https://www.deviantart.com/ifritnox/art/770206915
Wie schon so oft zuvor befanden sich die Kinder der Sonne in Gefangenschaft. Inzwischen schätzte Merkanto es hoch, dass ihre Gefängnisse wenigstens sehr viel Abwechslung boten. Sie hatten schon auf und in Bäumen in der Klemme gesessen, in unterirdischen Höllenlöchern und auf einem Schiff!
Bei den Wichteln gab es keine Gefängnisse – oder jedenfalls keine, die groß genug für die Kinder der Sonne gewesen wären.
Nachdem Iljan bei allem möglichen geschworen hatte, dass sie keine Fluchtversuche unternehmen würden, hatten die Wichtel die kokonartige Verschnürung gelöst und ihnen lediglich die Beine bis zu den Knien zusammengeschnürt. Sie hatten sogar Abarax und Stella auf diese Weise gefesselt.
Sie konnten sich lediglich mit albernen, anstrengenden Hüpfbewegungen fortbewegen, die eine Flucht höchst unwahrscheinlich machten. Die Wichten schienen damit zufrieden zu sein, denn sie gingen ihrem wuselnden Tagewerk nach, das in einer Art Miniaturstadt in einiger Entfernung stattfand. Dort lebten die Wichtel in kleinen Häusern aus bunten Pilzen, die sie vielleicht aus Quyhst importiert hatten. Die Pilze waren in Häuser umgestaltet worden, mit Türen, Fenstern und sogar kleinen Schornsteinen, aus denen Rauch aufstieg. Wege im – für die Wichtel – kniehohen Moos verbanden die Häuser miteinander.
Merkanto rückte in eine etwas bequemere Position – er saß mit dem Rücken an einem Baumstumpf und eine Wurzel drückte ihm unangenehm ins Gesäß.
Sofort war er von Wichteln umringt, die ihn misstrauisch betrachteten. ››Keine faulen Tricks, Großer!‹‹
››Ja, ja‹‹, sagte er gelangweilt.
››Leute … ‹‹, flüsternd weckte Jackie die Aufmerksamkeit der anderen.
Alle sahen sie fragend an, aber sie machten keinen Mucks. Offenbar hatten sie instinktiv verstanden, dass die Wichtel mit ihren feinen Ohren bei jedem Wort misstrauisch wurden.
››Sie haben einen Boten geschickt‹‹, hauchte Jackie fast lautlos. ››An Nejakai.‹‹
Sie war sich nicht sicher gewesen, ob ihre Worte die anderen überhaupt erreichen könnten, doch als sich Augen wieteten und die Kinder der Sonne blass wurden, wusste sie, dass sie Erfolg gehabt hatte. Nicht, dass ihr der Triumph sonderlich viel brachte.
››Was sollen wir tun?‹‹, fragte Iljan. ››Sie bringt uns um!‹‹
››Ging die Botschaft an Nejakai oder nur an die Weißen Wächter?‹‹, fragte Cary nach.
Der Lärm aus dem Wichteldorf, zwar leise, doch so zuverlässig wie ein murmelnder Bach, brach jäh ab. Die Kinder der Sonne erstarrten und sahen zu den winzigen Wesen herüber, in deren Gewalt sie sich befanden. Mehrere Wichtel standen auf Baumwurzeln und sahen sie misstrauisch an.
Als sich bei den Gefangenen nichts regte, ging die Arbeit im Dörfchen weiter.
››Nejakai‹‹, Jackie flüsterte nicht einmal mehr, sie formte die Worte lediglich mit den Lippen.
Schatten legten sich auf die Gesichter ihrer Freunde. Doch ihre Unterredung wurde unterbrochen, weil eine Gruppe Wichtel zu ihnen trat.
Die kleinen Wesen sagten nichts, pflanzten sich aber um sie herum auf Baumwurzeln oder ähnlichen Erhebungen auf und begannen, die Gefangenen mit durchdringenen Blicken zu beobachten.
Die Sicherheitsmaßnahmen waren verstärkt worden – weitere Gespräche waren unmöglich.
››Wo wir schon so nett beisammensitzen‹‹, sagte Terziel plötzlich. ››Darf ich euch um etwas bitten?‹‹
Cary hielt die Luft an. Terziel richtete die Frage an die Wichtel, die sofort ihre winzigen Waffen fester packten. Der Engel wirkte seltsamerweise sehr gut gelaunt. ››Kann ich vielleicht etwas zu trinken haben? Oder gibt es einen Fluss in der Nähe? Ich habe wirklich schrecklichen Durst.‹‹
››Vergiss es!‹‹, schnaubte einer der Wichtel mit hoher, piepsiger Stimme. ››Du willst nur abhauen.‹‹
››Naja, es ist eher so – wir haben eine lange Reise hinter uns und Nejakai wird uns wohl auch nicht gerade ein Festessen schenken.‹‹ Terziel zuckte gleichgültig mit den Schultern. ››Ist schon gut, ich wollte nur fragen.‹‹
››Es hat euch niemand gezwungen, durch das halbe Sonnenland zu reisen!‹‹, fauchte der Wichtel angriffslustig. Inzwischen waren mehrere Gnome erschienen, die erfahren wollten, worum es bei dem Radau ging.
››Wir haben einen Teil der Strecke sogar doppelt gemacht!‹‹, fuhr Terziel fröhlich und unbeirrt fort. ››Drei Drachen haben uns aus Wisan entführt, wo wir eigentlich auf eine Verhandlung der Cereceri gewartet haben – wir sind dann auch später zurückgekommen und Jafis hat uns erlaubt, weiter zu ziehen. Aber die Drachen haben uns jedenfalls bis nach Quyhst getragen – kommen eure Pilze nicht dort her? – bevor wir, nun ja, absteigen konnten.‹‹
Die Wichtel verdrehten genervt die Augen, doch Cary beachtete es nicht. Beide Male, als er das Wort ›Drachen‹ gesagt hatte, hatte Terziel ihr einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen.
Der Engel hatte einen Plan! Und einen guten Plan, wie sie zugeben musste. Und sie wusste auch noch, dass eine Wasserquelle in der Nähe war, denn die Gnome hatten schuldbewusst in die Richtung geblickt, als darüber gesprochen worden war.
›Terziel, du durchtriebener Mistkerl!‹, dachte Cary und grinste innerlich.
Ihre Gefängniswärter unterbanden die Geschichte schnell, doch eine Art Bann schien gebrochen – die Kinder der Sonne verfielen in lockere Plaudereien, ohne sich um die Blicke der Wichtel zu kümmern. Zwei Wachen standen ständig in ihrer Nähe, andere waren vermutlich schlichtweg nicht zu sehen, aber anwesend, sodass die Gruppe keine Fluchtpläne machen konnte. Es wurde ihnen aber nicht verboten miteinander zu sprechen.
Trotzdem blieb Cary zunächst still und wachsam. Sie behielt die Wichtel im Auge, während sie gleichzeitig wusste, dass Terziel wiederum sie im Auge behielt und auf ihren Einsatz wartete. Sie hatte ihm bereits mit einem verstohlenen Nicken vermittelt, dass sie den Plan verstanden hatte. Dennoch – sie hatte Angst, dass die Wichtel ihren Plan durchschauen könnten. Vielleicht machte sie sich zu viele Gedanken, doch sie durfte nicht riskieren, dass man sie vor der Zeit zum Schweigen brachte.
Der Tag schritt voran, und wenngleich sie nicht sehen konnte, wie sich das Licht veränderte, spürte sie den Abend nahen.
In der Dämmerung, so wusste sie, war der Einfluss der Magie von Ynmerie am größten.
Sie richtete sich auf und warf Terziel einen vielsagenden Blick zu. ›Jetzt!‹
Der Engel bewegte sich mit den Fesseln und machte seltsame Verrenkungen in dem Bestreben, seine Schwingen zu strecken.
››Himmel, ich wünschte, die Natur hätte mich nicht mit zwei dummen Flügeln ausgestattet!‹‹, stöhnte er und unterbrach damit eine Erzählung Jackies über ihr früheres Leben in einem Dorf nah an der Grenze – bevor sie zur Wölfin geworden war.
››Du warst ebenfalls früher ein Mensch, nicht?‹‹
Eigentlich hatte Cary den Einwurf machen wollen, doch Jackie war ihr zuvorgekommen. ››Abarax hatte so was erzählt.‹‹
Terziel nickte. ››Genau, wir waren beide Menschen. Brüder. Dann kam … naja, die Veränderung.‹‹
››Umira‹‹, Cary ergriff selbstsicher das Wort. Und sie sollte es behalten. Vielleicht ahnten die Freunde, dass sie einen Plan verfolgte, vielleicht wurden sie auch einfach von der Erzählung in ihren Bann geschlagen, jedenfalls konnte Cary ohne Unterbrechung erzählen.
››Wir wissen immer noch nicht viel über diese Zeit. Sicher ist nur, dass es früher eigentlich nur Menschen gab. Dann veränderte sich etwas. Menschen begannen, nach ihrem Tod als Zombies einherzulaufen. Andere beherrschten plötzlich rätselhafte Mächte. Primitive Untote und Zauberer waren die ersten Fabelwesen. Doch nach einigen Jahren erschienen auch die ersten Vampire … Engel … Dämonen. Wie war es bei dir, Terziel?‹‹
››Oh, meine Zeit war erst später‹‹, plauderte der Engel. ››Ich wurde zu einer Zeit geboren, da es schon Elfen gab. Und Hanghühner! Nach meinem Tod bin ich aber erst viele Jahre später zurückgekehrt. Die Entwicklung dazwischen war mir entgangen.‹‹
Er sah sie neugierig an.
Cary nickte. ››Da war die Weltenwandlung vermutlich schon abgeschlossen, und auch der Krieg von Gut und Böse.‹‹ Terziel nickte. ››Dieser Krieg muss sehr interessant gewesen sein. Er begann mit dem Erscheinen der ersten Drachen.‹‹
Sie merkte, wie Abarax den Kopf hob. Offenbar ahnte er, worauf sie hinauswollte.
››Es gab zwei große Drachenfamilien, die Feuerdrachen, Dragus, und die heutigen Sonnenlanddrachen, Long. Dann gab es noch Wyvern, Lindwürmer, Basilisken – doch die großen Familien waren die Dragi und die Long. Einige Zeit lebten sie in Frieden, doch ihre Wesen waren einander gänzlich unähnlich. Die Dragi waren feurige, gierige Wesen, ohne Mitleid und überzeugt davon, als Herrscher dieser Welt ausersehen zu sein. Die Long dagegen, wenngleich sie sich beschenken und verehren ließen, sahen sich mehr als Hüter der Erde und ihrer Schönheit.‹‹
Sie machte eine kurze Pause. Die Wichtel hörten dem Gespräch nur desinteressiert zu. Vermutlich kannten sie die Geschichte vom Krieg, oder hielten sie nur für einen Mythos, den die Gruppe zudem verklären würde – es herrschte große Uneinigkeit darüber, wie der Krieg damals wirklich abgelaufen war, doch inzwischen glaubte Cary, einige Zusammenhänge besser zu verstehen – dank der Mondhörner und Stellas Gabe der Wandlung.
Sie fuhr fort: ››Es entbrannte ein Streit zwischen den Drachen. Die Basilisken, Lindwürmer und anderen Drachen schlugen sich fast ausschließlich auf die Seite der Dragi. Sie waren eine gefährliche Macht: Sie beherrschten Feuer, Gift und den tödlichen Blick, von den lebenden Fabelwesen konnte sich ihnen niemand in den Weg stellen, selbst die Toten wichen ihnen aus. Die Long allein konnten ihnen widerstehen, wegen ihrer mächtigen und unter Drachen einzigartigen Verbundenheit zum Wasser. Sie beherrschten eine heilende Macht, die den Schaden durch die Verbündete der Dragi fast sofort ungeschehen machte und einer einzigen Quelle entsprang: Der Perle in ihrem Inneren, deren Macht sie nur erwecken konnten, wenn sie selbst im Gleichgewicht waren.‹‹
Cary musste eine kleine Pause machen und durchatmen. ››Das ist das große Geheimnis der Long: Sie waren gezwungen, gut zu bleiben und ihre Seelen rein und schuldlos zu halten, um ihre Macht nutzen zu können. Wenn sie einen inneren Konflikt hatten, minderte dieser ihre Macht und unterdrückte sie schließlich ganz, bis sie weder das Wasser beherrschen, noch heilen oder fliegen konnten.‹‹
Cary erschrak. Unzählige kleine Gesichter mit hellen Bärten waren in allen möglichen Winkeln erschienen, lugten über Wurzeln hinweg oder aus kleinen Asthöhlen heraus. Die Wichtel hatten der Geschichte gespannt gelauscht. Langsam entspannte sie sich wieder, als sie die verträumen Ausdrücke in den Augen der kleinen Wesen bemerkte. Ob nicht vielleicht doch eine Verständigung …
››Achtung!‹‹, brüllte da einer der Wichtel und sofort brach helle Panik aus. Cary sah die Seile um Abarax‘ Drachenleib zerplatzen. Der Drache bäumte sich auf die kurzen Hinterbeine auf und stieß ein donnerndes Brüllen aus, das die Erde erzittern ließ.
››Juhuuu!‹‹, rief Terziel, als der Drache sich mit einem Sprung in den Himmel schwang. Abarax ruderte mit den vergleichsweise kurzen Beinen und warf den schlangenähnlichen Leib hin und her. Dann stabilisierte sich sein Flug und er glitt mit ruhigen Bewegungen vorwärts, die an eine Ente im Teich erinnerten.
Carys Herz schlug ein wenig höher vor Bewunderung. Abarax‘ Bewegungen wurden kontrolliert, majestätisch, ruhig und kraftvoll. Er kreiste über den Baumwipfeln, ehe er auf der anderen Seite der Wichtelstadt landete und mit einem bedrohlichen Knurren die Zähne fletschte.
››Lasst sie frei‹‹, verlangte er, ››oder eure Stadt wird ertrinken!‹‹
Die Wichtel klagten mit hohen, piepsigen Stimmchen und liefen panisch durcheinander. Es war ein einziges Gewusel über ihren Füßen und Beinen und um sie herum. Iljan musste sich beherrschen, um sich nicht reflexartig zu schütteln und dabei unzählige kleine Wichtel zu töten. Doch ihr Gewusel erinnerte ihn zu sehr an die Ratten im Verließ, in welches sein Vater ihn manchmal zur Strafe eingesperrt hatte.
Er bekämpfte Ekel und Angst mit eisernem Willen.
››Abarax!‹‹, rief er über das Geschrei. ››Hör auf damit!‹‹
Der Drache sah ihn entgeistert an. ››Ist das dein verdammter Ernst, Taidoni? Hast du deine Lektion denn immer noch nicht gelernt?‹‹
››Oh-oh‹‹, murmelte Cary. ››Wieso kann er so wütend sein, wenn er doch im Gleichgewicht sein muss?‹‹
››Bitte!‹‹, rief Iljan, der hoffte, dass Abarax die Wut nur schauspielerte, um den Wichteln Angst zu machen. ››Sie zu bedrohen ist der falsche Weg!‹‹
››Dein dummes Mitleid ist der falsche Weg!‹‹, brüllte Abarax so laut, dass die Bäume sich unter dem Sturmwind beugten. ››Siehst du nicht, wie alle es ausnutzen? Wie es uns immer tiefer ins Verderben führt?‹‹
››Abarax!‹‹ Terziel war mit gefesselten Beinen aufgesprungen. ››Beruhige dich!‹‹
Der Drache fixierte den Engel mit einem so wilden Blick, dass Iljan schon fürchtete, dass Mirkanish doch überlebt hatte und irgendwie in den Körper zurückgekehrt war. Abarax wollte offenbar etwas erwidern, doch er kam nicht dazu. Plötzlich fielen die Fesseln von Terziel ab.
Im nächsten Moment spürte Iljan, dass seine Beine frei waren: Verwundert sah er Duzende von Wichteln mit kleinen Schwertern, die die Kinder der Sonne freischnitten.
Abarax grinste selbstgefällig.
››Ihr seid frei!‹‹, schimpfte einer der Wichtel und baute sich vor Iljan zu seiner nicht gerade beeindruckenden Größe auf. ››Na los, verschwindet! Wenn die Weißen Wächter hier ankommen, werden sie euch jagen, das könnt ihr mir glauben!‹‹
››Hört mal‹‹, Iljan kniete sich hin und wollte den kleinen Gnomen alles erklären, doch Cary packte ihn am Arm. Zu recht, denn die Wichtel luden bereits allerhand kleine Schusswaffen, Bögen, Blasrohre und Armbrüste.
››Ich bin wahrlich nicht einer Meinung mit Abarax, aber er hat Recht, gehen wir!‹‹
Sie zerrte ihn zu ihrem inzwischen befreiten weißen Hirsch, sprang auf dessen Rücken und half Iljan, hinter ihr aufzusteigen. Er griff in die Tasche und fand einige Stücke Brot, die er den Wichteln zuwarf.
››Es tut mir leid!‹‹, rief er, als Dayrquinêl mit großen Sätzen losgaloppierte. ››Wir wollten euch wirklich nichts tun!‹‹
››Du bist unverbesserlich‹‹, schnaubte Cary.