nicht länger blind sah er sich um und erkannte, dass er auf einem der größeren Häuser saß, dem Gasthaus, wo sie auch übernachtet hatten. Der Geruch stammte aus einem etwas abgelegenen, niedrigen Gebäude, das wohl zum Großteil in den Berg gegraben war. Der Geruch, der ihn neugierig gemacht hatte, stammte von dort. Vorsichtig kroch er so weit nach vorne, wie er sich auf dem Dach nach vorn wagte. Kein Zweifel, er roch Engelsblut. Terziel. Er war verletzt, wenn auch nicht sehr stark – die Spur war schwach, kaum zu erkennen.
»Was hast du diesmal getan?«, flüsterte Iljan, obwohl der Engel ihn natürlich nicht hören konnte. »Wer hat dich jetzt erwischt?«