https://www.deviantart.com/ifritnox/art/779036209
››Kommt schon, Freunde, raus aus den Federn!‹‹, krähte Gudrun.
Jackie öffnete ein Auge und schloss es sofort wieder. Es war noch mitten in der Nacht, der Himmel färbte sich gerade erst gräulich.
››Was ist denn?‹‹, hörte sie Merkanto alarmiert fragen, der offenbar einen Angriff befürchtete. Sie spitzte die Ohren. War das vielleicht der Grund für Gudruns Weckruf gewesen? Sie konnte die Blätter der Bäume hören, das Rascheln kleiner Lebewesen wie Igel und Mäuse, roch sogar die schwache Fährte eines Fuchses. Eine Gefahr konnte sie nicht ausmachen.
››Es ist Morgen, wir können weiter!‹‹, antwortete Gudrun gut gelaunt auf Merkantos Frage. Jackie hörte den Magier stöhnen und vernahm einen dumpfen Aufschlag. Offenbar hatte sich Merkanto zurück ins Moos fallen lassen.
››Hoch mit euch!‹‹ Gudrun hüpfte, wie unschwer am Klang der Schritte zu erkennen war, durch das ganze Lager, rüttelte hier an einer Schulter und flötete dort in ein Ohr, dass es endlich weitergehen konnte. Jackie zog sich die dünne Decke über den Kopf. Aber es half nichts, nun war sie wach. Seufzend musste sie sich geschlagen geben. Sie stand auf, faltete ihre Decke zusammen und bereitete eine Feuerstelle vor.
››Was machst du denn da?!‹‹, empörte sich Gudrun.
Jackie starrte sie verwirrt an. Was wollte die Hexe denn jetzt?
››Wenn du glaubst, dass wir ohne Frühstück gehen, hast du dich verrechnet‹‹, knurrte Cary. Sie sah verschlafen aus, rieb sich ihre Augen und warf Gudrun einen bösen Blick zu. Jackie war überrascht: Sonst war die Elfe kein Morgenmuffel … und sahen ihre Augen irgendwie verquollen aus?
Gudrun atmete beleidigt durch und plusterte sich auf, um Cary eine giftige Antwort zu geben.
››Warum holst du nicht schon einmal ein paar Beeren, du findest immer die leckersten.‹‹
Terziel hatte schlichtend eingegriffen. Die Hexe ließ sich durch das Lob besänftigen und stapfte davon.
Nach und nach trudelten jetzt auch die anderen herbei. Merkanto entzündete mit einem kleinen Blitz, vom dem sich immer noch allen anderen die Haare aufstellten. Terziel übernahm die Aufgabe, die Vorräte zu verteilen. Obwohl der Magier vorwurfsvoll die Stirn in Falten legte, teilte Terziel großzügige Rationen aus. Sie hatten Brot, Trockenfleisch und Beeren, die Gudrun gesammelt hatte. Cary brachte schließlich einige Wurzeln, die geschält und im Wasser gekocht einen süßlichen Geschmack entfalteten, und ein seltsames Obst mit einem komplizierten, elfischen Namen, das fettiges, herzhaftes Fruchtfleisch aufwies.
Cary zeigte ihnen noch, wie sie Wasser mit dem Nektar und Honig verschiedener Blüten anreicherten, sehr zur Begeisterung von Gudrun. Die Hexe, die sich bis eben noch sichtlich geärgert hatte, dass so viel Zeit auf das Frühstück verwendet wurde, probierte sich schnell an wahllosen Kombinationen von Blütennektar. Das versetzte Wasser, das sonst in sanften Schmetterlingsfarben schillerte, wurde bei ihren Experimenten zunehmend bräunlich.
››Du darfst nicht zu viel zusammenkippen‹‹, warnte Cary vergeblich und beließ es dann dabei, genau wie alle anderen über Gudruns Gesichtsausdrücke nach dem Probieren herzlich zu lachen.
Sie wollten gar nicht weiterziehen, abgesehen von Gudrun. Nach dem Essen saßen sie zusammen, lachten und scherzten, dann verteilte Terziel die nächste Ration Trockenfrüchte. Der Mittag zog über das Land. Es war ein ungewöhnliches Gefühl, einfach mal unbesorgt die Füße ausstrecken, faulenzen, sich Zeit lassen zu können. Sie hatten diese Empfindung schon fast vergessen.
Gudrun hatte endlich einen brauchbaren Nektar hinbekommen und ließ alle probieren. Es schmeckte … nicht besonders schlecht. Jackie ließ sich ins Gras fallen. Sie war satt. Zum ersten Mal seit langem hatten sie mehr als den gröbsten Hunger gestillt und nun fühlte sie sich müde und angenehm träge. Ob sie vielleicht einfach einen Tag hierbleiben konnten? An der Grenze des Elfenwaldes war es wunderschön, die Natur war friedlich, gesund und heil. Nie zuvor war Jackie so tief im Sonnenland gewesen, nicht einmal zu der Zeit, als sie noch ein Mensch gewesen war.
Doch schließlich stand Iljan auf, sah in die Runde und fragte: ››Weiter?‹‹
Seufzend erhoben sie sich alle. Ihr Gepäck war erneut schnell zusammengesucht, sie besaßen ja auch nicht mehr besonders viel. Schicksalsergeben machten sie sich auf zur nächsten Etappe der Reise, die hoffentlich das Ende dieses unseligen Abenteuers bedeuten würde.
Sie gingen diesmal zu Fuß, irgendwie wollte sich niemand zu recht beeilen. Die traumartige, zeitlose Atmosphäre der Elfenwälder wirkte fast wie ein Betäubungsmittel, das alle Hektik unmöglich machte. Sie wanderten Seite an Seite, plauderten oder schwiegen einträchtig. Jackie konnte deutlich spüren, wie sich die Gesellschaft entspannt hatte, als ob eine unsichtbare Last von ihnen abgefallen wäre. Doch diese kehrte nach und nach, zuerst nur unmerklich, zurück.
Sie näherten sich dem Waldrand und offenbar erinnerten sich alle daran, was noch vor ihnen lag. Sie mussten die Ebene von Mîm überqueren und dann hoffentlich das Weiße Schloss vor Nejakai und ihrem Gefolge erreichen. Und dort erwartete sie die Entscheidung: Ob diese ganze Reise umsonst gewesen war, oder letztendlich doch einen Sinn hatte. Jackie fürchtete sich vor diesem Moment der Wahrheit, obwohl sie ebenfalls ein Ende der Sorgen, Ängste und Gefahren herbeisehnte. Sie war hin und her gerissen, genauso wie vermutlich auch die anderen Kinder der Sonne.
Vor ihnen lichtete sich der Wald. Der Zauber von Ynmerie perlte von ihnen ab wie Wasser, das über Blätter tropfte. Jackie merkte, wie ihre Schritte sich verlangsamten, doch sie blieb nicht zurück. Sie alle zögerten.
Dort, hinter der Baumgrenze, verließen sie den letzten Schutz. Dann schloss sich das Herz des Sonnenlandes an: Ein gefährliches Minenfeld und das Ziel ihrer Hoffnungen in diesen letzten Wochen und Monaten. Das Sonnenlicht blendete sie.
Sie wurden langsamer. Wie viel Zeit war vergangen, während sie durch Ynmerie gewandert waren? Hatte Nejakai eventuell schon das Schloss erreicht? War es nicht auch möglich, dass ein gerüstetes Heer sie hinter den Bäumen erwartete.
Hilfesuchend sah Jackie zu den anderen. Die meisten teilten ihre Angst und Zweifel, das sah sie deutlich in ihren Augen.
Doch einer wirkte entschlossen, jemand, von dem sie es am wenigsten erwartet hätte.
Terziel löste sich aus der kleinen Menge und stellte sich vor die Gruppe. ››Worauf wartet ihr?‹‹
Er sah in ihre Gesichter. ››Ihr seid so weit gekommen und habt so lange gekämpft. Da vorne liegt unser Ziel: Das Weiße Schloss! Die Erfüllung eurer Träume! Ihr dürft jetzt nicht zögern, ihr dürft nicht einmal darüber nachdenken, aufzugeben. Das, was wir vorhaben, verändert alles: Für euch genauso wie für viele andere Wesen: Für die Mondhörner und die Cereceri! Wollt ihr sie im Stich lassen? Wollt ihr ernsthaft umkehren?‹‹
Er konnte genauestens sehen, wie die Gruppe sich straffte. Iljan sah zu Jackie und ergriff ihre Hand. Dann die Hand von Cary. Ein Durchatmen, und sie gingen weiter. Sie würden sich allem stellen, was noch vor ihnen lag. Terziel schloss sich der Gruppe an und empfand Stolz. Er war stolz darauf, dass er Iljan und Cary folgte, stolz auf die Reise, die hinter ihnen lag, stolz auf ihre Mission. Hier gehörte er hin. Zu Anfang hatte er gezweifelt, doch jetzt fühlte es sich an, als wäre dies sein Schicksal.
Und er würde alles geben, koste es, was es wolle!
Furchtlos traten sie in das Sonnenlicht. Cary blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit. Zum zweiten Mal hatte sie ihre Heimat verlassen, und es fühlte sich genauso endgültig an wie beim letzten Mal. Damals, nach Adhairos‘ Tod, war sie eine Fremde gewesen, die aufbrach, um ein völlig neues Leben zu beginnen. Jetzt fühlte sie sich ihrer Heimat seltsamerweise stärker verbunden. Obwohl sie ging, empfand sie es wie eine Heimkehr. Sie hatte zu sich selbst zurückgefunden, wenigstens ein Stück weit. Weil sie endlich jemanden hatte, dem sie wieder vertrauen konnte. Iljan. Obwohl sie ihm noch lange nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte.
Die Trauer, vor der sie so lange davongerannt war, hatte sie eingeholt, berührt und war nun ein Teil von ihr. Sie hatte, irgendwann während der Reise, gelernt, sie zu akzeptieren. Es waren nicht länger gesichtslose dunkle Wesen, die Adhairos getötet hatten, es war ein Krieg gewesen, den sie ändern, vielleicht sogar beenden konnte. Wenn Iljans Gruppe nur das Schloss erreichen würde, damit die Sonnenländer sähen, dass nicht alle Nachtwesen grausame Monster waren.
Sie hatte gedacht, Adhairos durch ein sinnloses Blutbad rächen zu können, doch die Kinder der Sonne zu unterstützen war ihr richtiger Weg. Es fühlte sich sogar fast an wie ihre Bestimmung.
Jackie schnappte nach Luft, als sie in das Sonnenlicht trat. Iljan blinzelte gegen die Helligkeit an, die ihm schmerzhaft in die Augen stach. Wie hatte er Jackies Reaktion zu deuten? Standen sie – blind – einem angriffsbereiten Heer gegenüber?
Auch die anderen stießen atemlose Laute der Überraschung aus. Doch es schloss sich kein Geschrei an. Als sich Iljans Augen endlich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte er, dass seine Sorge unbegründet war.
Ihnen stand keine Gefahr gegenüber, doch vor ihnen erstreckte sich die Ebene von Mîm. Nur, dass der Begriff ‚Ebene‘ hier nicht angebracht war. Es handelte sich um ein hügeliges, wildes und ungezähmtes Land. Iljan sah Bogen um Bogen grüner Wiesen, gesprenkelt mit den bunten Flecken von Blumenwiesen und durchsetzt mit kleinen Wäldchen von Tannen oder Birken. Dazwischen, fast wie verirrte Schafe, lagen immer wieder kleine Gehöfte. Bauernhöfe auf den Sonnenseiten der Hügel oder eingeklemmt zwischen hohen Bergflanken, Hütten von Jägern auf Waldlichtungen, Mühlen an den Flüssen, die wild über die Hügel flossen. Ansiedlungen von mehr als vielleicht drei, vier Wohnhäusern waren nicht zu sehen, wenngleich dünne Rauchsäulen auf im Verborgenen liegende Behausungen schließen ließen.
Das ganze Land wirkte auf unerklärliche Weise schwerelos, wie von einem Riesen angehäuft. Berghänge wirkten zu steil, Hügelkuppen zu flach und friedlich, um real zu sein. Iljan war, als betrachte er ein Traumgebilde. Durch dieses Land sollte man wandern können?
››Da vorne ist ein Weg!‹‹, rief Jackie aufgeregt.
Es handelte sich um eine breite, sorgsam ausgebaute Straße aus ebenmäßigem, weißem Stein, mit einer niedrigen Begrenzung aus Quarzblöcken.
››Wo eine solche Straße ist, muss eine Handelsroute liegen‹‹, erkannte Merkanto.
Cary nickte. ››Das ist unsere größte Handelsstraße. Was ihr vor euch seht, führt von den Minen in Stoqik bis zu einer Stadt unterhalb des Hobbitlandes, nur kurz vor Antordia.‹‹
››Dann hätten wir die ganze Zeit schon diese Straße nehmen können?‹‹, fragte Gudrun entgeistert. ››Statt uns durch diesen verhexten Wald zu schlagen?‹‹
››Es wäre der direkte Weg gewesen, ja. Doch das hätte nur das Misstrauen der Piraten erweckt!‹‹, gab Cary zurück.
››Gudrun, wir hatten das besprochen‹‹, mischte sich Merkanto schlichtend ein. ››Wir mussten vorspielen, zu den Hobbits zu wollen, sonst hätte man uns zu leicht enttarnen können. Ganz zu schweigen davon, dass eine Handelsstraße gefährlich ist!‹‹
››Wir werden das Risiko aber bald eingehen müssen. Von dieser Straße zweigt ein Weg ab, der direkt zum weißen Schloss führt‹‹, sagte Cary zur Gruppe. ››Es ist der einzige befestigte Weg durch die Ebene von Mîm. Wir müssen der Straße folgen, wenigstens in einigem Abstand. Ansonsten landen wir schnell vor unüberwindlichen Klippen und in Tälern, aus denen es keinen Ausgang gibt.‹‹
››Also wird dieser letzte Weg uns zwingen, anderen Sonnenländern zu begegnen‹‹, fasste Terziel zusammen.
Als ob sie das nicht alle längst begriffen hätten! Iljan versuchte, sein Unbehagen aus seiner Miene zu verbannen. Merkanto wirkte dieses Mal richtiggehend ratlos. Sie waren mit einem dunkel eingefärbten Drachen unterwegs – das würde Aufmerksamkeit auf sie ziehen. Da das Ziel der Kinder der Sonne inzwischen im ganzen Land bekannt sein durfte, bestand wenig Hoffnung, dass sie mögliche Passanten irgendwie über ihre wahre Natur hinwegtäuschen konnten.
››Wir waren übrigens schon damals in der Zwergenmine auf dieser Straße‹‹, sagte Cary, als sie die Grenzsteine mit mulmigem Gefühl überwanden. Es war, als würden sie eine magische Barriere überwinden.
››Die Zwergenmine?‹‹ Iljan sah sie überrascht an.
››Es gibt einen unterirdischen Weg nach Stoqik, der als Beginn dieser Handelsstraße gilt‹‹, erklärte Cary. ››Wir hatten damals den Weg zum Wald der Seen eingeschlagen. Hätten wir uns anders entschieden, wären wir nun aus der anderen Richtung gekommen.‹‹
Sie sah nach vorne. Dort war bereits zu erahnen, wo der Weg zum Weißen Schloss abbog.
Die Zwergenmine … es war inzwischen so viel Zeit vergangen! Damals hatten Askook und Najaxis noch gelebt, Cary, Stella und Terziel waren ihre Gefangenen gewesen, die Reise, die vor ihnen lag, nur ein unbekanntes, unheimliches Mysterium.
››Ich hätte nie gedacht, dass wir es so weit schaffen!‹‹, meinte Iljan. ››Wir sind im Herzen des Sonnenreichs!‹‹
Cary fasste seinen Arm. Sie war stocksteif stehen geblieben und deutete in die Ferne. ››Dort!‹‹, flüsterte sie.
Iljan folgte ihrer Geste mit dem Blick. Zwischen zwei Hügeln blitzte etas auf, hell und golden leuchtend. Auch die anderen verharrten bei ihnen. Es war nur ein kurzes Stück der Straße, von dem aus dieser Anblick möglich war.
››Ist das …?‹‹, stammelte Jackie.
››Ja. Das Weiße Schloss.‹‹