https://www.deviantart.com/ifritnox/art/801921704
Ratlos warteten die Kinder der Sonne im Schatten des Hügels, wo sie von der Straße aus nicht zu sehen waren. Die Nachricht, dass Nejakai die Elitetruppe des Sonnenreichs anführte, hatte eingeschlagen wie die Schwanzkeule eines Bergdrachen.
„Gegen die Sonnenstrahlen haben wir keine Chance“, stellte Terziel fest. „Wir können nicht vor ihnen wegrennen, und im Kampf wurden sie noch niemals besiegt.“
Stella hatte auf dem Hügel Position bezogen, wie immer in ihrer Illusionsform. Regelmäßig trabte sie zu der verborgenen Gruppe und berichtete, was auf der von hier aus nicht sichtbaren Straße vor sich ging.
„Nejakai treibt ihre Leute hart an. Sie müssen etwas gefunden haben, das uns verraten hat, denn sie entfernen sich nicht mehr“, sagte das Einhorn. „Sie suchen die Straße ab. Früher oder später werden sie Spuren entdecken, die sie hierhin führen.“
Merkanto spannte unwillkürlich die Finger an. Er konnte die Luft um sich her knistern hören. Seine Instinkte schrien danach, einen Sturm zu beschwören, der Nejakai fortblasen würde. Ein Teil seines logischen Verstandes wollte Regenwolken versammeln, damit die Wasser alle Spuren fortwuschen.
Aber er wusste, dass Nejakai sofort spüren würde, dass der Sturm nicht natürlichen Ursprungs war. Und er wäre im Auge des Sturms ein allzu offensichtliches Ziel. Auf Abarax‘ Rücken wäre er außerhalb der Reichweite der Sonnenstrahlen, die keine Flieger in ihren Reihen hatten, doch das wäre nur ein extremes Risiko: Der Drache würde sich nicht nur wegen der Blitze, sondern auch wegen gefährlicher Luftströmungen in Acht nehmen müssen … allzu leicht könnte das Ablenkungsmanöver mit zwei Toten enden.
Und das Weiße Schloss war immer noch zu weit entfernt, als dass Abarax sie dorthintragen konnte.
„Ich bringe euch hier weg!“, sagte der Drachenmahr in diesem Moment. „Ich kann euch alle wenigstens ein Stück weit tragen – vielleicht reicht das.“
Merkanto schüttelte sofort den Kopf. „Nein. Wenn Nejakai sieht, wie du abhebst, werden sie dich einfach verfolgen. Du kannst dieses Gewicht nicht lange genug tragen, um sie dann abzuschütteln.“
„Wir haben also nur die Wahl, hierzubleiben, oder uns in die Wildnis zu schlagen“, erkannte Cary. „Ich denke mal, ihr stimmt mir alle zu, dass wir hier nicht abwarten wollen, bis Nejakai unsere Spuren entdeckt. Lasst uns in die Berge ziehen.“
„Und wenn wir uns verirren?“, fragte Terziel.
Cary schüttelte den Kopf. „Das ist jetzt das kleinere Übel. Notfalls muss Abarax uns tragen, wenn wir eine Strecke nicht überwinden können. Vielleicht muss jemand gelegentlich auffliegen und unseren Kurs kontrollieren. Aber die Straße ist für uns nicht länger passierbar.“
Die Kinder der Sonne tauschten schweigende Blicke aus. Sie waren von dieser Aussicht bedrückt, aber niemand widersprach Caryellê. Merkanto konnte nicht umhin, Carys nüchterne Stärke zu bewundern. Die Gruppe hob ihre Gepäckstücke auf, die sie bereits für den Aufbruch gepackt hatten und dann, als es nicht über den Hügel weiterging, ins Gras gelegt hatten.
„Gehen wir“, sagte Cary.
Mit wunden Pfoten schleppte Jackie sich den Weg entlang, den sie gefunden hatten: Ein Trampelpfad, halb von Buschwerk überwuchert, andernorts halb im Gras der Wiesen versunken. Schon lange hatte niemand den Weg genutzt, trotzdem waren die Kinder der Sonne vorsichtig. Wer wusste schon, wann und wo der Pfad enden würde?
Iljan hatte sie angewiesen, bei der Gruppe zu bleiben – ja, ihr geradezu befohlen, sich nicht zu entfernen. Jackie hätte sich darüber gefreut, doch gerade jetzt sehnte sie sich danach, alleine und in ihrem eigenen Tempo durch die Gegend zu streifen, statt neben den langsameren Zweibeinern zu trotten. Die lange Zeit auf der Flucht hatte offenbar auch bei ihr Spuren hinterlassen – sie war, ohne es selbst zu merken, vom Rudeltier zur Einzelgängerin geworden.
„Still!“, schrie Cary plötzlich gellend.
Jackie wirbelte herum und erkannte auf den ersten Blick, dass Dayrquinêl, der weiße Hirsch, den Kopf, dem Kopf mit geblähtem Nüstern und bebenden Flanken hin und her drehte. Er hatte ein Geräusch vernommen, das ihn aufgeschreckt hatte, das erkannte der Wolf in Jackie sofort.
Die Kinder der Sonne zögerten einen Moment, dann sprangen sie panisch in Deckung. Jackie bekam nicht mit, wie es den anderen erging, obwohl sie hörte, wie Abarax unter mächtigem Rauschen abhob. Sie stob zur Seite über die Wiesen und warf sich in den flachen Graben eines kleinen Baches, der zwischen den Felsen der Geröllhalden oder Sandbänken der Wiesen ihren bisherigen Weg begleitet hatte. Kaltes Wasser drang durch ihr Bauchfell. Direkt danach hörte sie Hufschlag und dann standen drei schneeweiße Pferde schnaubend an der Stelle, wo ihre Gruppe gerade noch gewesen war. Die ungewöhnlich schlanken Tiere mit den gebogenen Hälsen sahen sich genauso wachsam um, wie ihre Reiter. Die vorderste Reiterin war Nejakai, ihre Begleiter waren zwei hochgewachsene Elfen, ein blonder Elf und eine Elfe mit rötlichen Haaren.
Nejakai wies auf den flüchtenden, gräulichen Drachen. „Bringt ihn zu Fall!“
Die beiden Elfen zogen mit raschen, synchronen Bewegungen große Langbögen und legten Pfeil um Pfeil auf die Sehne. Die armlangen Geschosse fuhren mit hörbaren Melodien in den Himmel.
„Abarax!“ Terziel kam aus einem Versteck hinter einem kümmerlichen Beerenbusch gesprungen. Nejakais Kopf fuhr herum und sie stieß eine Hand nach vorne – Terziel wurde noch im Laufen von den Füßen gerissen und rutschte auf den weißen Schwingen über den felsigen Boden.
„Sie sind noch hier!“, donnerte Nejakai.
„Was du nicht sagst!“, schrie Cary – vermutlich ihre Version eines Schlachtrufs – und Dayr sprang hinter dem großen Ast hervor, den Gudrun offenbar rechtzeitig in die Erde gepflanzt hatte. Die dunkelhaarige Elfe ließ einen Pfeil von der Sehne ihres deutlich kleineren Bogens und traf die Waffe des Blonden, worauf der Langbogen in zwei Teile zersplitterte und seinem Benutzer aus der Hand fiel. Der Elf zog jedoch ein langes, einschneidiges Schwert mit schmaler, gebogener Klinge und lenkte sein Ross auf Cary zu.
Das weiße Pferd mit den Siebenmeilenhufeisen war so schnell, dass der Blick ihm nicht folgen konnte. Ein Schritt – so schien es – und das Tier stand hinter Cary, und ihr eigener Bogen war von einem sauberen Schnitt gevierteilt worden – die vier Schnitte setzten sich über ihren Oberarm und ihre Seite fort, wo der Stoff ihrer Kleidung zerrissen war. Dunkle Flecken von Blut breiteten sich um die Flecken aus. Dayr schnaubte – er war noch mitten im Lauf gewesen und musste sich erst ausbremsen.
Eine Sekunde lang rührte sich nichts, sogar die rothaarige Elfe stellte den Beschuss auf Abarax ein.
„Tötet sie!“, rief Nejakai und riss an den Zügeln, worauf ihr Pferd sich wiehernd auf die Hinterbeine erhob und gleichzeitig umdrehte, sodass Nejakais Hand, von knisternder Energie eingehüllt, auf Cary zeigte.
Nur langsam sickerten die Schmerzen durch ihren aufgewühlten Geist. Cary starrte immer noch verständnislos auf ihre nun leere Hand, dann auf das Blut, das in Dayrs Fell tropfte. Und dann erst spürte sie die vier brennenden Streifen, einer zog sich sogar über ihren Wangenknochen. Sie spürte, dass ihr Atem schneller und flach wurde, während ihre Gedanken rasten. Wie tief waren die Wunden? Schon war ihre Kleidung auf der ganzen Seite blutdurchtränkt. Ihre Hände zitterten.
„Cary!“ Sie hörte einen Warnruf und drehte den Kopf. Ihr Blick war verschwommen, ihre Bewegungen langsam wie unter Wasser. Nejakais Reittier bäumte sich auf, die Zauberin zielte auf sie. Und weder Cary noch Dayr konnten ausweichen.
Schon kamen die Vorderhufe auf die Erde und Cary hielt den Atem an, in Erwartung der Schmerzen, wenn Nejakai mit der magisch erhöhten Geschwindigkeit eines Sonnenstrahls angreifen würde.
Stattdessen erfolgte eine Explosion von goldener Energie, die einen flachen Schild gegen Nejakais grelles Licht aufrief. Die Zauberin prallte gegen den Schutzschild, sie und ihr Pferd wurden nach hinten geworfen. Beide rührten sich nicht mehr.
Cary sah eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Die rothaarige Elfe ließ von Abarax ab und richtete den gespannten Bogen nun auf Cary. Noch immer waberten ihre Gedanken wie durch einen betäubenden Nebel und ihr Körper fühlte sich fremd, schwerfällig und taub an. Cary ließ sich zur Seite fallen, rutschte über Dayrs weiches Fell und vom Rücken des weißen Hirsches, der nervös einige tänzelnde Schritte zur Seite machte, als sie dumpf neben seinen Hufen auf die Erde fiel.
Dabei löste sich plötzlich die eine Hälfte des Geweihs vom Kopf des Tieres, das Horn war knapp über dem Schädel ebenso sauber durchtrennt worden wie Carys Bogen.
Der Hirsch scheute vor dem auf den Boden fallenden Geweih und tänzelte nun in die andere Richtung, auf Cary zu, doch ehe er auf sie treten konnte, sprang er mit einem impulsiven Satz nach vorne und verschwand aus Carys Wahrnehmung – denn nun hatte sie ihren weißen Schild gegen den Bogen der Rothaarigen verloren.
Die andere Elfe öffnete die Finger und die Sehne schnellte vor. Doch das Geschoss erreichte Cary nicht – eine Feuerwand jagte zischten zwischen ihnen hindurch und verbrannte das Geschoss wahrscheinlich in Sekundenschnelle. Die Hitze schlug Cary ins Gesicht. Gleichzeitig merkte sie, dass Iljan an ihrer Seite kniete, eine Hand ausgestreckt, vermutlich, um den Pfeil abzufangen. Wie lange war er schon dort?
Das Feuer verging ebenso schnell, wie Stella es geschaffen hatte, sodass Cary sehen konnte, wie das Pferd der Elfe scheute und austrat. Die Rothaarige, vollkommen überrumpelt, knallte mit dem Kinn auf die Brust und verlor den Bogen aus der Hand.
Hinter der Elfe, die mit ihrem Reittier kämpfte, richtete sich Nejakai benommen auf und stieß einen Ball leuchtender Energie nach vorne.
„Gaaah!“ Mit einem unartikulierten Schrei fing Merkanto die Macht der Zauberin erneut ab. Schweißperlen standen dem Magier auf der Stirn, tropften von seiner Nase und verklebten die inzwischen sehr unordentliche Frisur. Um seine ausgestreckte Hand und die verkrampften Finger knisterten Blitze.
Cary schrie auf, als Iljan die Arme unter sie schob und sie anhob. Der Schmerz in den Wunden brannte in neuem Feuer auf. Sie krümmte sich zusammen.
Lautes Rauschen ertönte, der Lärm des Windes, von dem Abarax sich tragen ließ. Der Drache landete zwischen den Kindern der Sonne und ihren Gegnern undschlug dabei mit dem Schwanz nach dem Pferd der rothaarigen Elfe, worauf dieses seine Reiterin endgültig abwarf und die Flucht ergriff. Vom einen Moment auf den anderen war es nicht mehr zu sehen.
„Schnell!“, rief der Drache.
Terziel sprang zuerst auf den Rücken seines Bruders. Dann setzte sich Iljan in Bewegung, der Cary wie ein Kind auf den Armen trug. Sie blinzelte träge und im nächsten Moment saßen sie vor Terziel … oder hinter ihm und der Engel hatte sich umgedreht? Jedenfalls sahen beide sie an und Terziel legte die Hände auf ihre Wunden.
Der Wind brauste um den Drachen. Abarax sammelte die Kräfte zum Flug.
„Jackie!“, brüllte Iljan.
Cary folgte seinem Blick und sah erstaunt, dass die Wölfin sich in das Bein des dritten Pferdes verbissen hatte, in das Tier des blonden Elfen, der sie angegriffen hatte. Gudrun und Najaxis bewarfen den Elfen darauf mit Steinen. Dieser versuchte, gegen Jackies Kopf zu treten, um sein Pferd zu befreien, konnte aber zum Glück nicht richtig treffen, weil die Geschosse von Hexe und Inkubus auf ihn einprasselten.
Jetzt aber ließen alle drei von dem Elfen ab und sprinteten zu Abarax, der, kaum, dass sie seinen Rücken auch nur berührt hatten, in den Himmel schnellte. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment hätte der blonde Elf sie erreicht, so durchschnitt seine Klinge nur die Luft und kratzte über Abarax‘ Bauch.
Der Drache schlug einen schnellen Haken und streckte die Pranken nach Stella und Dayr aus. Das Einhorn umschloss er mit einer Vorderpfote, den Hirsch ergriff er mit beiden Hinterbeinen, denn in der anderen Vorderpranke hielt er den Langbogen der Elfe umschlossen.
Nach der scharfen Kurze versuchte er, an Höhe zu gewinnen. Eine mühselige Aufgabe, bei der er sich fühlte, als wollte er mit bloßer Willenskraft eine Wand einreißen. Der Körper eines Sonnenlanddrachen besaß keine Flügel, um Auftrieb zu gewinnen, Abarax musste vielmehr den Wind überzeugen, ihn vorwärts zu bringen. Trotzdem brannte bereits jeder Muskel seines Leibs, während er sich schlangengleich durch die Luft wand. Er hörte die Schreie der Passagiere, insbesondere Iljans, während Terziel sich wohl um Caryellê kümmerte. Abarax kämpfte sich vorwärts und hielt auf einen steilen Berg zu. Er zog die Pranken nah an den Bauch, trotzdem spürte er, dass Stellas und Dayrs Hufe über die Kuppe des Felsens schrappten. Jeder Muskel schrie nach Erlösung, und Abarax suchte nach einer flachen Stelle, wo er halbwegs sicher landen konnte. Der steile Hügel sollte sie erst einmal vor den Verfolgern schützen, insbesondere, dass sie mit etwas Glück alle Reittiere außer Gefecht gesetzt hatten: Ein Pferd war geflohen und längst sieben Meilen entfernt, ein Tier verletzt und Nejakais Pferd schien sich das Genick gebrochen zu haben.
Vor den Wiesen bremste Abarax sich aus, so gut es ging, wenn er nicht riskieren wollte, wie ein Stein aus dem Himmel zu fallen. Er ließ Stella, Dayr und den Boden zuerst los, um sich dann mit freien Pranken abzufangen. Er konnte hören, wie die beiden Huftiere ihren eigenen Schwung geschickt im Trab abfingen, ehe sie bremsten.
Abarax schlitterte über die Erde und seine Klauen hinterließen tiefe Furchen im Gras. Er atmete tief durch und spürte die brennende Erschöpfung in jeder Faser seines Körpers.
„Verdammte Scheiße!“, stieß Gudrun förmlich anerkennend aus und rutschte vom Drachen. Merkanto eilte sofort zu Iljan und Terziel und half dabei, Cary sanft zur Erde zu bringen.
„Wie geht es ihr?“
„Sie ist stark“, sagte Terziel, dessen Hände blutig rot waren. Abarax betrachtete Iljan, der Cary nicht von der Seite wich. Etwas glitzerte in den Augen des Vampirs – etwas hungriges.
„Wir hatten unglaubliches Glück“, murmelte Merkanto. Der Zauberer hatte den Hügel im Blick, hinter dem Nejakai war. „Wenn mehr angegriffen oder wir die Pferde nicht so schnell ausgeschaltet hätten …“
„Glück?“, fuhr Iljan den Magier an. „Wo hatten wir denn bitte Glück?“
„Wir haben sie überrumpelt. Wir waren in der Überzahl. Und wir haben ihnen größtenteils die Möglichkeit genommen, die Schnelligkeit ihrer Reittiere einzusetzen“, gab der Zauberer kalt zurück. „Das sind die einzigen Gründe, warum wir noch leben!“