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Mit nervtötendem Summen besserte Merkanto einen Riss in dem vom Terziel entliehenen, goldenen Überwurf aus.
»Kannst du nicht damit aufhören?«, fauchte Gudrun, die auf dem dünnen Strohbett in der anderen Ecke der Zelle saß.
»Man sollte seine Ausrüstung stets in Ordnung halten. Außerdem hilft eine Aufgabe, auf die man sich konzentriert, gegen die Frustration. Du könntest das auch mal probieren.«
»Ich meine das Summen«, Gudrun legte das Kinn auf den übereinandergelegten Unterarmen ab. »Du bist nicht einmal gut!«
Merkantos Blick wurde finster. »Dann hör nicht hin.«
»Würde ich ja gerne!«, fauchte Gudrun. »Aber hier drin hallt es nun mal wie in einer Riesenhöhle!«
Merkanto schüttelte mit einem Seufzen den Kopf. »Du sitzt schon zu lange rum. Beweg' dich mal.«
»Du hast mir nichts zu befehlen!«, gab Gudrun zurück. »Ich brauche keine Bewegung.«
Merkanto gab offenbar auf und nähte weiter, leise diesmal. Gudrun schloss die Augen, aber auch die Stille brachte ihr keinen Frieden.
Seit Tagen konnte sie nicht schlafen. Ein innerer Drang hielt sie wach, wann immer es still genug war, dass sie die leise Stimme ihres Instinktes hören konnte.
Nepumuk versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Seit ihr Ruf ihn in der letzten Nacht ihrer Freiheit verpasst hatte, wollte er offenbar unbedingt den Inhalt ihrer Botschaft wissen. Nur gab es, mit Merkanto zusammen in einer engen Zelle, keine Möglichkeit, unbemerkt mit dem Vampirfürsten zu sprechen. So konnte Gudrun seinen fernen Ruf lediglich ignorieren, der sich langsam zu pochenden Kopfschmerzen verwandelte.
Merkanto hob wieder an, zu singen. Diesmal war Gudrun schon fast dankbar für den Lärm, obwohl dieser ihre Kopfschmerzen nur noch verstärkte.
»Was summst du da überhaupt?«, fragte sie mies gelaunt.
Merkanto sah auf und schüttelte entgeistert den Kopf. »Das ist die große Ballade von der Sonnentänzerin.«
»Die Ballade von Wem?!«, schnaubte Gudrun abfällig, hauptsächlich, weil sie Merkantos entgeisterten Tonfall etwas zu herablassend fand.
»Du kennst das Lied nicht?«, spuckte Merkanto auch gleich aus.
»Nee, Sonnenländermusik hat mich noch nie interessiert.« Eine Lüge. Früher, in einem lange vergessenen Leben, hatte Gudrun Musik geliebt.
»Es ist ein Schattenreichlied«, belehrte Merkanto sie. »Die Geschichte einer Vampirin, die die Sonne selbst herausforderte. Sie wurde der Blutige Drache genannt, weil Feuer ihr kaum etwas anhaben konnte. In ihrem Leichtsinn befand sie, dass auch die Sonne nichts weiter sei, als ein großes Feuer am Himmel. Also wollte sie –«
Zu Gudruns endloser Erleichterung erklang Lärm von draußen, was ihr einen Vorwand gab, zum Fenster zu stürmen und Merkantos Ausführungen damit abzubrechen. Sie fasste die Stäbe des hohen Fensters mit beiden Händen und reckte den Kopf, um etwas zu sehen.
Aufgeregt plappernde Trauben von Hobbits waren um dem Platz vor dem Haus zusammengelaufen, hielten sich aber im Schutz von Seitengassen und Türöffnungen.
Merkanto trat hinter sie. »Iljan ist zurückgekehrt.«
Eine kleine, abgekämpft wirkende Truppe marschierte auf den Platz und blieb dort stehen. Gudrun suchte sofort nach Iljan, der in der vordersten Reihe stand, auf der einen Seite Cary, auf der anderen Jackie, die eine provisorische Binde um den Arm trug. Hinter ihnen standen Terziel und Stella. Und …
»Woher haben sie den Drachen?!«, entfuhr es ihr.
»Ich nehme mal an, Iljan wird uns eine Geschichte zu erzählen haben«, merkte Merkanto an.
Iljan hatte ihnen tatsächlich eine Geschichte zu erzählen. Eine, die, trotzdem der Vampir sich kurzfasste, niemals zu enden schien. Gudrun rutschte unbehaglich auf einem der Stühle hin und her, die Kalin Dachsbau hatte bringen lassen. Das Verhalten des Büttels ihnen gegenüber hatte sich grundlegend geändert, doch leider hatte Iljans Demonstration von gutem Willen ihre Wirkung verfehlt. Statt seine Einstellung ihnen gegenüber zu ändern, zitterte Kalin vor Furcht vor dem großen Drachen, den Abarax besetzt hatte.
Die Halblinge hatten sie allein gelassen, sie waren losgezogen, um Abarax' alte Hülle wieder zu beerdigen. Die Kinder der Sonne hätten ungehindert gehen können, doch Iljan bestand darauf, noch im Dorf zu bleiben. Er hoffte wohl immer noch, Kalin zu überzeugen.
Für Gudrun bot der Verbleib im Dorf lediglich die erfreulich Hoffnung auf eine Chance, sich unbemerkt davon zu stehlen. Nun musste sie nur auf einen Augenblick warten, in dem sie nicht beachtet wurde.
Ihre Stunde kam, als Iljan von einem Engelszauber berichtete, den Terziel genutzt hatte, um den Drachen endlich zu töten.
»Heiliges Feuer? Und ihr lebt noch?«, Merkanto, der bis eben Gudruns größte Sorge dargestellt hatte, fiel beinahe von seinem Hocker. »Terziel, weißt du nicht, welches Risiko das war?«
»Klar weiß ich es!«, gab der Engel heftig zurück. »Ich musste auf meinen eigenen Bruder schießen! Aber … ich habe Gudrun vertraut.«
Während sie sich unauffällig erhob und zur Tür schob, machte sich Gudrun einen geistigen Vermerk, Iljan nie wieder in der Obhut von Caryellê zurückzulassen. Er musste um jeden Preis überleben, ein Versagen würde Nepumuk ihr nicht verzeihen.
Nepumuk. Allein der Gedanke an ihn verstärkte den inneren Drang, bis es sich anfühlte, als ob ein glühender Haken an ihren Eingeweiden zerrte. Es war schon eine halbe Ewigkeit her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte.
Draußen war es kühl und die ersten Insekten der Dunkelheit krochen aus ihren Verstecken. Eine schöne Zeit, die Gudrun auch früher schon geliebt hatte. Vor Nepumuk … eine Zeit, die ihr wie ein ferner, farbloser Traum erschien.
Mit schnellen Schritten ließ sie das Dorf hinter sich, jede Gefahr vergessend. Es war nur noch wichtig, so schnell wie möglich an einen ruhigen Ort zu kommen, einen Ort mit einem See.
Sie lief schneller, rannte förmlich, während sie fieberhaft nach einem stillen Gewässer Ausschau hielt. Dort! – ein kleiner See, umrahmt von hohem Gras. Sie eilte an sein Ufer und ließ sich auf die Knie fallen.
Schnell zerrte sie die Kräuter aus dem Bündel, das sie bei sich trug. Ihre Finger zitterten so stark, dass die trockenen Blätter in das Gras fielen.
»Nein! Nein!«, sie durchwühlte das Gras mit unsteten Fingern, klaubte die Kräuter zusammen. Der Wind frischte auf, drohte, die wichtigen Zutaten ihrer Hand zu entreißen.
Sie legte die Handflächen aneinander und verrieb die Kräuter, bis der betörende, warme und süßliche Geruch nach Nachtschattengewächsen und Eibe aufstieg.
Mit einem geflüsterten Wort warf sie die Kräuter auf den See, beugte sich dabei so gierig vor, dass sie beinahe im Wasser gelandet war.
»Nepumuk‹‹, keuchte sie. Atemlos, als wäre sie gerannt.
Das Wasser kräuselte sich und da war er: Bleich und kühl wie der Mond, die hohe Stirn ärgerlich gerunzelt. Die Zornesfalten ließen ihn hässlicher erscheinen als er war und Gudrun zog sich das Herz zusammen. Sie hasste es, ihn so zu sehen.
»Warum schweigst du so lange?«, flüsterte Nepumuk mit kalter Stimme. »Was ist geschehen? Wo ist mein Sohn?«
»Wir sind noch im Sonnenland. In einer Hobbitsiedlung«, berichtete Gudrun. »Iljan geht es gut.«
»Ihr seid nah am Sonnenschloss – warum erfahre ich erst jetzt davon?«, knurrte Nepumuk. »Warum seid ihr noch nicht zurück?«
»Bitte!«, Gudrun kauerte sich zusammen. »Ich tue, was ich kann. Doch es ist schwierig. Iljans Freunde bewachen ihn streng. Und sie misstrauen mir, ich kann mich nicht immer fort schleichen.«
Nepumuks Gesicht wurde riesig auf dem Teich, als er sich vorbeugte. »Wenn seine Freunde dir im Weg sind – warum leben sie noch?«
»Kurios«, kommentierte Merkanto, während er über Abarax' Schuppen strich. Der große Drachenkörper hatte in Kalins Hütte keinen Platz gefunden, doch der Hobbitbüttel hatte bereitwillig das Fenster geöffnet, damit auch Abarax den Bericht über die Ereignisse mitverfolgen konnte. Bis eben hatte er sich Draußen in Sicherheit gewägt, doch nun war Merkanto zu ihm gekommen und umkreiste ihn mit aufdringlicher Neugier.
Abarax warf unschlüssige Blicke zu Terziel, der mit den anderem im Halbkreis um ihn stand. Er überlegte ob er ruhig bleiben sollte, obwohl er sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit nicht wohl fühlte. Es juckte ihn unter den Schuppen, Merkanto von den Füßen zu schlagen und davon zu gehen.
»Wir werden ausprobieren müssen, ob du Feuer spucken und fliegen kannst«, fuhr der Zauberer fort, während er sich über den unordentlichen Bart strich. »Das könnte uns Vieles erleichtern.«
Abarax blähte die Nasenflügel. Was sah Merkanto eigentlich in ihm? Eine interessante und möglicherweise nützliche Maschine?
»Oh, das wäre großartig!«, lachte Jackie. »Unser eigener Sonnenlanddrache!«
Abarax hatte genug. Er machte einen heftigen Schritt nach hinten und bleckte die Zähne. »Probieren wir es aus!«
Die Kinder der Sonne stoben vor seiner Schnauze zur Seite.
»Doch nicht hier!«, protestierte Merkanto und riss die Arme hoch.
Mit einem weiten Sprung war Abarax im Himmel und breitete die Krallen aus.
Doch die Schwerkraft zog ihn sofort wieder nach unten.
Wild mit den kurzen Beinen rudernd warf sich Abarax zur Seite und krachte somit nur auf den Marktplatz und nicht auf das Haus von Kalin.
Als er sich aufrappelte, kamen die anderen schon zu ihm gerannt.
»Alles in Ordnung?«, rief Terziel besorgt.
»Was tust du denn, Hitzkopf?«, schnaufte Merkanto. »Sowas übt man in Ruhe und an einem sicheren Ort!«
»Das hier ist der sicherste Ort weit und breit«, knurrte Abarax mit seiner neuen, grollenden Stimme. »Offenbar kann ich nicht fliegen. Zufrieden? Oder soll ich das Feuer noch ausprobieren?«
Merkanto schüttelte nur müde den Kopf.
Kalin und die restlichen Hobbits kehrten erst am frühen Morgen des nächsten Tages zurück. Die Kinder der Sonne hatten kaum geschlafen, weil sie ständig mit der Ankunft des Büttels rechneten – Kalin dagegen schien enttäuscht, als er seine müde Schar ins Dorf führte und die Kinder der Sonne auf dem Marktplatz wartend vorfand.
»Da sind sie!«, rief Iljan und seine Freunde sammelten sich zu einer dicht gedrängten, verstohlen gähnenden Traube.
Kalin kam ihnen mit schicksalsergebenem Gesichtsausdruck entgegen.
»Wir brechen auf«, sagte Iljan zur Begrüßung. Kalins Gesicht hellte sich merklich auf: »Jetzt gleich?«
»Ja. Wir haben nur auf euch gewartet«, Iljan ließ den Blick über die Hobbits schweifen, die sich eilig in ihre Häuser retteten. Es tat ihm in der Seele weh, dass er ihr Vertrauen nicht gewinnen konnte. Er hatte wahrlich alles versucht.
»Warum habt ihr denn gewartet?«, stammelte Kalin. Seine Stimme zitterte.
»Wir wollten nicht einfach aufbrechen, ohne uns zu verabschieden.« Iljan lächelte, achtete aber peinlich darauf, dass seine Zähne verborgen blieben. »Wir haben ein Geschenk für euch.«
Er nickte Cary zu, die mit einem kleinen Korb aus Schilf zu ihnen kam. Sie überreichte den Korb und Kalin schlug das grobe Tuch zurück, das den Inhalt bedeckte.
»Es ist nicht viel«, sagte Iljan entschuldigend, »Es ist eigentlich nur eine symbolische Geste. Es tut uns leid, dass wir euch belogen haben und noch mehr tut uns die unglückliche Geschichte mit Habir leid. Wir hätten eure Toten niemals angerührt, wenn uns eine Wahl geblieben wäre.«
Kalin betrachtete den Inhalt des Körbchens kritisch, der einige ihrer Vorräte aus Wisan und von den Mondhörnern beinhaltete, sowie einige Kräuter, von denen Gudrun behauptet hatte, dass sie sich für die Kräuterfrau der Hobbits als nützlich erweisen würden.
Kalin wirkte überrumpelt. »Danke«, stotterte er schließlich.
Iljan neigte leicht den Kopf und wandte sich zum Gehen. Vielleicht hatte er hier doch noch etwas bewirken können, wenn auch erst, als sie das Dorf verließen.
Schweigend und müde schlurften die Kinder der Sonne vom Marktplatz und begaben sich zurück in die Wälder, die ihnen Schutz bieten würden … für eine Weile, denn sie wussten, dass das Aschenfeld vor ihnen lag.
Nachdem sie bereits früh am Mittag eine lange Pause eingelegt hatten, trat Iljan im schwindenden Licht zu Cary. Er war in ihrer Nähe immer unsicherer geworden. Wie sollte er ihr verrücktes Spiel aus Zurückweisung und Freundlichkeit bloß interpretieren?
Für den Moment gab es aber einen Grund, mit ihr zu sprechen, und das reichte ihm.
»Welchen Weg sollen wir einschlagen?«, fragte er sie.
Cary streckte sich und warf einen prüfenden Blick in den Himmel. »Wir sind weit genug von Antordia, als dass wir uns nicht mehr an die typischen Handelsrouten halten müssen. Ich denke, es ist Zeit, den direkten Weg zum Weißen Schloss einzuschlagen.«
Iljan merkte, wie sein Herz schneller schlug. »Der direkte Weg? Der führt uns die Klippen herunter, nicht wahr?«
»Solange wir den Abgrund nicht umlaufen und einen Umweg über Stokiq machen wollen, müssen wir uns an den Abstieg machen.«
»Stokiq?«, wiederholte Iljan. »Die Zwergenstadt?«
»Genau. Ich denke, von Zwergen haben wir wirklich genug gesehen.«
Iljan nickte schnell. »Aber trotzdem – wie kommen wir mit einem Einhorn die Klippen herab, ganz zu schweigen von jenen, die nicht fliegen oder gut klettern können?«
Cary zögerte. »Es gibt einen Elfenpfad, der von den Klippen nach Ynmerie führt. Um ihn zu erreichen, müssen wir jedoch die fliegenden Felsen von Arbor überqueren. Trotzdem ist es der einzige sichere Abstieg, von dem ich weiß.«
»Ein großer Umweg?«, fragte Iljan.
»Die Hälfte der Strecke bis nach Stokiq.«
»Und die fliegenden Felsen?«
»Ich denke, dort können wir durchschlüpfen, wenn wir uns als Händler ausgeben. Ansonsten müssen wir die Felsenbucht umrunden, was uns sicherlich zwei Wochen kosten würde.«
Iljan sah forschend in Carys Gesicht. »Wir haben Zeit, wenn wir sie brauchen. Wie groß ist das Risiko in Arbor?«
»Nicht so hoch wie das Risiko, dass Nejakai uns einholt. Du täuscht dich, Iljan. Wir haben wenig Zeit. Nejakai jagt uns. Sie kennt unser Ziel und wir müssen unbedingt vor ihr am Weißen Schloss ankommen, sonst werden wir dort nur von gezückten Speeren erwartet.«
Iljan seufzte. Cary klang überzeugt von ihren Worten und er würde ihre Erfahrungen mit Weißen Wächtern nicht in Frage stellen. »Also führt uns unser Weg durch Arbor.«
»Und dann durch die Elfenwälder Ynmerie«, Cary lächelte. »Meine Heimat.«