https://www.deviantart.com/ifritnox/art/767246642
Vier Tage, nachdem Flais Knorggenhau sie am Fuß des Einhornfelsens abgesetzt hatte, befanden sich die Kinder der Sonne nach einem anstrengenden Gewaltmarsch endlich am höchsten Punkt des Elfenpfades.
In schwindelerregenden Serpentinen wand sich der viel zu schmale Pfad nach unten, wo sich der Weg bald in bläulichem Nebel verlor. Die Luft war geschwängert mit Feuchtigkeit, wie die unzähligen blassen Regenbögen verrieten, die die untergehende Sonne auf das Nebelmeer zauberte. Nur ab und zu durchbrach ein Baumwipfel schattenhaft die wirbelnden Schleier.
››Es wird ein harter Abstieg‹‹, teilte Cary ihren Freunden mit, während sie ihr Bündel zuzurrte. ››Aber morgen früh ist es vorbei und wir befinden und auf dem Waldboden.‹‹
Niemand ihrer kleinen Gruppe schien besonders glücklich darüber, diesen Abstieg noch heute Nacht zu beginnen. Merkanto bestand darauf, dass sie den Schutz der Dunkelheit nutzten, denn auf der Felswand wären sie von weither gut zu sehen.
Sie hätten einen vollen Tag verloren, wenn sie sich für eine Pause entschieden hätten.
››Wenn wir Ynmerie erreicht haben, machen wir eine Pause‹‹, versprach Cary ihrem Gefolge. ››Doch ihr dürft in eurer Wachsamkeit nicht nachlassen. Die Elfenwälder sind bekannt dafür, die Sinne von Fremden zu verwirren. Ihr dürft euch auf keinen Fall von der Gruppe trennen, denn wir können uns nicht damit aufhalten, euch zu suchen.‹‹
Sie seufzte und wandte den Blick ab. Ihre Freunde mussten nicht erfahren, wie groß ihre Sorge in Wahrheit war. Sie wusste nicht, ob sie alle Kinder der Sonne sicher durch die Wildnis führen konnte. Die Verantwortung lastete schwer auf ihr. Die Elfenwälder boten für Wesen der Dunkelheit unberechenbare Gefahren – die Wälder waren so rein, dass sie sich gegen die Eindringlinge wehren würden. Bäume und Pflanzen besaßen hier ein Eigenleben, das noch rätselhafter war als die Dryaden im Wald der Seen oder die Comori von Wisan. Sie hatte ihren Freunden verschwiegen, wie groß die Gefahr wirklich war.
Wortlos schulterten die Kinder der Sonne ihr mageres Gepäck. Flais hatte ihnen für einen guten Preis einige Nahrungsmittel verkauft, hauptsächlich Elbenbrot und Trockenfrüchte, die sie lange aufbewahren konnten. Trotzdem würden sie in nicht allzu ferner Zukunft neue Nahrung auftreiben müssen.
Cary betrat den steilen Pfad als Erste. Die Steine unter ihren Schuhsohlen waren locker und glatt, doch ihre Schritte riefen kein Geräusch hervor.
Ynmerie, ihre Heimat, rief nach ihr. Cary spürte, wie ihr Herz vor Sehnsucht stärker schlug. Wie lange war sie fort gewesen! Und wie sehr sehnte sie sich nach ihrer Heimat. Nein, sie sehnte sich nach ihrer Kindheit, danach, wie ihr Leben früher verlaufen war, vor … vor den Weißen Wächtern, als sie noch keine Kriegerin gewesen war.
Doch diese Zeit war unwiderruflich verloren. Jeder Schritt in die Tiefe schien sie auch der Schwermut näher zu bringen. Sie kehrte nach Hause zurück. Lange ersehnt, war dieser Tag doch so ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Sie hatte keine Rache genommen, im Gegenteil, sie hatte ihr Herz verraten und sich einer noch hoffnungsloseren Mission angeschlossen. Sie kehrte nicht zurück, um Frieden zu finden, sondern als Teil der Schattenbringer.
In diesem Moment erschien ihr der Name, der den Kindern der Sonne gegeben worden war, wie ein Omen.
Stellas Hufe fanden auf den glatten Felsen nur schlecht Halt. Nichts wuchs auf diesem ersten Abschnitt ihres Abstiegs, das ihr Festigkeit zu bieten vermochte. So ging sie langsam, den Kopf gebogen und weit nach hinten genommen. Der Pfad war steil und zu rutschig für ihren Geschmack, am liebsten wäre sie umgekehrt – doch Cary würde sie überall hin folgen.
Langsam rückte die dichte Nebeldecke näher. Plötzlich schien der Pfad vor ihnen ins Nichts zu führen. Die Kinder der Sonne hielten auf der breiten Abbruchkante an und sahen zweifelnd in die Tiefe.
››Oh, diese Stelle‹‹, meinte Cary. ››Das habe ich fast vergessen – hier müssen wir irgendwo in den Berg kommen.‹‹
Fast synchron drehte sich die Gruppe der scheinbar massiven Bergwand in ihrem Rücken zu.
››Wie meinst du das, irgendwo?‹‹, fragte Iljan leise.
››Ich kenne den Weg eigentlich nur aus der anderen Richtung‹‹, sagte Cary entschuldigend. ››Hier ist eine hohe, schmale Spalte. Sucht!‹‹
Es mochte ein entwürdigender Anblick sein, wie sich alle mit den Bäuchen an den Stein pressten und den Berg abzuklopfen begannen. Stella warf einen Blick nach oben und nahm dann ihre Feuerform an, um ihren Gefährten ein wenig Licht zu spenden. Doch immer noch offenbarte sich ihnen keine Lücke im Stein, kein geheimer Pfad, um sie in den Berg zu führen.
››Bist du sicher, dass wir richtig sind?‹‹, fragte Merkanto Cary.
››Ja. Ich hoffe nur …‹‹, sie hielt einen Moment inne. ››Ich hoffe, der Pfad ist nicht durch Magie versperrt!‹‹
Die anderen sahen Cary entsetzt an. Stella spürte den Wind, der an ihren Flammen zerrte. Die Elfenwälder lagen noch tief, tief unter ihnen.
››Hier!‹‹, rief Gudrun plötzlich und – verschwand einfach im Stein. Kurz danach tauchte eine winkende Hand der Hexe auf. ››Ich hab den Weg!‹‹
››Dann nichts wie weiter!‹‹, Cary grinste erleichtert.
Die Spalte war tatsächlich gut verborgen, zwei gleichfarbige Felsen bildeten große Überhänge, zwischen denen man sich hindurchschlängeln musste, um dahinter in eine düstere Enge zu treten. Stellas Flammen erhellten die Dunkelheit flackernd. Sie liefen, begleitet von ihrem Echo, durch Kathedralen und Grotten, von deren Decken Tropfsteine hingen. Bald glitzerte der Boden wie frisch gefallener Schnee, bald warfen unzählige Edelsteine das Licht in allen Farben zurück. Winzige Bäche plätscherten über den Stein und durch Hallen, die gefüllt waren mit großen Säulen, wo Stalagmiten und Stalaktiten sich in an den Spitzen trafen.
››Berührt nichts‹‹, wies Cary sie mit ruhiger Stimme an. ››Die Steine dürfen nicht verunreinigt werden, oder sie hören auf zu wachsen.‹‹
Gudrun verbarg die Hände schuldbewusst hinter dem Rücken.
Der Gang, zuerst schmal und hoch, verbreiterte sich bald, obwohl überhängende Felsen die Kinder der Sonne oft zwangen, sich zu bücken. Merkanto stricht trotz Carys Worten andächtig über die Felswände – er wusste, dass sich Carys Warnung auf die Tropfsteine bezog, die überall um sie her wuchsen, von der Decke hingen und aus dem Boden sprossen. Diese wunderschönen Steine brauchten ewig, um zu wachsen und eine einzige Berührung konnte sie für immer zerstören.
Doch die Felsen selbst zogen seine Aufmerksamkeit magnetisch an. Er entdeckte Stellen, wo Fossilien sich in dem Stein verbargen, nahezu unsichtbar. Während der Weg sie langsam nach unten führte, entdecke Merkanto die Überreste uralter Meeresbewohner, dann Spuren früherer Bewohner der Höhle: Da gab es Metallgeräte und einzelne Tasten, Höhlenmalereien, Zähne und Krallen, dort einen Abdruck dreizehiger Füße oder dort einen Schatten von Echsenhaut. Die Höhle war wie eine Reise rückwärts in der Zeit. Merkanto fühlte sich jung angesichts der Äonen, die sich nun vor ihm erstreckten, dem ungeübten Blick verborgen.
››Hier gab es Menschen‹‹, er bückte sich nach etwas Buntem, das er in einer Nische erspäht hatte.
››Nicht anfass- ‹‹, Cary unterbrach sich. ››Was ist das?‹‹
Merkanto präsentierte einen Beutel aus einem merkwürdigem, glatten Material, schmutzstarr und ausgeblichen.
››Plastik‹‹, hauchte er. ››Überreste der Vorzeit.‹‹
››Wovon redest du?‹‹, fragte Jackie. Sie und die ganze Gruppe hatten sich um Merkanto versammelt.
Er reichte den Beutel herum. ››Keine Angst. Ihr könnt es nicht zerstören. Plastik ist ein ewiges Material, das die Menschen vor der Zeit von Umira geschaffen haben.‹‹
Er erntete fragende Blicke.
››Bevor es die Gabe der Wandlung gab‹‹, begann er, ››lebten nur Menschen in dieser Welt. Erst Umira erschuf Elfen und Vampire und all die anderen Wesen. Umira vernichtete auch die Vorzeit, denn es gab unzählige Kulturen und viele Weisen unter den Menschen.‹‹
››Menschen?‹‹, tönte Gudrun abfällig.
››Sie waren anders als heute. Sie hatten ihre eigene Magie, die all ihre Schwächen in Stärken verwandelte. Gewaltige, bewegliche Bergketten, fliegende Maschinen, Häuser von großer Kunstfertigkeit. Sie verloren ihr Wissen irgendwann, ich denke, das es mit der Gabe der Wandlung zusammenhängt. Umira kam und vernichtete die Vorzeit, um diese neue Welt zu schaffen.‹‹
Die Plastiktüte kam wieder bei ihm an. Merkanto überlegte und steckte sie dann ein. Man konnte nie wissen, wann ein Zauberding der Vorzeit sich als nützlich erweisen würde.
››Irgendwie stimmt es mich traurig‹‹, sagte Cary. ››Wir wissen nichts mehr von der Vorzeit.‹‹
››Das alles ist lange, lange her‹‹, Merkanto lächelte und wies auf die Wände. ››Es gibt so vieles, das wir nicht wissen, denn vor den Menschen gab es bereits Drachen auf dieser Welt. So viele Wunder, die verloren sind.‹‹
Schweigen senkte sich über die Gruppe. Sie zogen weiter.
Nicht viel später wurde Cary plötzlich langsamer. Iljan schloss zu ihr auf und sah bald einen Lichtschimmer, dessen Ursprung sich hinter einer Biegung verbarg. Cary ging mit angehaltenem Atem darauf zu.
››Andere Reisende?‹‹, wisperte Iljan. Statt eine Antwort zu geben, schüttelte Cary den Kopf und gab Stella ein Handzeichen, worauf das Einhorn seine normale Gestalt annahm.
Dunkelheit umschloss sie. Iljan hörte an den Schritten seiner Gefährten, wie sie sich vorsichtig voran tasteten, wo sich seine Augen schon deutlich schneller an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten.
Sie bogen um die Kurve und Iljan erblickte den Grund dafür, dass Cary langsam geworden war. Es war nicht der befürchtete Hinterhalt, sondern eine große Höhle, die angefüllt war mit hellem Leuchten, verirrten Sonnenstrahlen, die ihren Weg in diese Höhle fanden und sich auf unzähligen bunten Kristallen und im Wasser vieler kleiner Teiche brachen.
Die Höhle war so riesig, das selbst Abarax' neue Gestalt hier winzig erschien, mühelos fand der Drache zwischen den Säulen aus zusammengewachsenen Tropfsteinen Platz. Das Wasser der Bäche war so klar, dass sie flach erschienen, doch zerbrochene Lanzen und Schwerter, die in ihnen lagen und aus ihnen herausragten, straften diesen Eindruck Lügen.
Riesige Tropfen von Bernstein hingen von der Decke, und eingeschlossen in diese goldenen Gefängnisse entdeckte Iljan Menschen mit Waffen und in fremdartiger Kleidung, Verwundete, Sterbende und Kämpfende, ein ferner Krieg, eingefroren in Baumharz und nun beleuchtet vom Farbenspiel der Kristalle.
››Die letzten Tage des Kampfes‹‹, flüsterte Merkanto. ››Damals begann der Ewige Krieg, der bis heute fortdauert, zwischen Gut und Böse.‹‹
Iljan sah die Menschen an, die nun für alle Zeit unsterblich im Felsen sein würden. In ihren Gesichtern stand Hass und Überraschung.
››Die Elfen verschlossen diese Pfade, als der Kampf drohte, unser Reich zu überrollen‹‹, berichtete Cary leise. ››Es gibt die Legende, dass sie eines Tages wieder aufwachen werden, um den Kampf zu Ende zu bringen.‹‹
››Wer steht auf welcher Seite?‹‹, fragte Gudrun. ››Ich sehe keinen Unterschied zwischen ihnen.‹‹
››Das war sehr philosophisch für deine Verhältnisse‹‹, knurrte Abarax amüsiert.
››Vermutlich sind die Farben ihrer Uniformen mit der Zeit verblasst‹‹, riet Merkanto. ››Ich würde nur zu gerne später zurückkehren und sie weiter erforschen.‹‹
››Meine Erlaubnis hast du‹‹, lächelte Cary. ››Ich denke nicht, dass es die anderen Elfen groß stören wird, wenn ihr erst einmal Sonnenländer seid.‹‹
Trotz Carys optimistischer Worte legte sich neuerlich Schweigen über ihre Gruppe. Iljan merkte, dass er Cary widersprechen wollte. Er glaubte nicht länger daran, dass es für sie Hoffnung auf ein friedliches Leben gab. Er ging einfach nur weiter, weil es keinen Rückweg mehr gab, weil schon zu viel verloren war, um einfach aufzugeben.
Doch er glaubte nicht mehr an seine Mission.
Die Luft wurde kühler, eine Verheißung der nahen Wälder, als ihr Weg sie schließlich wieder aus dem Berg herausführte.
Der Pfad, nun eine breite, geschwungene Straße in der sanften Neigung der Bergfüße, gesäumt von vereinzelten, dunkelgrünen Laubbäumen, wurde zusehends erdiger, der feste Stein wich Kies und Gras.
Die Elfenwälder lagen vor ihnen und Cary atmete den klaren Duft ihrer Heimat tief ein. Oh, wie sie Ynmerie vermisst hatte! Doch der vertraute Geruch trug für sie auch Schwermut mit sich.
Adhairos. Lange war sie vor der Erinnerung geflohen. Nun begab sie sich zurück an diesen Ort, wo ihre Geschichte begonnen hatte: Ihre Ausbildung bei den Weißen Wächtern hatte an jenem Tag begonnen, da sie Ynmerie damals verlassen hatte.
››Was ist das für ein Geruch?‹‹, wunderte sich Gudrun.
››Rosmarin und Thymian.‹‹ Es war Iljan, der antwortete. Der Vampir war stehen geblieben und hielt die Nase in den schwachen Wind, die Augen halb geschlossen.
Jackie sprang auf einen kleinen Felsen und reckte ihre Nase ein ganzes Stück höher in die Luft: ››Und Schnittlauch und Brombeeren! Ich rieche Feigen und Honig und -‹‹, sie zog die Luft tief ein, ››und Lilien, Schneeglöckchen, Traumblumen!‹‹
Cary spürte, wie sich ein Lächeln auf ihre Lippen stahl. Die unverbindliche, kindliche Freude ihrer Begleiter ließ ein Gefühl der Wärme in ihrem Herzen entstehen. Vielleicht sollte sie aufhören, ihre Heimat durch die Augen der Vergangenheit zu betrachten. Sie sollte diese Wälder sehen, als wäre es das erste Mal.
Und Cary sah. Sie sah uralte, majestätische Bäume, Abkömmlinge von Arbor, der hoch über ihnen auf den fliegenden Felsen wuchs. Ihre Blätter, obwohl von dunklen Farben, schimmerten silbrig. Obwohl über dem dichten Nebel, der wie eine Decke über dem Wald ruhte, die Sonne aufging, schien hier unten der Mond zu herrschen, der ewige, sanfte, traumbegleitende Mond. Kleine Blumen, weiß und blau, wuchsen zwischen den Wurzeln der Bäume. Der Wald war dicht, doch zugleich fand man überall einen Pfad, den man beschreiten könnte, sanfte Wege über taufeuchtes Moos. Schon nach wenigen Schritten unter den dunklen Baumkronen verlor man den Überblick über die Richtungen. Sterne, Sonne und Mond waren nicht zu erkennen, im Zwielicht unter den Bäumen war es unmöglich, zu sagen, ob man geradeaus oder in einer leichten Kurve wanderte. Aus verborgenen Winkeln drang das Plätschern kleiner Wasserquellen oder das Singen kleiner Vögel. Alles lud dazu ein, Gedanken und Füße wandern zu lassen, ziellos durch das Schimmerlicht. Fremde konnten hier leicht für alle Zeiten verloren gehen. Es brauchte den Instinkt eines Elben oder Elfen, um in dieser Welt ein Ziel zu erreichen.
Vor sich sah Cary etwas Weißes aufblitzen, vielleicht nur ein Trugbild im Halblicht, doch weil sie wusste, dass dies ihr Weg war, dass sie dem Hellen folgen musste, begann sie zu laufen.