https://www.deviantart.com/ifritnox/art/801921714
Iljan beugte sich über Cary. Die Elfe war bewusstlos und der süße Geruch ihres Blutes stieg ihm verheißungsvoll in die Nase.
Er spürte ein Pochen im Zahnfleisch, von den Eckzähnen, die sich in ihrer Fassung im Kiefer regten und anwuchsen …
Iljan presste die Kiefer so fest aufeinander, dass die Zähne knirschten, und ballte die Hände zu Fäusten. Er durfte seiner Natur nicht nachgeben – Cary brauchte ihn.
Sanft trotz der verkrampften Hände umschloss er ihre Finger.
Terziel kniete an seiner Seite, noch bevor Abarax zum Stillstand gekommen war. Die anderen sprangen vom Rücken des landenden Drachens, Dayr und Stella, die Abarax zuvor abgesetzt hatte, trabten zu ihnen.
Terziel legte die Hände auf Carys Schultern und schloss die Augen. Iljan konnte die Worte nicht verstehen, die der Engel murmelte, doch goldenes Licht breitete sich um dessen Hände aus. Dann sickerte es in Carys Körper.
Iljan drehte den Kopf seitlich, als er Schritte hörte. Der Rest ihrer Gruppe hielt in einem Halbkreis bedrückt Abstand, selbst Stella, die Cary doch am längsten kannte, und Merkanto, der geholfen hatte, sie auf das Gras zu betten.
Nun wagte sich ausgerechnet Najaxis vor.
„Was willst du?“, knurrte Iljan den Inkubus an. Noch immer haftete ihm der Geruch nach Sex an und Iljan spürte, wie er unwillkürlich die Hände verkrampfte.
„Sie ist auch meine Freu- auch meine Weggefährtin und Anführerin“, sagte der Inkubus ruhig. Er begegnete dem Feuer in Iljans Blick mit einem traurigen Blick und drehte sich ab.
Iljan sah auf Carys blasses Antlitz.
„Verzeih mir, Naja.“
Er hörte, dass der Inkubus stehen blieb.
Iljan rückte seufzend ein Stück von Cary ab, um den Inkubus einzuladen, ebenfalls niederzuknien. Immerhin hatte Cary doch versucht, ihn vorzuwarnen – Eifersucht brachte ihm nichts.
Naja setzte sich neben ihn, rührte Cary jedoch nicht an. Leise kamen die anderen näher und schlossen einen Ring um die verwundete Elfe. Ein Schatten verdunkelte das Mondlicht, als Abarax den Kopf über sie schob. Der warme Atem des Drachen strich wie Sommerwind über Iljans Rücken.
Plötzlich regte sich Cary und schlug die Augen auf. Im ersten Moment offenbar verwirrt, starrte sie auf die Gesichter ihrer Freunde, die sich über sie beugten.
„Verdammte Scheiße, da ist nicht das Jenseits, oder?“, stöhnte sie.
„Nein.“ Iljan lächelte bei seiner Antwort. Carys Blick hatte sein Gesicht gesucht, eindeutig. Sie starrte ihn an, dann schloss sie die Augen und bleckte die Zähne unter Schmerzen.
„Terziel, du musst sie heilen!“, drängte Stellas sanfte Stimme.
„Ich tue schon, was ich kann!“, knurrte der Engel gereizt.
Cary hob eine Hand und schwenkte sie blind, ehe sie Terziels Schulter fand und dem Engel lobend darauf klopfte. „Machst du super!“
„Wie schnell hast du sie reisefertig?“ Merkanto nahm den erschöpften Engel beiseite, als dieser eine Pause einlegte.
„Die Wunden waren nicht sehr tief, sie hat nur viel Blut verloren“, seufzte der Engel. „Das wird sie nicht so schnell verwunden haben, aber was ich tun kann, habe ich bereits getan. Theoretisch können wir auch genauso gut weiter.“
Merkanto nickte mit Blick zum Himmel. Ihnen blieben nur noch wenige Stunden der Dunkelheit. „Wir müssen hier weg. Ich schlage vor, dass Abarax und ins zwei oder drei Gruppen fortträgt. Ich reise mit der ersten Gruppe und wir suchen einen Platz, wo Nejakai uns morgen hoffentlich nicht findet. Dann muss Abarax nur noch den Rest holen.“
Terziel unterdrückte ein Gähnen und nickte. „Ich soll es ihm ausrichten, ja?“
„Bitte“, sagte Merkanto und umfasste die Schultern des Engels, wie es Soldaten kurz vor der Schlacht taten. „Wir brauchen einen sicheren Platz, hier werden sie uns finden. Danach können wir uns ausruhen.“
Wenig später war der Plan besprochen. Merkanto, Terziel, Najaxis und Jackie befanden sich auf dem Rücken des gräulichen Sonnenlanddrachen, der sich wie ein Sandwurm in den Wind grub. Abarax flog mühsam, Merkanto konnte es an der Bewegung der Muskeln unter den harten Schuppen spüren. Sie alle waren nicht länger fit. Die Drachenschuppen hatten die Innenseite von Merkantos Hose zerfetzt und scheuerten über die Haut der Beine. Seine Finger waren eisig kalt, egal, wie tief er sie in den Ärmeln vergrub. Zwei Finger der linken Hand konnte er nun schon seit einigen Tagen nicht mehr richtig strecken, während der Schmerz im rechten Fuß ihm sagte, dass er sich irgendwann einen Zeh gebrochen haben musste, vermutlich, als er vom Rücken des Drachen gesprungen war.
Trotzdem hatte er sich auf Abarax‘ Kopf platziert, direkt hinter den gewundenen Hörnern des Drachen. Von hier aus hatte Merkanto einen besseren Überblick, und Abarax‘ Mähne wärmte seine Beine wenigstens ein bisschen. Jackie, Terziel und Najaxis waren eng zusammengerückt, der Engel in der Mitte, da er vor Erschöpfung einzuschlafen drohte.
Angestrengt spähte Merkanto auf das Land unter ihnen.
„He, wie ist es mit der Hütte dort oben?“ Er klopfte mit dem Fuß gegen Abarax‘ Hals, worauf der Drache den Kopf dorthin drehte und nun gerade auf einen Berg zuhielt. Merkanto dirigierte den Drachen durch weiteres Klopfen, bis die kleine, halb im Schnee des Gipfels verborgene Hütte direkt vor ihnen lag.
Es kam kein Rauch aus dem Kamin, obwohl das Haus so hoch lag, dass es tief eingeschneit war. Der Berg lag weit abseits des Weges, ein erster hoher Gipfel im Vorgebirge jenes Bergzugs, in dem das Weiße Schloss lag.
Abarax entdeckte die Hütte nun ebenfalls und stieg etwas weiter auf. Er kreiste über dem Dach aus Baumstämmen und landete dann auf einem nur leicht abfallenden Platz etwas oberhalb des Hauses. Merkanto sprang in den Schnee und stöhnte leise, als der Aufprall Schmerzen durch seine steifen Glieder jagte. Der Schnee war knietief. Bibbern bahnte sich der Magier einen Weg vorwärts. Der Grund war gefroren, was den Abstieg zu einem gefährlichen Abenteuer machte. Jackie sprang in Wolfsgestalt an ihm vorbei. Najaxis, der noch immer nur die leichte Kleidung seiner Art trug, fluchte laut über die Kälte.
Die rote Wölfin erreichte die Tür der Hütte und schnupperte, ehe sie sich dagegen lehnte und im dunklen Inneren verschwand. Wenig später tauchte Jackies Gesicht im Türspalt auf, den Rest ihres Körpers hielt sie hinter dem Holz verborgen.
„Verlassen!“, rief sie Merkanto über das Klappern ihrer Zähne hinweg zu. „Naja, beeil dich, verdammt!“
Der Inkubus trug Jackies Kleidung über der Schulter. Merkanto lief bis zur Hütte und stapfte den Weg dann wieder zurück, dabei seine Spur im Schnee verbreiternd und den Pfad festtretend. Er half Terziel und Najaxis bis zur Hütte und trat dann dankbar in die windstille Dunkelheit.
Es war nur eine einfache Bauernhütte, vermutlich wegen der kalten Lage schon lange aufgegeben. Während Abarax draußen abhob, um den Rest der Gruppe zu holen, inspizierte Merkanto ein kleines Wohnzimmer mit Kochecke, zwei Schlafräume und den Kamin, der im Herzen des Gebäudes errichtet worden war, wo alle Innenwände zusammenliefen, sodass sich seine Hitze im ganzen Haus verteilen würde. Merkanto nahm die Stühle aus dem Wohnzimmer und trat so lange auf deren Beine, bis diese abbrachen. Jackie, inzwischen wieder bekleidet, suchte einige Bücher zusammen und gemeinsam brachten sie ein kleines Feuer in Gang.
Verfroren suchten sie die Wärme der Flammen und hüllten sich in einige mottenzerfressene Decken aus den Schlafzimmern.
Abarax kehrte mit Stella, Dayr, Gudrun, Cary und Iljan zurück. Die Elfe schlief und Iljan trug sie in eines der Betten in den inzwischen ausgewärmten Räumen. Für den Drachen, das Einhorn und dne Hirsch war in der kleinen Hütte kein Platz, doch an einer Seite des Gebäudes schloss sich unmittelbar ein Stall an, wo die drei Schutz vor Wind und Kälte fanden.
Gudrun setze wortlos irgendeinen Kräutertrunk über dem Kaminfeuer auf. Merkanto warf einen Blick auf ihre Vorräte und erlitt einen Schock: Bei dem Angriff hatten sie fast alles verloren. Nur wenige Trockenfrüchte hatten überlebt. Gerade genug für ein karges Abendessen, dass sie mit Tee aus geschmolzenem Schnee strecken mussten.
„Wir brauchen dringend neue Vorräte“, knurrte Merkanto. „Sonst verhungern wir.“
Der Wind pfiff um die kleine Blockhütte. Von ferne betrachtet, sah das kleine Bauernhaus ausnehmend gemütlich aus: Es war in einer Art Kuhle errichtet, zu beiden Seiten hoben sich schneebedeckte Gipfel bis über das Spitzdach der Hütte, sodass das Haus aussah, als würde es tief in einem Daunenkopfkissen versinken. Aus den viereckigen Fenstern im Erdgeschoss drang ein sanfter, goldener Schimmer durch die beschlagenen Scheiben, und der Schnee häufte sich an den Rahmen der viergeteilten Scheiben an. Das Dachgeschoss, wo vermutlich früher mal ein Lager gewesen war, blieb dunkel. Dort oben gab es nur noch Moder und Kälte, also hatten die Kinder der Sonne die Luke dorthin wieder fest verschlossen.
Iljan spürte die Kälte durch seine Kleidung dringen, ein deutliches Zeichen dafür, dass er bald wieder trinken sollte. Doch zum allerersten Mal seit einer Ewigkeit hatte sein Appetit auf Blut nachgelassen. Der Drang war immer noch da, doch er fühlte sich längst nicht mehr an wie ein Zwang.
Stattdessen begrüßte Iljan die Kälte auf dem Berggipfel. Sie beruhigte seine wild kreisenden Gedanken, außerdem hatte er eine Aufgabe: Sie brauchten neues Feuerholz, die Möbel in dem kleinen Bauernhaus würden nicht mehr lange dafür herhalten können. Der Vampir hatte sich ohne Zögern freiwillig gemeldet, denn er konnte die Nachwirkungen der Kälte an seinen Freunden zu gut sehen. Er musste ihnen die Suche in dem Schneetreiben abnehmen. Und so gerne er bei Caryellê geblieben war, die sich inzwischen von den Verletzungen erholte, so hatte er einiges, über das er nachdenken musste.
Er musste damit klar kommen, dass Cary mit Najaxis geschlafen hatte, einfach, weil es für sie keine große Sache war, nichts anderes, als gemeinsam Sport zu machen. Er wusste das, trotzdem konnte er nichts gegen den Klumpen Wut unternehmen, der in seinem Bauch vor sich hin kochte. Aber weder die Elfe noch der Inkubus empfanden viel dabei …
„Was für eine vertrackte Situation“, murmelte Iljan halblaut. Er lachte trocken auf, als ihm Nepumuk einfiel – was sein Vater wohlsagen würde, wenn er von Iljans Situation wüsste? Vermutlich ‚selbst schuld!‘. Oder er würde Iljan drängen, die Elfe irgendwo einzusperren, damit kein anderer Mann sie erreichen könnte.
Iljan hob den Kopf und der kalte Wind blies ihm gegen die Wangen. Schlagartig wurde ihm klar, dass dies offenbar der Preis dafür war, sich von Nepumuks Lehren loszusagen. Er war nicht länger der Grafensohn, der im Wohlstand lebte, der alles haben konnte, was sein Herz begehrt – vorausgesetzt, er gehorchte seinem Vater – und der niemals um irgendetwas kämpfen oder gar teilen musste. Iljans Mund verzerrte sich zu einem Lächeln. Nein, nun war er so frei wie der Wind, der Nachthimmel, Mond und Sterne. Jetzt war es für ihn selbstverständlich, zu dürsten, in die Kälte zu spazieren und Feuerholz im knietiefen Schnee zu suchen – und es war gut so. Es war beinahe, als wäre er nun lebendig.
Lautes Rauschen kündigte Abarax an. Die Landung des Drachen löste einen Blizzard aus. Iljan hob den Arm vor die Augen und stemmte sich gegen den Wind, bis dieser sich legte. Der große, anthrazitfarbene Drache schüttelte sich mit einem Rasseln seiner Schuppen und präsentierte eine Vorderpranke, in der er einen toten Hirsch trug.
„Sehr gut!“ Iljan grinste. „Hast du selbst gefressen?“
„Ja“, grollte der Drache und leckte sich die Lefzen.
Iljan folgte Abarax, als der Drache zur Hütte stapfte. Kurz, bevor sie die Hütte erreicht hatten, stieß Jackie die Tür auf und nahm das tote Wild mit glänzenden Augen entgegen. Iljan, die Arme voller Holz, wurde ebenfalls empfangen.
„Leg das Holz neben den Kamin“, wies Merkanto ihn mit kritischem Blick auf die vom Schnee durchweichte Rinde an.
„Ein Festmahl!“ Jackie trich andächtig über das kurze Fell des Tiers. Abarax hatte den Hirsch mit einem schnellen Schnitt über die Kehle getötet. Das Tier war bereits ausgeblutet.
Sie legten den Hirsch auf den Boden in der Küche – die Möbel waren allesamt bereits zerlegt worden. Caryellê gesellte sich mit vorsichtigen Bewegungen zu Jackie. Die Elfe hatte die Nacht durchgeschlafen und war heute schon wieder fast die Alte, obwohl Iljan ihr ansah, dass sie längst nicht so stark war wie vor dem Angriff. Sie bewegte sich auch mit mehr Achtsamkeit und schnelles Laufen wagte sie noch nicht. Doch das Messer zücken und Jackie beim Zerlegen des Wilds zu helfen, war kein Problem. Der Geruch nach blutigem Fleisch füllte die kleine Hütte und Iljan spürte die bekannte Gier zurückkehren.
„Ich bringe Stella und Dayr noch mehr Stroh“, beschloss er und ging nach draußen. Das Einhorn hatte im Stall seine Feuerform angenommen, an der sich der Hirsch und Abarax wärmten. Doch das hieß auch, dass Stella besser nicht im Stroh stand, sodass sie den größten Teil des Heus in die Wohnung gebracht hatten, um den Boden damit zu bedecken. Zusammen mit den Mänteln und Stoffen, die sie darauf ausbreiteten, hatten sie eine große, bequeme Lagerstätte geschaffen. Doch im Stall war nur ein winziges bisschen Stroh für die Pflanzenfresser geblieben, sie mussten den Futtertrog regelmäßig auffüllen.
Als Iljan von dieser Arbeit zurückkehrte, brieten die ersten Stücke vom Hirsch bereits über dem Feuer. Jackie hatte für sich etwas rohes Bauchfleisch auf die Seite gelegt, und Iljan reichte sie eine große Karaffe mit Hirschblut. Sie grinste. „Nicht alles auf einmal!“
„Danke!“ Iljan wunderte sich, dass sie aus dem ausgebluteten Tier überhaupt noch so viel Blut bekommen hatte.
„Morgen sollten wir weiter ziehen“, verkündete Merkanto und sah in die Runde. „Wir verlieren zu viel Zeit.“
Gudrun sah, wie Iljans Blick zu Cary huschte. Die Elfe nickte, also stimmte der Vampir Merkanto zu. „Wieso willst du noch eine Nacht hier verbringen? Lass uns losziehen, sobald es dunkel wird.“
Der Magier zögerte einen Moment.
„Wir schlafen jetzt nach dem Essen, etwas anderes bleibt uns hier auch nicht zu tun. Wir ziehen im Schutz der Nacht los.“
Merkanto nickte. „Du hast recht. Ich werde den anderen drei Bescheid sagen …“
Der Magier wollte aufstehen und fiel mit einem Ächzen zurück auf das Stroh.
„Ich mache das“, sagte Gudrun. „Ich mache nur schnell einen Trank gegen die Kälte – ich will ohnehin mal nach Stella sehen.“
Der Magier nickte und wich ihrem Blick aus. Er betrachtete seine Hände, verwundert, als könnte er sich nicht erinnern, dass die Kälte einem so zusetzen konnte.
Gudrun machte den Trank über dem Feuer und stellte fest, dass ihre Vorräte an Kräutern rapide schrumpften. Sie hatte ihren gewaltigen Sack voller Zutaten durch das halbe Sonnenland geschleppt, nun waren ihr zum großen Teil nur noch leere Flaschen und Scherben geblieben.
Nachdem sie den Tee getrunken hatte, der sie von innen warm hielt, ließ sie ihren Gefährten den Rest, ging nach draußen und sortierte schweren Herzens ihre Fläschchen und Phiolen aus, um sie im Schnee zu vergraben.
„Ich komme im Sommer wieder und hole euch!“, versprach sie ihnen dabei flüsternd.
Am Ende war ihr Bündel deutlich leichter. Sie drehte sich zu dem Stall um und stutzte.
Der Stall war dunkel. Das Licht von Stellas Feuerform war erloschen.
So schnell ihre kurzen Beine sie trugen, eilte Gudrun durch den Schnee und stürmte in den Stall. „Stella? Abarax! Dayr!“
Eisige Kälte empfing sie. Schloss sich als Faust um Gudruns Herz.
Dann ertönte Stellas Stimme. „Wir sind hier, alles gut. Nur …“
Das Einhorn trat aus dem Schatten des Stalls, wo sich Abarax und Dayr vor dem schneidenden Wind verbargen.
Gudrun lachte auf. „Eigentlich hatte ich schon damit gerechnet!“