https://www.deviantart.com/ifritnox/art/760143679
Zum Aufbruch der Kinder der Sonne hatten sich einige Hobbits entlang der Straßen eingefunden, die mit müden Augen und ohne den geringsten Ton zusahen, wie Iljan seine Gruppe über die sandigen Wege hinaus aus Eschenhügel führte.
Stella besaß noch die Gestalt eines Sturmeinhorns, mit dunklem Fell und blitzendem Horn. Die Energie fühlte sich berauschend an, aber das Prickeln der Blitze machte sie auch überaus nervös. Unzählige Blicke ruhten auf ihr und ihren Gefährten, während sie das Dörfchen hinter sich ließen.
Die gedrückte Stimmung erinnerte Stella an einen Marsch zum Galgen. Sie wusste, dass Iljans Entscheidung mehr oder weniger ihre einzige Möglichkeit war, die Hobbits von der Wahrheit ihres Traums zu überzeugen, dennoch war der Kampf mit einem Drachen nun wahrlich tollkühn. Es war ausgesprochen wahrscheinlich, dass Iljans Versuch, die Gefangenen zu retten, nur zu noch mehr Toten führen würde.
Jackie brach weiter vorne ins Gebüsch, kaum dass Eschenhügel außer Sicht war. Die Gruppe hielt an und lauschte auf die gurgelnden Geräusche ihrer Verwandlung, ehe die vertraute, rote Wölfin aus dem Gebüsch getrottet kam.
»Sieht so aus, als hätten wir Glück«, versuchte Iljan, die Stimmung aufzulockern, als er Jackies gewaltige Gestalt bemerkte. »Wir nähern uns dem Vollmond.«
Jackie bleckte kampflustig die Zähne und warf den Kopf hoch. Stella schüttelte sich amüsiert.
Während Iljans ins Gebüsch lief, um Jackies Kleidung zu holen, spürte Stella, dass ihre neue Gewitterform an Macht verlor. Das bedeutete, dass sie sich zurück in ein normales Einhorn verwandeln konnte – deutlich schneller, als sie das erwartet hatte, doch andererseits war die neue Gestalt nur eine Fortsetzung ihrer alten Blitzform und sie wurde zudem, ganz wie Gudrun prophezeit hatte, immer besser darin, ihre Fähigkeit zu beherrschen.
Iljan bemerkte die Rückverwandlung sofort, als er aus dem Gebüsch trat.
»Freunde«, sagte der Vampir. »Was haltet ihr davon, etwas schneller zu reisen?«
»Und dann ziehst du diesen Faden durch die Öffnung, und schob haben wir … äh … ein … ein Geschwurbel!«
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das falsch gemacht hast‹‹, kommentierte Merkanto, ohne überhaupt den Kopf zu Gudrun zu wenden.
»Du hast einfach nur keine Ahnung von dem Spiel!«, fauchte Gudrun beleidigt.
Merkanto gestattete sich ein müdes Seufzen. »Ich habe allerdings Ahnung von Planung und Durchführung solcher Pläne, und damit du aus diesen Fäden irgendwas gebastelt bekommst, brauchst du beides!«
Als Gudrun nicht antwortete, hob er schließlich doch den Blick. Die Hexe kauerte in der gegenüberliegenden Ecke der Zelle und versuchte fieberhaft, ihre Finger aus dem Gewirr bunter Fäden zu befreien, in das sie selbige verstrickt hatte, anstatt Muster und Gebilde zu formen.
Merkanto stieß sich von der Wand ab nach oben, ging zu ihr und begann, das Geschwurbel planmäßig aufzulösen.
»Danke«, murmelte Gudrun zerknirscht, als er ihr die Fäden in den Schoß fallen ließ und zurück auf seinen Platz ging.
»Du könntest wenigstens etwas wie 'bitte' oder 'gern geschehen' sagen«, fuhr Gudrun nach einer Pause fort, »damit ich mich nicht ganz so dumm fühle!«
»Gudrun«, sagte Merkanto stattdessen, »Stella hat mir etwas Seltsames erzählt.«
Die Hexe erstarrte. »Weißt du was, vergiss es.«
»Du warst weg. Stella hat aus ihrem Stall gesehen, wie du das Gasthaus verlassen hast«, fuhr Merkanto unbeirrt fort und beobachtete Gudrun scharf. »Wohin bist du gegangen? Und was hast du getan?«
Gudruns Augen zuckten wild hin und her. »Ich musste mal.«
»Das Gasthaus hatte einen Abort.«
»In Hobbitgröße!«, protestierte Gudrun. »Ich bin nur eben in den Wald gegangen, um das zu erledigen.«
»Eine Stunde lang?«, fragte Merkanto nach.
»Du willst die Details wirklich nicht wissen!«, schnaufte Gudrun.
Merkanto behielt die Hexe im Blick, doch alle Nervösität war von ihr abgefallen. Sie wirkte überzeugend, als sei es ihr wirklich nur peinlich, über solche Ausflüge reden zu müssen.
Trotzdem wurde Merkanto den Verdacht nicht los, dass sie ihn belog.
»Und du bist sicher, dass du nicht vielleicht aus Versehen mit Nepumuk Taidoni gesprochen hast?«, fragte er nach.
»Der?«, Gudrun lachte schnaubend. »Wie sollte ich ihn von hier erreichen. Ich habe keine Kristallkugel und keine klaren Seen, keine Brieftauben und auch sonst nichts.«
»Ich werde es Iljan trotzdem erzählen müssen, das weißt du«, sagte Merkanto.
Gudrun seufzte müde. »Tu, was du nicht lassen kannst.«
Es war natürlich ein seltsames Gefühl, sich von der besten Freundin tragen zu lassen, wenn man die Geschwindigkeit auch alleine halten könnte, doch Jackie hatte beteuert, dass es ihr nichts ausmachen würde. Im Gegenteil, sie schien förmlich aufzublühen, seit Iljan mit dem Bündel ihrer Kleidung auf ihrem Rücken Platz genommen hatte.
So waren sie auch früher schon geritten, im Vollmondlicht auf den Eiswüsten im Schattenreich. Zeiten, an die Iljan gerne zurückdachte. Schon damals waren sie beide geflohen, vor ihren jeweiligen Familien. Nur für wenige Stunden, zugegeben, doch im Rückblick erschien es ihm, als hätten sie dieses Abenteuer bereits geprobt – naiv und unwissend, wie Kinder, die den Kampf großer Helden nachstellten, ohne etwas von Krieg und Tod zu verstehen. Trotzdem fragte er sich, wie Jackie jemals an seiner Freundschaft hatte zweifeln können. Dachte sie wirklich, er hätte ihre Vergangenheit für die Elfe vergessen?
Vor Iljan saß Abarax, der in seiner neuen Gestalt zu klein war, um alleine zu reiten. Da er sich nicht von Terziel tragen lassen wollte, hatte Iljan kurzerhand beschlossen, ihn vor dich auf Jackies rücken zu setzen.
Er wich einem tiefhängenden Ast aus, der auf Kopfhöhe über den Pfad hing. Abarax war nicht wirklich glücklich mit dieser Lösung, aber er verstand, dass es nun einmal nicht anders ging.
Terziel flatterte ausgelassen über den Wipfeln und hielt mühelos die Geschwindigkeit bei, die Jackie anschlug. Iljan konnte sich nicht erinnern, den Engel jemals so glücklich gesehen zu haben wie nun, da seine Flügel offenbar endgültig geheilt waren. Hin und wieder waren die übermütigen Salti, die Terziel schlug, durch das Blätterdach zu erkennen.
Stella, mit Caryellê auf dem Rücken, folgte in Jackies Windschatten.
Das Einhorn tänzelte leichtfüßig und mühelos über den Boden, leiser als Jackie aber ebenso schnell. Der Wind, der Iljan in die Haare fuhr, erinnerte ihn an Antordia und das kurze Gefühl der Freiheit, als sie Nejakai auf ihrem eigenen Schiff hinter sich zurückließen. Und es erinnerte ihn an die nächtliche Flucht aus Crisayn, an die alptraumhaften Stimmen der Verfolger.
Wie, um seine bösen Erinnerungen zu unterstreichen, wurde Jackie plötzlich langsamer.
»Was ist los?«, fragte Abarax.
Jackie hob die Nase und knurrte.
»Sie riecht etwas«, übersetzte Iljan und ließ sich von ihrem Rücken gleiten.
Die Bogensehne schnitt ihr unangenehm in die Finger. Cary hatte schon zu lange darauf verzichtet, ihre Waffe auch einzusetzen. Sie fragte sich, was das für ihre Treffsicherheit bedeutete. Bisher hatte sie bei ihren üblichen Übungen nicht festgestellt, dass sie schlechter geworden wäre – doch würde sie sich immer noch im Kampf behaupten können? Um einen Feuerdrachen zu besiegen, würde sie ihr ganzes Geschick benötigen.
Mit angehaltenem Atem folgte sie Iljan durch das Unterholz. Jackie ging voraus, die Schnauze dicht am Boden. Sie hielt sich westlich von ihrem ursprünglichen Weg, führte sie zielstrebig immer weiter.
Terziel, Abarax und Stella folgten ihnen in einem so großen Abstand, dass sie kaum noch in Sichtweite waren. Im Zweifelsfall könnten sie versuchen, umzukehren und zu fliehen.
Cary merkte, wie sie bei jedem Geräusch aufhorchte. Der Wald um sie her war unnatürlich still. Keine Vögel sangen und auch keine Tierchen huschten durch das Unterholz.
Als sich der Wald vor ihnen unerwartet lichtete, klappte Cary vor lauter Entsetzen der Mund auf. Vor ihnen lag, was eigentlich die Außengrenze des Hobbitlands sein sollte, ein von kleinen Hütten und Feldern durchzogenes Wäldchen, das bis an die Klippen heran ragte. Doch stattdessen offenbarte sich ihrem Blick eine Wüste aus schwarzer Asche, verkohlten Baumstämmen wie verstreuten Leichen und aufgerissener Erde. Das einzige, was sich hier bewegte, waren Wolken von schwarzem Rauch, die der Wind über die Ebene trieb. Cary konnte bis zu den fliegenden Felsen von Arbor sehen, die durch die große Luftlagune trieben, eine gewaltige Einbuchtung in den Klippen, deren Boden von den Elfenwäldern bedeckt wurde – ihrer Heimat.
»War das der Drache?«, flüsterte Iljan.
»Nein, so sieht es hier immer aus«, Cary verdrehte die Augen.
Iljan warf ihr einen genervten Blick zu und zog seinen Degen. Vorsichtig wagte er sich näher an den Waldrand, wo die Pflanzen unregelmäßig und unvollständig verbrannt waren.
Sichtschutz wurde immer spärlicher. Sie betraten offenes Feld.
»Sie haben etwas entdeckt!«, Terziel zückte sein Schwert und beschleunigte seine Schritte.
»Ach, wirklich?«, fragte Abarax. »Das hätte ich fast übersehen.«
Terziel blieb stehen und sah ihn an: »Alles in Ordnung?«
»Klar. Bestens.«
»Du wirkst … anders als sonst.«
Abarax hob eine Augenbraue: »Wie, vielleicht kleiner?«
»Das meine ich nicht. Wenn es um das geht, was ich im Kerker gesagt habe -«
»Wieso sollte es darum gehen?«, Abarax stiefelte mit kleinen, wütenden Schritten an ihm vorbei. »Das hat doch keiner von uns so gemeint, vergeben und vergessen, blah, blah!«
Terziel warf einen kurzen Blick zu Stella, die auf eine Weise mit den Ohren wackelte, dass es ihm wie ein Schulterzucken vorkam.
»Abarax – warte!« Terziel rief leise, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen, und lief seinem Bruder nach. »Es tut mir leid, was ich gesagt habe, ehrlich. Du bist nicht schuld an dem, was geschehen ist – wenn überhaupt, sind wir beide schuld. Ich war einfach nur müde und verzweifelt, Alex, das musst du mir glauben.«
»Tja, und ich bin jetzt eben gereizt, weil ich seit Neustem die verdammte Gicht habe!«, schnaubte Abarax und hielt die kleinen, falten Hobbithände hoch. »Ich meine das alles ja auch nicht so!«
»Alex … «
»Und es heißt Abarax. Unsere Zeiten als Menschen sind lange vorbei!«
Der Nachtmahr stürmte auf die Baumgrenze zu.
»Abarax!«, rief Terziel, als gleich mehrere Geräusche ertönten, die ihm zum verstummen brachten.
Stella schnaubte warnend. Gleichzeitig rief Cary: »Leise!«
Und schließlich ertönte ein lautes, wütendes Brüllen, das die Blätter der Bäume um sie her erzittern ließ. Die sechs Kinder der Sonne duckten sich in den Schatten der letzten Bäume und Büsche, als sich ein großer Schatten am Himmel zeigte.
»Das ist jetzt wirklich nicht die Zeit, zu streiten!«, flüsterte Cary Terziel zu.
»Genau, wie hatte ich vergessen können, dass wir uns ja eigentlich gerade in den Tod stürzen wollten!«, flüsterte Abarax.
Terziel spähte zwischen den angesengten Blättern angestrengt nach oben. Dort kreiste ein Drache im Himmel, das war nicht zu überhören. Ein großer und wütender Drache noch dazu. Ein Schauer lief ihm zwischen den Flügeln über den Rücken. Er fühlte sich wie eine Taube, die plötzlich den Falken schreien hörte.
Allerdings wunderte sich diese Taube doch schon ein wenig über den Falkenschrei – etwas stimmte nicht.
»Er blutet«, berichtete Iljan, der die Augen halb geschlossen hatte. Durch die dünnen Schlitze seiner Lider blitzten seine Augen blutrot hervor. Terziel musste dem Versuch widerstehen, ein wenig von dem Vampir abzurücken. »Das Blut riecht nicht wie Drachenblut.«
»Du meinst, es ist kein Drache?«, Cary beugte sich vor, um einen besseren Blick auf das fliegende Ungetüm zu erhaschen, das weit entfernt und hoch am Himmel kreiste.
»Pass auf, dass es dich nicht sieht‹‹, meinte Stella.
»Nein … doch«, murmelte Iljan die Stirn verwirrt in Falten gelegt. »Ich kann es nicht genau sagen. Das Blut stammt aus einer alten Wunde, die eitert. Der Geruch ist verfälscht.«
»Oh«, machte Cary, die den vermeintlichen Drachen nun offenbar gesehen hatte. »Es ist tatsächlich ein Drache, aber … kein Feuerdrache.«
»Was?«, Terziel drängte sich neben Cary und zog einige Äste beiseite, um freie Sicht auf den Himmel zu erhalten.
Sie hatte Recht: Was da am Himmel kreiste, hatte einen langen, schlanken Leib mit vier kurzen Füßen und einem kräftigen, gemähnten Kopf, aber keine Flügel und keine kräftige Brust voller Feuersglut.
»Ein weißer Drache!«, hauchte Terziel.
»Schlimmer noch«, sagte Cary. »Ein weißer Drache mit einem Loch im Kopf.«
Sie sah ihre ratlosen Freunde an. »Es ist Mirkanish.«