https://www.deviantart.com/ifritnox/art/754130176
Den Friedhof hatte Terziel schon weit vor dem Mittag erreicht. Zielstrebig näherte er sich dem großen Busch, in dem er seinen Bruder zurückgelassen hatte.
»Abarax?«, zischte er.
»Dem Dunkel sei Dank, du bist zurück!«, erklang es aus dem Wipfel. »Wo wart ihr? Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen gemacht habe?!«
»Ich kann's mir denken«, Terziel erspähte den alten Hobbit zwischen den Blättern. »Ich wollte schon in der Nacht kommen, aber Iljan war dagegen. Wir mussten vorsichtig sein, damit diese Hobbits keinen Verdacht schöpften.«
Er schlug mit den Flügeln, flog zu Abarax hinauf und zog ihn aus dem Strauch.
»Puh!«, der winzige Nachtmahr ließ sich gegen ihn fallen. »Viel länger hätte ich mich wirklich nicht festhalten können.«
»Wusste ich es doch!«, flüsterte eine Stimme hinter Terziel. Der Engel wirbelte herum.
Da stand Kalin Dachsbau, wie aus dem Nichts gewachsen, mit verschränkten Armen. Er starrte Terziel und Abarax an.
»W-was?«, stotterte Terziel und versuchte, den von Abarax besetzten Körper hinter seinem Rücken zu verbergen.
»Kannst du nicht besser aufpassen, ob du verfolgt wirst?«, fluchte Abarax.
»Ich hatte niemanden bemerkt«, verteidigte sich Terziel.
Im Gebüsch raschelte es und weitere Hobbits tauchten auf. Sie mussten lautlos in Verstecken gehockt haben, waren ihm vermutlich ein ganzes Stück gefolgt. Terziel erinnerte sich, dass Hobbits sich ungemein leise vorwärts bewegen konnten, wenn sie es wollten.
Nun kamen sie mit Mistgabeln bewaffnet auf ihn zu. Sein Herz raste. Wenn ihm nicht schnell etwas einfiel, stand ihm ein besonders kurzer, schmerzhafter Rest seines Lebens bevor.
»Wer bist du wirklich?«, fragte Kalin wütend. »Und was habt ihr mit Habir gemacht?«
»War das sein Name, Habir?«, fragte Terziel mit sanfter Stimme. »Er muss ein guter Mann gewesen sein.«
»Der beste Hobbit, den man sich nur wünschen konnte«, Kalin schniefte.
»Wir hatten leider keine Wahl«, Terziel legte dem Hobbitkörper eine Hand auf die Schulter. »Das ist mein Bruder, Abarax. Er wäre gestorben, wenn wir keinen Körper für ihn gefunden hätten.«
»Terziel, was tust du da?«, flüsterte Aabrax. »Ich glaube nicht, dass sie viel Mitleid haben.«
»Ich habe nur diese eine Chance, uns zu retten«, antwortete Terziel leise, ehe er wieder Kalin ansah. »Ich wünschte, du hättest es nicht erfahren müssen.«
»Dann habt ihr uns belogen«, Kalin richtete sich in seinem schlecht sitzenden Harnisch auf. »Alles, was ihr sagtest, ist eine Lüge!«
»Nicht alles.« Die Hobbits hielten zögerlich inne. »Mein Name ist Terziel«, fuhr der Engel eilig fort. »Und auch die anderen unserer Gruppe haben euch falsche Namen genannt. Unsere Anführer sind Caryellê Assadar und der Vampir Iljan Taidoni. Wir sind die Kinder der Sonne.«
»Die Plakate!«, flüsterte jemand der Hobbits. »Es ist also wahr!«
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich euch einmal begegne«, knurrte Kalin. »Verräter. Mörder. Schattenwesen! Und du hilfst diesen verderblichen Geschöpfen!«
»Sie sind nicht verderblich«, widersprach Terziel. »Iljans Gruppe hat edle Ziele. Lasst ihn beweisen, dass er kein Feind ist.«
»Auf die Knie, Verräter!«, schnaubte Kalin. Terziel ließ sich auf den Erdboden sinken und hob die Hände. Zwei Hobbits traten hervor, um ihn zu fesseln, zwei weitere verschnürten Abarax.
»Hat toll funktioniert, dein Plan!«, zischte der Nachtmahr.
»Immerhin leben wir noch«, meinte Terziel und gestattete sich ein erleichtertes Aufseufzen. Sie hatten etwas Zeit gewonnen.
Iljan fuhr zusammen, als er mit einem Mal Abarax' Stimme hörte, so klar, als würde der Nachtmahr neben ihm auf dem Dach hocken.
»Iljan?«
Beinahe rutschte er von dem Strohdach. »Abarax?«
Er entdeckte eine dunkle Wolke, die über dem niedrigen Gefängnisgebäude schwebte und nun auf ihn zu waberte. Schon nahm der alte Hobbit neben Iljan Gestalt an, den sie vor zwei Nächten zu Abarax' neuem Wirt erkoren hatten.
»Geht es dir gut? Wo ist Terziel?«
»Dieser Hobbitanführer hat uns gefangen. Wir sitzen in einer Zelle im Keller von dem Haus da. Als Terziel dich durch das Dorf fliegen gesehen hat, hatte er mich raus geschickt«, berichtete Abarax. Er sah erschöpft aus. »Alleine kann ich Terz nicht befreien.«
»Kalin Dachsbau hat euch gefangen?«, fragte Iljan nach. »Wieso lebt ihr noch?«
»Weil Terziel eine Zunge aus Honig hat. Aber dieser Dachsbau stellt uns ein Ultimatum. Wenn wir ihm bis morgen Abend nicht alles über deine Mission erzählt haben, liefert er uns an die Weißen Wächter aus.«
»Nejakai«, zischte Iljan. »Das können wir nicht zulassen! Erzählt ihm die Wahrheit.«
»Haben wir«, seufzte Abarax. »Er glaubt uns nicht.«
Iljan sah zu dem niedrigen Gebäude. Nah am Boden gab es vergitterte Fenster. Hinter einem davon musste Terziel gefangen sitzen.
»Wir müssen das Gebäude zerstören. So wie in Crisayn.«
»Nein«, Iljan schüttelte entschieden den Kopf. »In Crisayn hatten wir keine andere Wahl und Haryna hatte auch nichts anderes verdient. Aber diese Hobbits haben uns geholfen. Es muss eine friedliche Lösung geben.«
Abarax verdrehte die dunklen Augen. »Iljan, wann verstehst du es endlich? Es gibt keinen Frieden im Sonnenland, nicht für uns.«
»Das hier ist das Land des Friedens!«, gab Iljan zurück. »Und auch wir können hier welchen finden.«
Ehe Abarax ihm widersprechen konnte, verwandelte Iljan sich zurück und flatterte gen Wald. Er hörte den Nachtmahr wütend murmeln, konnte die Worte mit Fledermausohren allerdings nur noch undeutlich verstehen.
»Was ist passiert?«, Terziel sah sofort an Abarax' Miene, dass das Gespräch mit Iljan nicht nach Plan verlaufen war. »Es war doch Iljan, oder?«, hakte er vorsichtig nach.
»Iljan, wie er leibt und lebt«, schnaubte Abarax und begann, den Vampir mit verstellter Stimme nachzuäffen: »Wirrr müssen einen frrriedlichen Weg finden! Diese Hobbits haben uns geholfen, also müssen wirrrr nett zu ihnen sein! Sie haben nicht verrrdient, dass wirrrr ihrrr schönes Gefängnis kaputt machen.«
»Jetzt beruhige dich erstmal«, Terziel hob beschwichtigend die Hände. »Vielleicht hat Iljan schon einen Plan. Aber du kannst dich darauf verlassen, dass er uns helfen wird. Entweder auf seine Weise, oder, wenn das nicht funktioniert, dann auf unsere.«
»Ich weiß nicht, Terz«, sagte Abarax. »Er ist kein guter Kriegsherr. Wenn Merkanto die Führung hätte, wäre ich optimistischer.«
»Das klingt nach Meuterei, Bruderherz. Iljan hat uns bis hierher geführt, gut geführt. Du solltest nicht an ihm zweifeln.«
Der Nachtmahr verdrehte die Augen. »Wenn das deine Vorstellung von guter Führung ist …«
»Sag mir lieber, was ihr besprochen habt!«
»Nicht viel. Iljan will nicht wie in Crisayn vorgehen. Dann ist er weggeflogen.«
Terziel rieb sich die Stirn und sah wieder nach draußen. Die Nacht näherte sich offenbar langsam ihrem Ende. Abarax wirkte müde und ihnen lief die Zeit davon.
»Wir können nur versuchen, diesen Kalin noch etwas hinzuhalten und mehr Zeit zu gewinnen.«
»Was glaubst du denn, wie viel Zeit wir noch gewinnen können?«, schnaubte Abarax. »Nicht mehr lange, und die Weißen Wächter kreuzen hier auf.«
»Die Wächter, aber noch nicht Nejakai«, erinnerte Terziel ihn. »Solange sie nicht dabei ist, haben wir auch immer noch eine Chance.«
»Dein Vertrauen will ich haben«, stöhnte Abarax.
Terziel schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. »Ein bisschen Glauben tut's auch, Bruderherz!«
»Im Gefängnis?«, stieg Merkanto aus. »Kann man diesen Engel denn nicht für fünf Minuten aus den Augen lassen?«
»Offenbar nicht«, warf Gudrun aus dem Hintergrund ein, wo sie Stellas Mähne kämmte. »Und, Iljan? Irgendwelche schlauen Ideen?«
»Nein«, ertönte es dumpf irgendwo aus dem Knäul, zu dem der Vampir geworden war, seit er die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hatte. Cary zupfte an ihren Waffen herum und überlegte, ob sie sich einmischen sollte. Sie fühlte sich ausgelaugt. Hobbits waren ernstzunehmende Gegner, umso mehr, als Iljan offenbar geschworen hatte, kein Blut mehr zu vergießen. Sie spürte immer deutlicher, dass ihr die Kraft fehlte, sich weiterhin auf ihre schwindende Hoffnung zu konzentrieren. Immer öfter fragte sie sich, wofür sie noch kämpften – sie entkamen der einen Gefahr, um direkt im nächsten Schlamassel zu landen. Eine endlose Reihe von Enttäuschungen und Fehlschlägen lag hinter ihnen, und neue würden folgen. Die ganze Gruppe schien immer näher daran zu sein, einfach aufzugeben.
»Es muss doch etwas geben, was wir tun können«, seufzte Jackie. »Vielleicht können wir sie freikaufen.«
»Hobbits sind zu ehrenhaft, um das zuzulassen«, warf Stella ein. »Wir haben nur eine Wahl, und die ist Wahnsinn.«
Cary nickte. Sie wusste genau, wovon Stella sprach und auch die anderen schienen es zu ahnen.
»Sie glauben Terziel und Abarax nicht. Wieso sollten sie uns glauben?«, fragte Merkanto. »Wir würden nur alle im Gefängnis landen und unsere Mission wäre gescheitert. Dafür hängt aber zu viel von uns ab. Denkt nur an die Umira-Einhörner, die sich auf uns verlassen. An all die anderen Wesen, denen wir helfen könnten.«
»Was schlägst du dann vor?«, knurrte Jackie. »Terziel und Abarax zurückzulassen?«
Merkanto schwieg einen Moment, ehe er vorsichtig anmerkte. »In manchen Situationen sollten wir uns vielleicht überlegen, ob wir wirklich unsere ganze Mission für zwei Personen opfern wollen, denen wir damit nicht einmal helfen können.«
»Du wagst es?«, Iljan sprang auf. »Haben wir nicht auch dich gerettet? Das sind dunkle Gedanken, Merkanto, und sie haben auf dieser Mission nichts zu suchen.«
Der alte Zauberer hob abwehrend die Hände. »Ich sage nur, wie es ist. Im Krieg muss man manchmal Bauern opfern, um den König zu retten. Ich wäge lediglich die Risiken gegeneinander ab. Terziel und Abarax könnten überleben, auch wenn wir sie zurücklassen. Wenn wir das Weiße Schloss rechtzeitig erreichen, könnten wir ihnen von dort aus viel effektiver helfen.«
»Als ob wir das Schloss rechtzeitig erreichen könnten!«, schnaubte Jackie. »Wahrscheinlich müssen wir uns vorher ein paar tausend Wochen vor Elfenpatrouillen und Wachen und was weiß ich verstecken!«
»Es war ein Fehler, hierher zu kommen!«, Iljan sank wieder zusammen. »Ich hätte euch niemals dazu bringen sollen, mir zu folgen.«
Cary konnte nicht länger zusehen. Sie trat vor: »Es gibt noch Hoffnung.«
Alle sahen sie zweifelnd an.
»Kommt schon«, sie ballte die Hände zu Fäusten. »Ihr könnt jetzt nicht aufgeben. Wir sind so weit gekommen, zu weit, um noch umzukehren.«
»Ja, weil wir es niemals lebendig zurück ins Schattenland schaffen würden«, murmelte Jackie düster.
»Wir haben bisher noch jede Gefahr überstanden«, Cary überging die Werwölfin. »Wir sind Kämpfer. Wir sind die Kinder der Sonne!«
Iljan hob den Blick und sah sie müde an, aber in seinen dunklen Augen glitzerte etwas. Ein letzter Funke von seinem naiven Optimismus. Und Cary wusste mit einem Mal, dass sie diese kindliche Hoffnung in seinen Augen nicht verlieren wollte.
»Wir werden das Richtige tun«, sagte sie ruhig und hielt seinen Blick fest. »Wir werden unsere Freunde befreien, und zwar auf Sonnenländer Art. Wir werden beweisen, dass ihr wirklich einen Platz in unserem Land verdient: Uns und der Welt und allen, die zusehen.«
»Hast du denn einen Plan?«, fragte Iljan.
Cary nickte. »Und er ist völliger Wahnsinn!«
Als der Morgen dämmerte, erschienen vier grimmige Hobbitwachen und geleiteten Terziel und Abarax aus ihrer Zelle nach oben, wo sie in ein geräumiges, aber schmuckloses Zimmer geführt wurden. Die großen, runden Fenster boten Ausblick auf den Dorfplatz, wo sich einige neugierige Trüppchen versammelt hatten. Der Raum war niedrig, sodass Terziel sich bücken musste. Abarax war froh, in seiner neuen Gestalt aufrecht stehen zu können.
Viele schockierte Blicke ruhten auf ihm, als die Hobbits offenbar das Gesicht seiner Hülle erkannten. Er wandte den Blick ab. Schon wieder war er ein Sonderling, so wie früher, als er noch ein Mensch gewesen war.
Zu einer Zeit, als es noch Menschen gegeben hatte, mehr Menschen als Fabelwesen. Im Grunde, so dachte er, waren auch die Fabelwesen in ihren Herzen immer noch Menschen: Menschen, die die Welt in Gut und Böse einteilten, in Fremd und Vertraut, Freund und Feind. Sie waren alle nur Menschen mit neuen Fähigkeiten und längeren Lebensspannen.
»Eure Zeit läuft aus«, Kalin Dachsbau betrat den Raum und stellte sich ihnen gegenüber vor das einzige Möbelstück im Raum, einen schweren, großen Sekretär mit eingebauem Hocker. »Seid ihr jetzt bereit, uns die Wahrheit zu erzählen?«
»Wir haben sie euch erzählt«, meinte Terziel müde. »Ihr kennt die wahren Namen all unserer Gefährten, der lebenden wie der toten, Ihr kennt das Ziel und den Grund unserer Reise und alle Abenteuer, die wir erlebt haben.«
»Eine schöne Geschichte, fürwahr«, brummte Kalin unbeeindruckt. »Obwohl ich euch die Sache mit den drei Drachen und der verborgenen Stadt Crisayn nicht abkaufe. Da habt ihr etwas übertrieben. Das ist mir egal, mich interessieren nur die wahren Gründe für diese geheime Invasion.«
Ehe Terziel noch etwas sagen konnte, ertönten draußen plötzlich Schreie und Rufe. Abarax wirbelte herum und huschte, an den Wachen vorbei, zum Fenster.
Er konnte nicht glauben, was er auf dem Marktplatz sah: Die anderen zogen im hellen Tageslicht mitten auf den Platz, vorbei an erschrockenen Hobbitfrauen, die ihre Kinder zu sich zogen, und Hobbitmännern, die eilig nach behelfsmäßigen Waffen griffen.
Iljan und Cary gingen der kleinen Gruppe Seite an Seite vorbei, die Hände über die Köpfe erhoben. In der Mitte des Marktplatzes und umringt von geschockten Halblingen blieben sie stehen.
Dann sanken sie einer nach dem anderen auf die Knie und verharrten so, die Hände noch erhoben und die Köpfe gesenkt.
»Kalin!«, erklang Iljans Stimme dünn durch den Wind. »Wir sind nicht gekommen, um zu kämpfen. Wir möchten euch ein Angebot machen.«
Abarax sah zu Terziel herüber, dem der Mund aufgeklappt war: »Oh, nein!«
»Was?«, fragte Abarax. »Terziel, was hast du?«
Der Engel war bleich wie Schnee geworden und antwortete nicht.