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Am nächsten Morgen ging es Najaxis in der Tat um einiges besser. Stella war absolut überrascht von der Macht, die Gudrun so unvermutet unter Beweis gestellt hatte. Doch ihre Heilsalbe hatte Najas Wunden geschlossen und ihm einen langen, erholsamen und kräftigenden Schlaf geschenkt.
Obwohl sie die Hexe als ihre Freundin ansah, hatte sie ihre Macht immer nur für eine zerstörerische Kraft gehalten, eine Möglichkeit, Flammen zu erschaffen und giftigen Tod zu bringen. Stella Cantici musste sich eingestehen, dass sie tief in ihrem Inneren immer noch an den Vorurteilen über Schattenwesen festgehangen hatte.
Najaxis konnte ein paar Schritte durch ihr Lager machen, doch wurde bald deutlich, dass er einen langen Fußmarsch nicht durchhalten würde.
„Wir verstecken uns“, sagte Iljan sofort. „Wir bleiben hier, bis es Naja wieder besser geht. Im Moment wird die Straße ohne hin streng überwacht. Wir warten einfach, bis sich der Aufruhr gelegt hat.“
„Und was denkst du, wie viel Zeit uns noch bleibt?“, fragte Merkanto. „Wenn wir jetzt noch eine Pause machen, wird Nejakai eine Armee um das Schloss zusammenziehen. Dann ist unser Traum wahrlich gescheitert.“
Iljans Blick verdüsterte sich. „Ich lasse Najaxis nicht zurück!“
Terziel trat vor und sagte leise, fast schüchtern: „Vielleicht musst du das nicht.“
Der Engel wand sich sichtlich unter der Aufmerksamkeit, die ihm plötzlich zuteilwurde.
„Ich … ich kann etwas versuchen. Nein, ich möchte es versuchen.“ Terziel sah Najaxis an. „Es könnte gefährlich werden.“
„Was hast du vor, Terz?“, fragte Abarax flüsternd, doch die Stimme des gewaltigen Drachen grollte immer noch wie Donner.
Terziel atmete tief durch. „Seitdem ich Abarax mit meiner Macht nicht töten konnte, Mirkanish aber sehr wohl, habe ich Zweifel daran, ob die Engelsmacht wirklich so funktioniert, wie ich es dachte – es heißt, dass sie nur Wesen der Dunkelheit verletzen, Wesen des Lichts aber heilen kann.“
„Und obwohl du das glaubtest, hast du Mirkanish angegriffen?“, regte sich Abarax auf.
„Das war ein Reflex“, entschuldige sich Terziel. „Ich habe mir große Vorwürfe gemacht, dass ich dein Leben einfach so riskiert habe. Jedoch … du lebst. Mirkanish ist fort. Und ich habe mich gefragt, ob es wirklich daran liegt, dass der Drache wahnsinnig war und du Glück hattest.“
„Und nun willst du Najaxis zu heilen versuchen?“, warf Stella ein.
Terziel wandte sich an den Inkubus. „Ich biete dir an, es zu versuchen. Aber es könnte dich verletzen.“
„Ich habe keine Angst“, sagte Najaxis. „Schmerzen kenne ich inzwischen. Und ich vertraue dir.“
Der Inkubus hielt Terziel die Hände entgegen. Der Engel warf einen schnellen Blick in die Runde, als wolle er sich der Zustimmung aller anderen vergewissern. Als niemand Einspruch erhob, trat Terziel vor und platzierte eine Hand auf der Brust des Inkubus‘, die andere auf seiner Stirn.
Terziel schloss die Augen. Stella konnte die Macht fühlen, die sich mit einem Mal erhob, während Terziel Worte in der alten Sprache flüsterte, schnell und leise, ein Gesang von Heilung und Rettung.
Und wie schon zuvor, als Gudrun gearbeitet hatte, erhob sich ein Schimmer auf der Lichtung, kein mit dem Auge wahrnehmbares Licht, doch ein Schein, den man im Herzen fühlte, der den Blick auf die Welt änderte und die Farben strahlender erscheinen ließ.
Najaxis zuckte leicht zusammen, dann entspannten sich seine Gesichtszüge. Stella konnte es nicht fassen: Es funktionierte!
Terziels Macht, die sich auf dunkle Wesen doch eigentlich wie ein verzehrendes Feuer auswirken sollte, glitt über Najaxis, ohne ihm zu schaden.
„Unglaublich!“, hauchte Caryellê. „Das ist ein Beweis!“
Terziel, der offenbar Selbstvertrauen gewann, spannte die Flügel langsam auf. Die weiße Magie spülte nicht länger nur über Najaxis, sondern hüllte vorsichtig die ganze Lichtung ein. Stella spürte sie auf ihrem Fell prickeln und sie sah, wie Merkanto staunend die Hand vor das Gesicht hielt und betrachtete.
Schnitte schlossen sich auf den Körpern der Gefährten. Sogar Terziels Flügel richteten sich wieder her und neue Federn sprossen, wo die alten ausgefallen waren. Stella wusste nur zu gut, dass Engel sich selbst nur dann heilen konnten, wenn sie mit ihrer Macht zugleich anderen dienten.
Das Einhorn blinzelte, denn dieser Moment war einfach zu unglaublich. Sie hätten verbrennen müssen, alle miteinander.
Nachdem Terziel den Zauber beendet hatte, schwiegen die Kinder der Sonne. Iljan fühlte sich seltsam. Gut, wie schon lange nicht mehr. Als wäre er von einem prickelnden Licht erfüllt. Es hätte reine Euphorie sein können, wäre das Drumherum nicht so gefährlich und unwahrscheinlich gewesen.
Erstaunt betrachtete Iljan seine Hände, seine Umgebung, als würde er sie zum ersten Mal sehen. Waren die Farben intensiver geworden? Nein, er musste sich täuschen.
Als der Moment langsam entschwand, ließ Iljan den Blick über seine Begleiter schweifen. Sie sahen aus, als würden sie aus einem tiefen Traum erwachen. Niemand wies auch nur die geringste Verletzung auf.
„Ich denke, dass die Engelsmagie nur auf solche schädlich wirkt, die Böses in ihrem Herzen tragen“, sagte Terziel schließlich. „Wenn Schattenländer uns angreifen, dann sind ihre Herzen erfüllt von Blutdurst, deswegen konnte unsere Macht sie immer töten.“
„Es ist der endgültige Beweis, dass sie keine Monster sein können“, warf Stella ein und ihre Augen leuchteten förmlich.
„Das“, Terziel ließ die Hände sinken, „oder es heißt, dass ich gefallen bin.“
Für einen Moment schwiegen alle, dann schüttelte Cary den Kopf: „Du bist doch kein gefallener Engel, Terz. Alle anderen – seid ihr bereit, weiterzuziehen?“
„Ich war noch nie so bereit!“, sagte Najaxis grinsend. Seine Wunden waren spurlos verschwunden, selbst Narben waren kaum geblieben.
Sie rafften ihr weniges Gepäck zusammen. Iljan ertappte sich dabei, dass er immer wieder inne hielt und die Luft tief einatmete. Irgendwie fühlte er sich wie nach einem langen, heißen Bad.
Noch immer recht schweigsam nahm die Gruppe den nächsten Teil ihrer Reise in Angriff. Ob sie jetzt wohl zum letzten Mal in eine neue Gefahr aufbrechen würden? Es war nicht mehr weit bis zum Schloss, doch die Gefahr war auch nie zuvor so groß gewesen. Würden sie alle ankommen? Wie lange mochte das dauern? Und welchen Gefahren würden sie wohl begegnen?
Die Verantwortung für ihre Gruppe lastete schwer auf ihm. Zum Glück war Najaxis wieder aufgetaucht, wenn auch in einem furchtbaren Zustand. Der Gedanke, dass sie vermutlich wieder jemandem verlieren würden, machte Iljan wahnsinnig. Doch nun mischte sich auch eine neue Angst darunter. Die Angst davor, seine Freunde an Folter und Gefangenschaft zu verlieren.
Iljans Gedanken rasten. Ob Askook in irgendwelchen dunklen Minen auf Rettung wartete? Allein die Vorstellung war furchtbar. Iljan hatte den Drachen sterben gesehen, trotzdem blieb ein Rest Zweifel. Immerhin waren sie sich auch bei Najaxis sicher gewesen – obwohl das zum Teil daran lag, dass Nejakai den Inkubus offenbar nach der Schlacht woanders untergebracht hatte, um sie von dessen Tod zu überzeugen.
Iljans Hass auf die Magierin wuchs noch weiter. Inzwischen wünschte er sich sehnlichst, ihr den Hals umdrehen zu können. Er durfte es nicht, das wusste er selbst, aber er wünschte es sich von ganzem Herzen.
Langsam näherten sie sich der Straße. In der Ebene von Mîm – deren Namen, wie Gudrun fand, überhaupt nicht zutraf – gab es nur wenig Deckung. Sie hatten auf den Schutz der Nacht gewartet und den Tag dazu genutzt, sich so gut es ging auszuruhen, während sie auf einem Hügel oberhalb der Straße warteten.
Immer wieder waren einzelne Reiter über die Straße gehetzt, offenbar Boten mit wichtigen Nachrichten. Später waren größere Gruppen bewaffneter Reiter aufgetaucht, die nun die Straßen auf und ab patrouillierten und gelegentlich den Wegesrand absuchten, garantiert in der Hoffnung, Spuren ihrer kleinen Gruppe zu finden.
Die Reiter hatten sich selten weit von der Straße entfernt. Sie wussten, dass nur dieser Weg zum Weißen Schloss führte, dass die Kinder der Sonne zu ihnen kommen würden. Doch für heute war Iljans Truppe unbehelligt davongekommen.
In der Nacht tauchten immer weniger Reiter auf, obwohl die Straßen selbst jetzt nicht ungefährlich waren. Stella, auf deren Rücken Gudrun erneut saß, hatte ihre Nachtalpform angenommen. Jackie lief mit gespitzten Ohren voraus, die anderen folgten in bedrücktem Schweigen, ständig auf der Hut, ständig lauschend.
Die Stimmung schlug Gudrun auf den Magen. Sie hatte Stille noch nie gut leiden können, sie war jemand, der lieber feierte und sang, oder wenigstens unermüdlich plapperte, jedenfalls, seit sie im Schattenland lebte. Auch jetzt wurde der Drang, einen dummen Witz zu reißen, immer stärker. Unruhig rutschte die Hexe auf Stellas Rücken hin und her.
Sie kannte diese Straße. Sie kannte jeden Stein, jede Biegung. Wie oft war sie früher hier entlang geritten?
Wehmut griff mit seinen harten Klauen nach ihrem Herz. Sie war über hundert Jahre lang fort gewesen, und trotzdem war ihr die ganze Ebene von Mîm so unglaublich vertraut, als wäre sie gestern erst fort gegangen. Nichts hatte sich verändert, absolut nichts. Sie kannte noch die Namen der meisten Bauernhöfe, die sich auf den umliegenden Hügeln verteilten und in Felsen verbargen. Sie erinnerte sich an die Wälder, sogar an einzelne Bäume, an die Flussläufe, die Hügel …
Sie seufzte schwer. Was hatte sie dieses Land vermisst. Aber sie war losgezogen, weil sie sich verliebt hatte. Und für die Liebe musste man Opfer erbringen.
Dayr schnaubte. Cary deutete das nervöse Zucken seiner Ohren als ein Zeichen nahender Gefahr.
„Versteckt euch!“, zischte sie ihren Freunden warnend zu und trieb den weißen Hirsch von der Straße.
Eilig und nur begleitet von dem leisen Rascheln von Fell oder Kleidung liefen die Kinder der Sonne über das Gras und auf eine Ansammlung niedriger Beerensträucher zu. Abarax schwang sich mit einem Flüstern in den Himmel, schoss nah am Boden zu einem Hügel und landete dahinter.
Cary sprang hinter den Büschen von Dayrs Rücken und warf sich auf die Erde. Der Hirsch senkte das mächtige Geweih und ging in die Knie, Stella dagegen wurde zu Rauch, kaum, dass Gudrun unsanft von deren Rücken geglitten war.
Iljan warf sich auf die eine, Merkanto auf die andere Seite von Cary, Terziel stützte den immer noch etwas erschöpften Najaxis bis zu dem Versteck und Jackie legte sich als Wölfin flach neben Iljan in das Gras.
Das alles dauerte nur wenige Herzschläge, dann lag die ganze Gruppe mit angehaltenem Atem da.
Einen Moment geschah nichts, dann zuckte Jackie mit den Ohren. Wenig später hörten sie bereits einen lauten Hufschlag wie Donner herannahen und im nächsten Moment bereits jagte eine fast schon geisterhafte Prozession weißer Reiter auf weißen Pferden vorbei.
Nur einen Herzschlag später waren die Reiter fort, doch der Hufschlag schien ihnen donnernd nachzueilen und es dauerte, bis er verklang.
„Kann mich mal einer kneifen?“, fragte Gudrun.
„Was war das?“, entfuhr es Iljan. Sein entsetzter Gesichtsausdruck hatte etwas von einem Jungen, der erfuhr, dass es eine Zahl gibt, die größer als 100 war.
„Siebenmeilenhufeisen“, murmelte Cary und sprach lauter weiter: „Die Pferde sind mit verzaubertem Eisen beschlagen worden. Das waren die edelsten Tiere im ganzen Sonnenland. Das war eine Gruppe Elitesoldaten. Ich habe nie zuvor erlebt, dass sie in den Kampf gezogen sind.“
„Dann … gibt es Krieg?“, fragte Terziel leise. „Die Reiter wollen an die Front, oder, Cary? Die Dunklen … ich meine, die Schattenländer, sie machen einen großen Angriff. Richtig?“
Iljan und Merkanto tauschten einen Blick. „Wir hätten die Vorbereitungen für einen solchen Angriff mitbekommen müssen“, sagte der Zauberer. „Eine so gewaltige Armee, wie dazu nötig wäre, könnte man nicht aus dem Nichts erschaffen.“
„Man könnte schon!“, rief Terziel.
Cary und Merkanto zischten. „Leise!“, sagte Jackie scharf.
„Es wäre trotzdem möglich!“, beharrte der Engel, wenn auch tatsächlich leiser. „Es ist nur unwahrscheinlich.“
Cary seufzte. „Mach dir nichts vor, Terz. Diese Reiter suchen uns. Wir haben Glück, dass Dayr so feine Instinkte hat, denn ohne ihn hätten wir die Gefahr niemals rechtzeitig bemerkt.“
Der Engel schüttelte geschockt den Kopf. „Die Sonnenstrahlen!“
Das war der Name dieser Gruppe. Denn sie waren schnell wie das Sonnenlicht, unbarmherzig wie die Mittagssonne über der Wüste und – nach Sonnenlandauffassung – so rein wie der glühende Himmelkörper selbst.
Eine Gruppe, die man nicht zum Feind haben wollte.
Sie wagten sich erst nach einer Weile wieder auf die Straße, nun noch angespannter als zuvor. Obwohl die Schattenwesen noch nie von den ›Sonnenstrahlen‹ gehört hatten, konnten sie aus der Besorgnis der ehemaligen Weißen Wächter schließen, dass das Auftreten dieser Gruppe nichts Gutes bedeutete. Das schlimmste war die Geschwindigkeit der Sonnenstrahlen, denn nur Dayrs Sinne waren fein genug, um die Gefahr rechtzeitig bemerken zu können. Wenn der Hufschlag für Jackie und schließlich die anderen hörbar wurde, war es längst zu spät, um sich noch zu verstecken.
So schlichen sie verstohlen wie Schatten durch die Nacht. Abarax hatte sich von ihnen getrennt und flog so weit oben, dass man ihn nur zwischen den Wolken erahnen konnte, wenn man wusste, dass er da war. Abarax, Terziel und Najaxis befanden sich auf dem Rücken des Drachen. Auf diese Weise, das war Iljans Hoffnung, wären wenigstens diese vier ihrer Gruppe in Sicherheit und könnten im Falle eines Angriffs fliehen. Cary und Dayr, Iljan und Jackie und Gudrun und Stella blieben auf der Straße, weil Abarax nicht so viele Wesen über eine lange Strecke tragen konnte. Iljan hätte niemanden auf der gefährlichen Straße allein gelassen, Jackie bleib bei Iljan, Cary bei dem weißen Hirsch (und Iljan) und Gudrun bei dem Einhorn, und es war offensichtlich gewesen, dass sich niemand von ihnen in die Lüfte hätte verbannen lassen, solange die anderen in Gefahr schwebten.
So eilten die sechs Freunde bergauf, drei höchst unterschiedliche Reiter tief im Land ihres Feindes …
Sie waren dem Ziel so nah, dass sie es schon fast zu riechen glaubten, aber noch konnte so unglaublich viel schiefgehen.