https://www.deviantart.com/ifritnox/art/778860807
Abarax durchschwamm den Himmel über den Baumwipfeln.
Anders konnte er das Gefühl nicht beschreiben, als er sich durch die Luft wand, mit paddelnden Bewegungen, wie ein Karpfen im Teich.
Fliegen war ganz anders, als er es zuvor angenommen hatte. Bei seinem ersten Versuch hatte er lediglich versucht, die Bewegungen der Drachen nachzumachen, als ob er durch die Luft laufen würde. Doch die Beine mussten sich seitlich am Körper bewegen, wie Flossen. Er spürte sogar einen Widerstand zwischen den Klauen, der ihn an Schwimmhäute erinnerte.
Nun schlängelte er den gewaltigen Wirtskörper durch die Lüfte, spürte den Wind in seiner Mähne und die Macht in seinem Inneren.
Er war im Gleichgewicht – nicht in der Weise, wie Cary es in ihrer kleinen Geschichte erzählt hatte, es war kein harmonisches, meditatives Gleichgewicht. Nein, Abarax hatte ein Gleichgewicht zwischen Sonnenlanddrache und Nachtmahr finden müssen, das vermutlich einzigartig unter den Himmelsbestien war. Ob diese Andersartigkeit für ihn von Vor- oder Nachteil war, konnte er noch nicht sagen.
Terziel saß auf seinem Rücken, direkt zwischen den Schulterblättern. Unter sich vernahm Abarax den Hufschlag von Stella und Dayr, wie Cary den weißen Hirsch inzwischen rief. Dazwischen war leiser und samtener das Trommeln von Jackies Wolfspfoten zu hören.
Cary ritt auf dem Hirsch, Iljan saß auf dem Rücken der Wölfin, Merkanto hinter Terziel. Sie reisten schnell voran, allerdings auf einem verwirrenden, verschlungenen Pfad, den allein Cary erkennen konnte. Ihr Hirsch flog unter Abarax über den Waldboden, sich mal in diese, mal in jene Richtung wendend.
Cary hatte ihn gewarnt, ja nicht davon zu fliegen, sondern sich immer in Sichtweite zu halten. Laut ihrem Bericht war selbst die Luft über dem Wald ein verwirrender Irrgarten, obwohl sie Abarax zutraute, über die dichten Wolken fliegen und damit dem Zauber des Waldes entkommen zu können. Doch dann würde er die anderen immer noch wiederfinden müssen. Und das war, da Zeit und Raum in den Elfenwäldern anderen Gesetzen folgten, ein nahezu hoffnungsloses Unterfangen.
››Ich könnte euch einfach alle nach oben tragen!‹‹, hatte Abarax angeboten.
Cary hatte entschieden den Kopf geschüttelt. ››Du darfst deine neue Macht nicht überschätzen. Der Aufstieg würde lang und anstrengend werden, und du hättest eine große Last zu tragen. Nein, wir nähern uns dem Ende des Waldes, auch, wenn ihr es noch nicht sehen könnt. Vertraut mir. Am Boden zu bleiben, ist für uns alle einfacher.‹‹
Im Grunde hatte Cary einfach so lange geredet, bis jeder den Widerstand aufgegeben hatte. Etwas zerknirscht folgte Abarax nun ihrer Führung. Doch er musste – wenn auch widerstrebend – zugeben, dass sie recht gehabt hatte. Schon jetzt spürte er die Erschöpfung in jedem Muskel, dabei waren sie erst kurze Zeit unterwegs und er trug nur zwei Personen.
Fliegen war eben doch anstrengender, als er geglaubt hatte.
Stella konnte eine gewisse Veränderung der Lichtverhältnisse wahrnehmen, ein goldener Schimmer, der das übliche Mondlicht verdrängte.
Offenbar stimmte es, was Cary gesagt hatte – ein Ende der verwirrenden Reise kam in Sicht, langsam und doch stetig.
››Wie viele Stunden noch?‹‹, fragte sie, als Cary sie alle zu einer Rast anhalten ließ.
Die Elfe warf ihr einen verwunderten Blick zu.
››Ich kann das Sonnenlicht sehen‹‹, berichtete Stella.
Cary nickte. ››Ja, wir betreten die Randbereiche. Doch es liegen immer noch Tage oder sogar Wochen vor uns. Tut mir leid, Stella – so schnell werden wir die Reise nicht beenden.‹‹
››Aber … wir haben doch keine Zeit‹‹, stammelte das Einhorn. ››Nejakai ist uns längst zuvorgekommen!‹‹
Cary wandte den Blick ab. ››Das können wir nicht mit Gewissheit sagen. Du kennst die Andersweltgesetze. Vielleicht sind Wochen oder Jahre vergangen, wenn wir den Wald wieder verlassen, vielleicht aber auch nur einige Herzschläge. Alles ist möglich und ich spüre … ich spüre einfach, dass wir Glück haben werden.‹‹
Stella schüttelte Kopf und Mähne. ››Du bist seltsam, seit wir im Wald sind. Soll ich mich jetzt auf dein Gefühl verlassen?‹‹
Cary nickte mit einem entschuldigenden Lächeln. ››Das ist das einzig Verlässliche hier.‹‹
Stella schnaubte. ››Und Gudrun? Was ist mit ihr?‹‹
Cary wich ihrem Blick wieder aus. ››Ich weiß es nicht.‹‹
››He, Leute!‹‹, rief Jackie unvermittelt. ››Wisst ihr, wie man einen nassen Zauberer nennt?‹‹
Iljan hörte ein Platschen und einen empörten Aufschrei. Er drehte sich um, als Jackie triumphieren ››MERKANTO!‹‹ brüllte.
Auf dem Weg stand ein pitschnasser Gewittermagier. Neben ihm, in einem Teich und bis zu den Knien voller schlammigem Wasser, stand Jackie.
Merkanto starrte Jackie wütend an. Die Werwölfin lachte, schüttelte sich – obwohl sie in menschlicher Gestalt unterwegs war – und sprang lachend zur Seite, als Merkanto eine Faust ballte, um die Blitze zuckten.
››Na warte!‹‹ Ein Lächeln hatte sich auf Merkantos Gesicht gestohlen, das Iljan dort schon lange nicht mehr gesehen hatte. Der Magier lief Jackie nach und tat, als ob er sie fangen wollte. Die Wölfin quietschte vor Vergnügen.
Plötzlich stolperte sie und fiel ins Moos, sich immer noch vor Lachen kugelnd.
››Jetzt hab ich dich!‹‹, rief Merkanto.
››Attacke!‹‹, Iljan sprang ihm in den Weg, ehe er Jackie erreichen konnte und warf eine Handvoll Laub auf den Zauberer.
Jackie bedanke sich für die Rettung, indem sie ihm die Füße wegriss, sodass er neben ihr aus die Erde fiel. Dadurch entging Iljan Merkantos Gegenschlag, einem schwachen Blitz, der stattdessen Terziel traf.
Das magische Geschoss kitzelte offenbar. Lachend und um Gnade flehend rollte Terziel durch das Laub. Jetzt stieg Stella auf die Hinterbeine und nahm ihre Alkoholform an. ››Rache für gefallene Engel!‹‹
Das Einhorn galoppierte auf sie zu. Iljan und Jackie rollten zur einen, Merkanto sprang zur anderen Seite. Stella wendete unsicher, geriet mit den Füßen durcheinander und fiel. Jackie konnte vor Lachen kaum auf die Beine kommen.
››Freibier!‹‹, rief Cary und deutete auf Stella. Das Einhorn riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf. Merkanto, Cary und Terziel nahmen die Verfolgung auf. Iljan schnappte sich Jackie und nahm sie in den Schwitzkasten.
››Welch heimtückischer Angriff des Vampirs!‹‹, Jackie kommentierte ihren Kampf atemlos, so wie die Sklavenhändler in den Kampfarenen ihrer Heimat. ››Die Werwölfin windet sich. Wird sie – wird sie es schaffen? Oh, das wird ein blutiger Kampf!‹‹
Im nächsten Moment schwappte eine große Welle über sie herein: Abarax hatte sich mit seinem ganzen Leib in einen großen Teich geworfen. Kreischend rüsteten sich die anderen mit den hohlen Händen oder – in Stellas Fall – als Wassereinhorn zum Gegenschlag. Abarax lachte rau, als er sich von ihnen überwältigen ließ.
Etwas später lagen sie erschöpft im Moos und ließen sich von der Sonne trocknen, die immer stärker durch die Baumwipfel drang.
››Beim Mond, wie habe ich das vermisst!‹‹, seufzte Jackie glückselig.
››Das war dringend nötig!‹‹, seufzte Iljan.
››Ja‹‹, fiel ihm Terziel ins Wort. ››Wenn sogar Abarax, der Spielverderber, mitmacht …‹‹
››Dir zeige ich, wer ein Spielverderber ist!‹‹, knurrte der Nachtmahr-Drache, ohne eine müde Kralle zu regen. Er gähnte.
Merkanto nieste. ››Verdammt.‹‹
Später versammelten sie sich um ein Lagerfeuer, notdürftig in die wenigen Decken gewickelt, sie sich noch in ihrem Gepäck befanden. Cary briet ein paar Pfirsiche über dem Feuer, für die Terziel eine Honig-Thymian-Soße angerührt hatte – die Zutaten hatte Jackie suchen müssen, mit einem Seil um die Hüfte, sodass sie ihnen nicht verloren ging. Auf ihrer Nase hatte sie jetzt mehrere Bienenstiche, die Merkanto mit einer Salbe bestrichen hatte.
››Ich denke, dass wir morgen den Ausgang erreichen‹‹, sagte Cary unvermittelt. ››Wir werden den Wald endlich verlassen.‹‹
››Was erwartet uns dann?‹‹, fragte Merkanto und nieste erneut. ››Eine offene Ebene, oder?‹‹
››Ganz im Gegenteil‹‹, sagte Cary. ››Die Gegend nennt sich zwar die Ebene von Mîm, doch es ist eine hügelige Landschaft, mit vielen kleinen Wäldchen, eigentlich aber eine landwirtschaftliche Gegend. Es gibt dort viele Höfe, Äcker, kleine Dörfer … Wir werden erneut sehr vorsichtig sein müssen.‹‹
Jackie stöhnte. ››Als wäre das etwas Neues! Wie weit ist es denn noch bis zum Schloss?‹‹
››Einige Tage‹‹, antwortete Cary.
Die Antwort wirkte wie ein Paukenschlag. Ihre Reise sollte wirklich so bald vorüber sein? Waren sie dem Ziel tatsächlich schon so nah? Es schien unwirklich, dass das Ziel dieser endlosen Reise mit einem Mal in Reichweite lag.
Cary relativierte ihre Aussage auch im nächsten Moment: ››Das heißt, wenn wir nicht Pech haben und aufgehalten werden. Oder gefangen genommen. Oder erneut verschleppt.‹‹
Sie verstummte. Der kurze Hoffnungsschimmer verblasste. Nein, so war ist ihr Ziel offenbar doch nicht.
Dayrquinêl hob den Kopf und stellte die großen Ohren auf. Carys Reittier hielt an. Sie konnte seine Flanken beben spüren.
››Was hast du?‹‹, fragte sie sanft.
Der Hirsch schnaubte.
››Da vorne‹‹, warnte Abarax halblaut und deutete mit der Schnauze auf etwas, das vor und ein wenig zur Linken ihres Weges lag.
Geisterhafte, blaue Schatten tanzten durch den Wald. Cary unterdrückte einen Fluch. ››Elfen!‹‹
Sie glitt vom Rücken des Hirsches, sehr zur Verwunderung der anderen, doch eine Flucht hatte keinen Sinn. Wenn die Elfen schon in Sichtweite waren, so würde ihre Macht dafür sorgen, dass niemand ihnen entgehen konnte.
Cary wunderte sich, dass sie auf Angehörige ihres Volkes treffen sollte. Die Siedlungen lagen alle weit entfernt – war es ein Spähtrupp, der die Grenze überwachte? Nein, die Elfen tanzten und sangen. Es wäre auch ungewöhnlich gewesen, Elfen schätzten Überwachung nicht sehr hoch ein.
Seite an Seite warteten die Kinder der Sonne, bis sich ihnen die verträumte Gesellschaft genähert hatte. Es dauerte nicht lange, schon waren sie umringt.
Caryellê trat nach vorne, während sich der Rest der Gruppe zu einem nervösen Knäuel zusammendrängte. Iljan ließ den Blick über die Elfen streifen. Sie wirkten so anders als Cary – sie trugen leichte, luftige Gewänder aus durchscheinendem Stoff in Blau, Grün oder Bernstein. Ihre Bewegungen waren anmutig, ihr Blick ein wenig unstet – stets schien er auf etwas jenseits dieser Welt gerichtet.
Ein hochgewachsener Elf trat aus den Reihen der Tanzenden, auch er gekleidet in luftigen Stoff.
››Fremde?‹‹, fragte er mit melodischer Stimme.
››Wir sind reisende Händler‹‹, entgegnete Cary.
Nie zuvor hatte Iljan solche Nervosität in ihrer Stimme vernommen. Er tastete unwillkürlich nach seinem Degen.
››Glaubst du, ich hätte dich nicht erkannt?‹‹, fragte der Fremde.
Cary senkte den Blick. Iljan konnte es kaum glauben: Sie gab klein bei, einfach so!
››Nein, Vater‹‹, murmelte sie. ››Verzeih mir.‹‹
Vater … Iljan betrachtete den Elfen genauer. Er hatte dunkles Haar, das ihm in den Nacken fiel, und tatsächlich, die gleichen blauen Augen wie Cary, obwohl er abgesehen davon viel gröber, härter und muskulöser als sie wirkte. Er strahlte Kraft und Autorität aus. Iljan fühlte sich an Nepomuk erinnert – für einen Moment.
››Natürlich verzeihe ich dir!‹‹, erwiderte Carys Vater herzlich und zog die Tochter in eine Umarmung. Er überragte sie um eine Kopflänge. ››Ich habe geträumt, dass du kommen würdest.‹‹
››Ich kann nicht bleiben, Vater‹‹, sagte Cary.
››Auch davon habe ich geträumt.‹‹ Der Elf setzte sie ab. ››Wer sind deine Begleiter?‹‹
Nach einem resignierten Seufzen stellte Cary sie einen nach dem anderen mit ihrem echten Namen vor. Sie fügte sogar hinzu, was sie waren. Betreten wichen die Kinder der Sonne den blauen Augen des Elfen aus.
››Ich bin Vailandamir, König von Ynmerie‹‹, sagte Carys Vater und reichte ihnen nacheinander die Hände. Sein Griff war fest. Sein Lächeln wirkte ehrlich. Die restlichen Elfen umtanzten sie in einem verwirrenden Muster und mit einem Gesang, der ätherisch anmutete.
››König?‹‹, fragte Iljan schwach. ››Du bist eine Prinzessin, Cary?‹‹
››War‹‹, sagte sie nur.
››Sie hat die Königswürde abgelehnt‹‹, antwortete Vailandamir und sein Blick huschte zu Cary. Iljan spürte, dass es einen Grund für die Ablehnung gab, eine Geschichte … doch weder Cary noch ihr Vater schienen gewillt, diese zu erzählen.
››Nun, ich denke, ihr müsst weiter‹‹, grinste der Elfenkönig und klopfte Iljan dabei jovial auf die Schulter. ››Doch zuvor muss ich euch jemanden mitgeben.‹‹
Er gab zwei Elfen ein Zeichen durch eine Neigung des Kopfes und diese eilten davon. Kurz darauf führten sie eine Gestalt zu ihnen. Jeder hielt einen Arm der widerstrebenden Person fest.
››Wir haben sie durch den Wald irrend gefunden. Sie sagte, dass sie deine Freundin ist, Cary. Sie hat uns viel über deine Gruppe erzählt, das meiste davon behagt mir nicht.‹‹
››Du lässt uns trotzdem gehen?‹‹, fragte Cary abgelenkt, die wie alle anderen versuchte, das Gesicht der Person zu erkennen.
››Es ist deine Entscheidung‹‹, seufzte Vailandamir. ››Und es wird deine Erfahrung sein, wenn du sie überlebst. Du bist alt genug, um dein Leben selbst zu bestimmen. Und … ich vertraue deinem Urteil.‹‹
››Danke‹‹, sagte Cary und es schien von Herzen zu kommen.
Endlich waren die beiden Elfen mit dem Gefangenen bei ihnen angekommen – der Gefangenen.
››Gudrun!‹‹, stieß Iljan überrascht aus.