https://www.deviantart.com/ifritnox/art/801921727
Iljan brauchte eine ganze Weile, um Nejakai inmitten der unzähligen Reiter zu entdecken. Hinter sich hörte er Terziel flüstern:
„So viele Sonnenstrahlen gibt es doch gar nicht!“
„Nejakai muss die weißen Wächter ebenfalls ausgestattet haben“, antwortete Cary. „Das heißt nichts gutes.“
Iljan musterte ihre Gegner aufmerksamer. Tatsächlich ritten nicht besonders viele auf den weißen Pferden der Sonnenstrahlen. Offenbar hatte Nejakai veranlasst, dass auch gewöhnliche Pferde sowie Zentauren mit den magischen Hufeisen der Sonnenstrahlen beschlagen wurden. Damit standen sie einer Übermacht gegenüber, obwohl die geringe Hoffnung bestand, dass einige der Kämpfer nicht an die extreme Geschwindigkeit der Sonnenstrahlen gewöhnt waren.
Nejakai befand sich auf dem höchsten Punkt im Ring der Berge. Iljan sah, wie sie eine Hand hob. Unzählige Reiter spannten ihre Bögen oder holten mit Wurfspeeren aus. Nejakai senkte die Hand und der Himmel verdunkelte sich. Einen Moment schienen die tausend Geschosse wie eine Wolke über ihnen zu schweben, düster und bedrohlich, doch auch nicht mehr als Wasserdampf.
Dann senkten sich die Spitzen und im nächsten Moment prallten Pfeile und Speere von dem Eisschild von Stella ab oder verbrannten aufleuchtend in Merkantos Schild aus Elektrizität.
Das Prasseln der Geschosse war wie ein Hagelsturm, ohrenbetäubend laut. Iljan sah mehrere Eisenspitzen, die im Eis stecken bleiben. Feine Risse durchzogen die schützende Kuppel.
„Heilige Scheiße … wir sind tot!“, flüsterte Najaxis.
Iljans Gedanken rasten. Sie saßen in der Falle. Selbst wenn die Kinder der Sonne die gleichen Bögen wie ihre Angreifer gehabt hätte, hätten sie die Sonnenstrahlen auf den Bergkuppen trotzdem nicht treffen können. Mit Abarax in diesem Pfeilregen starten zu wollen, käme einem Selbstmord gleich, und auch hier am Boden würden ihre Schilde nicht mehr lange halten. Nun folgten auf die Pfeile auch noch Energiestrahlen aus Magie. Nejakai hatte ihre Magier überall in den Reihen verteilt, sodass die Angriffe die Kinder der Sonne in ein buntes Gitternetz hüllten. Überhaupt war dieser Angriff gut durchdacht. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Kinder der Sonne keine Kraft mehr hätten, um sich zu wehren.
„Merkanto?“, rief Iljan dem Magier zu und erhoffte sich irgendeinen Plan, irgendeine Antwort.
Der alte Magier hatte einen kraftlosen Gesichtsausdruck und hob die Schultern. Er wusste also auch nicht weiter.
Iljan ballte die Hände zu Fäusten. Nein … sie waren ihrem Ziel so nah, er würde nicht zulassen, dass Nejakai sie jetzt noch aufhielt. Und wenn er eigenhändig jeden einzelnen Reiter töten müsste!
Er spürte, wie seine Zähne in die Länge wuchsen, und er spürte ein vertrautes Brennen in den Augen, als sie sich zornesrot verfärbten. Die Sonne, die sich über dem Tal erhob, brannte ihm plötzlich in den Augen. Iljan bleckte die Zähne, während das Licht wie Feuer über seine Haut strich. Er spürte die wild schlagenden Herzen seiner Freunde, roch ihre Angst. Er würde sie beschützen.
Ein Kribbeln im Nacken – Jackie trat mit gesträubtem Fell an seine Seite. Ihr Knurren weckte uralte Instinkte, die Iljan zur Flucht drängten. Jackie war in ihrer Wolfsgestalt noch recht klein, aber er konnte sehen, dass es auf den Vollmond zuging.
Cary trat, ihre kurzen Pfeile auf die Sehne des mächtigen Langbogens gelegt, neben sie. „Was immer du vorhast, Iljan … ich gebe dir Deckung.“
Er hatte keinen Plan, außer: Durchbrechen, so viele Gegner wie möglich ausschalten und Nejakai in der Luft zerfetzen.
„Wenn ihr loswollt, öffne ich den Schild für euch“, sagte Stella ruhig.
Gudrun hielt eine bauchige Glasflasche in der Hand, warf sie in die Luft und fing sie wieder auf. „Rauchbombe. Die könntet ihr brauchen.“
Und Terziel grinste breit: „Ich schaffe es bestimmt, ein paar der Idioten da oben zu blenden.“
Iljan wurde von einer Welle von Stolz überrollt. Selbst in dieser hoffnungslosen Lage gaben seine Freunde nicht auf.
Er nickte Stella zu und trat an den Rand des Schildes. Doch Terziel legte ihm eine Hand auf die Schulter und schob ihn sanft beiseite. „Wenn Gudrun die Bombe geworfen hat, lass mich zuerst gehen.“
Der Schild öffnete sich vor ihnen, als Stella und Merkanto ihre Magie gleichzeitig von der Stelle zurückzogen. Ein rundes Tor entstand. Gudrun schleuderte die bauchige Flasche und dichter Qualm breitete sich vor der Öffnung aus. Doch immer noch hörte Iljan die Pfeile zischen und prasseln. Die Sonnenstrahlen konzentrierten das Feuer nun auf die Rauchwolke. Terziel machte einen Schritt nach vorne, aus der Deckung des Schildes heraus, und hob die Hand. Iljan schaffte es gerade noch rechtzeitig, seine Augen mit der Hand abzuschirmen, denn ein gleißendes Licht erstrahlte zwischen Terziels Fingern und explodierte förmlich. Für einen Moment war es, als wären sie im Inneren der Sonne, das ganze Tal wurde von dem hellen Leuchten durchflutet. Fast sofort wurde es wieder dunkler.
„Los, jetzt!“, rief Terziel. Iljan rannte blindlings los, an dem Engel vorbei, der erschöpft auf der Erde kniete.
Es flogen keine Pfeile mehr. Die Feinde waren geblendet. Iljan spürte den Wind im Haar, als er rannte, hinauf auf die Hügel. Dort drehten die Sonnenstrahlen ihre Köpfe geblendet hin und her, einige schossen blind oder nach Gehör, doch ihre Pfeile verfehlten die Ziele. Laute Rufe wurden ausgetauscht und über allem war Nejakais Kreischen zu hören: „Sie sind durchgebrochen! Sie greifen an!“
Iljan konnte nicht anders, als grimmig zu lächeln, als er die Panik in der Stimme der Magierin hörte.
Oh ja, jetzt schlugen die Kinder der Sonne zurück. Und sie würden Rache nehmen für alles, was man ihnen angetan hatte.
Im Inneren des doppelten Schildes wurde es nun schnell immer leerer. Iljan führte seine Freunde in den Angriff, sogar Gudrun lief mit, die Arme voller Tränke und deshalb deutlich langsamer als der Rest. Abarax schwang sich elegant in den Himmel, Jackie wetzte als Wölfin vorwärts, Cary auf dem Rücken von Dayrquinêl.
Stella warf Merkanto einen Blick zu: „Braucht ihr mich hier noch?“
Der Magier schüttelte den Kopf.
„Ich lasse euch die Eiskuppel“, verkündete Stella, ehe sie direkt neben Merkanto in Flammen aufging. Die Hitze schlug dem Zauberer ins Gesicht und ließ ihn stolpern, doch das Einhorn galoppierte bereits vorwärts. Die ersten Feinde hatten sich von Terziels Lichtblitz erholt und zielten auf Gudrun und Terziel. Während Iljan, Cary und Jackie bereits mitten unter den Feinden waren, befand sich Gudrun noch auf freiem Feld und gab ein leichtes Ziel ab. Terziel war dagegen zusammengebrochen und Najaxis zerrte den Engel in den Schutz der Eiskuppel zurück. Sobald das Einhorn durch die runde Öffnung gerannt war, verschloss Merkanto den Eingang mit einem Netz aus Blitzen, sodass die Pfeile der Sonnenstrahlen Terziel und Naja nicht erreichen konnten. Merkanto spürte seine eigenen Kräfte schwinden, doch er spürte ebenfalls Energie in den Wolken über sich. Ein Sturm braute sich zusammen – ein unglaubliches Glück.
Stella wurde schneller und stieß das Horn vor, um die Pfeile zu verbrennen, die auf Gudrun regneten. Die Hexe kippte irgendeinen Trank hinunter und sprang auf den Rücken des Flammenhorns. Erleichtert sah Merkanto auch diese beiden im Getümmel abtauchen, wo sie wenigstens vor Pfeilen geschützt waren. Die Sonnenstrahlen würden nicht riskieren, ihre eigenen Leute zu treffen.
In Sicherheit waren Gudrun und Stella und die anderen vier damit immer noch nicht.
Iljan tauchte unter einem Säbel hindurch, der nach ihm geschwungen wurde, und stieß die Faust dabei in die Flanke des Pferdes, dessen Reiter ihn gerade fast erwischt hätte. Das Tier wieherte vor Schmerz und machte einen Ausfallschritt – Tier und Reiter verschwanden auf der Stelle, doch schon flog eine Lanze auf Iljan zu. Er sprang zur Seite, dann in die Luft und landete auf einem Pferderücken, hinter einem anderen Reiter. Iljan riss den Kopf zurück und schlug dem Feind die Zähne in den Hals. Ein Aufschrei, dann erschlaffte die Gegenwehr. Iljan trank einen großen Schluck, ehe er den Mann vom Pferd gleiten ließ und dem Tier die Sporen gab.
Seine Umgebung wechselte innerhalb eines Wimpernschlags, zum Glück, denn im nächsten Moment wäre er von Pfeilen, Schwertern und Speeren durchbohrt worden. So trafen die Waffen nur in der Luft aufeinander, während Iljan auf der anderen Seite vom Tal erschien und vom Pferd sprang, um den nächststehenden Gegner anzugreifen.
Es musste sich um einen Wächter handeln. Während die Sonnenstrahlen sich ständig umblickten und deshalb auch die Gegend hinter sich im Blick hatten, war der junge Zentaur vor Iljan vom Schlachtgeschehen vollkommen eingenommen. Der Pferdekörper war kleiner als es bei ausgewachsenen Tieren der Fall gewesen wäre, und auch der Menschenkörper sah halbwüchsig aus. Dass der Zentaur trotzdem hier war, bedeutete, dass er entweder etwas jünger aussah, als er war, oder dass Nejakai wirklich verzweifelt versuchte, die Kinder der Sonne auszulöschen. Man konnte sehen, wie der Zentaur beinahe instinktiv auf der Stelle trampeln wollte und sich nur mühsam zurückhielt.
Iljan spannte die Muskeln und spürte, wie Kleidung und Haare von der knotigen Haut der Riesenfledermaus übernommen wurden, die seine wahre Gestalt war. Ein Alptraum mit spitzer Schnauze, glitzernden Augen, großen, spärlich behaarten Ohren …
Er fauchte. Der junge Zentaur wirbelte herum und machte einen Satz nach hinten. Fort war er, von der Magie der Siebenmeilenhufeisen mitgerissen.
Die Kämpfer in der Nähe hatten Iljan noch nicht bemerkt und so nutzte er die Gelegenheit, um sich einen Überblick zu verschaffen. Doch die Schlacht war ein einziges Chaos, nur Abarax, der am Himmel kreiste, war leicht zu entdecken. Der feste Ring hatte sich aufgelöst, Sonnenstrahlen und Weiße Wächter verteilten sich überall im Tal. Hier und da bildete sich eine größere Traube, wo offenbar einer von Iljans Freunden war und von den Feinden bedrängt wurde. Doch ebenso wie er selbst nutzten Caryellê und die restlichen offenbar die schnellen Pferde der Sonnenstrahlen, um aus solchen Situationen zu fliehen.
Iljan sah genauer hin: Manche der Reitertrauben stießen blindlings auf die Luft ein, als wäre dort etwas, das niemand sonst sehen konnte. Nach einer Weile entdeckte er ein Muster, denn diese Gruppen bildeten, wenn man sie mit gedachten Linien verband, eine ziemlich gerade Strecke. Kleine Flammensoden bekräftigten die imaginären Pfade dazwischen. Stellas Spuren. Dann waren die Kämpfer offenbar unter dem Einfluss irgendeines halluzinogenen Tranks von Gudrun.
Mehrere Sonnenstrahlen schlugen auf die Eiskuppel ein, in deren Inneren Merkanto, Najaxis und Terziel festsaßen. Der alte Zauberer hatte sein Energienetz verstärkt, sodass jeder, der mit einer Metallwaffe auf das Eis schlug, von einem Blitz fortgeschleudert wurde.
Aber Iljan kümmerte sich nicht wirklich um die Eiskuppel oder den Kampf seiner Freunde. Diese Menge an Gegnern konnten sie nicht bezwingen. Es gab nur eine Möglichkeit, ihnen zu helfen: Er musste der Schlange den Kopf abschneiden. Nejakai – das war sein Ziel.
Cary trieb Dayr vorwärts. Federleicht sprang der weiße Hirsch durch die Reihen der Weißen Wächter und Sonnenstrahlen. Er verlieh ihr eine gewisse Unantastbarkeit.
Kein Bewohner des Sonnenlandes würde es wagen, einen weißen Hirsch zu verletzen. Sie besaßen zwar keine aktive Magie, konnten keine Zauber wirken, doch trotzdem waren sie als einige der mächtigsten Wesen in beiden Reichen. Geschöpfe, die Wünsche erfüllen konnten, waren heilig.
Natürlich glaubten die Feinde, dass Cary das edle Tier versklavt und gezwungen hatte, ihr zu dienen. Man versuchte, sie vom Rücken des Hirsches zu schießen, aber die Angriffe waren vorsichtig, halbherzig. Für eine geübte Kämpferin wie Cary also kein Problem.
Das gab ihr die Möglichkeit, das Schlachtfeld nach Nejakai abzusuchen. Irgendwo musste sich die weiße Hexe befinden und ihre Truppen leiten. Doch den erhöhten Berg hatte sie offenbar verlassen.
Wo war sie nur?
Cary sah ein Geschoss von der Seite heranfliegen. Ein Speer. Sie ließ sich zur Seite und unter den Bauch ihres Reittieres fallen, ein Trick, den sie mit Stella eingeübt hatte. Dayr erschrack jedoch und machte einen Satz nach oben. Ein heller Schrei erklang vom Speerwerfer und Cary konnte fühlen, wie Dayrs Fell von einer Wucht erzitterte.
War er getroffen? Ihren Schwung ausnutzend glitt sie wieder nach oben und atmete erleichtert auf. Der Speer hatte den Rücken des Hirsches nur gestreift. Es war eine Wunde zurückgeblieben, doch sie blutete nur oberflächlich.
Dayr fuhr herum, fixierte den Speerwerfer, der auf einem Karibu ritt, und machte mit gesenktem Geweih einen Satz auf ihn zu. Der Reiter schrie auf und ließ sich von seinem Reittier fallen. Das zottige Tier senkte das Geweih vor dem größeren Hirsch und konnte den anstürmenden Dayr besänftigen.
Der liegende Reiter starrte Cary an. Sie konnte nur einen winzigen Ausschnitt seines Gesichts durch das Visier seines Helms erkennen. Für einen Moment zielte ihr Bogen direkt auf den Liegenden.
Dann gab sie Dayr die Sporen und der Hirsch sprang weiter. Cary würde keine jungen Soldaten töten. Nicht, wenn es sich vermeiden ließ.
Endlich entdeckte sie Nejakai. Die Magierin befand sich bei der Eiskuppel. Der mächtige Strahl Magie, den sie auf den Schutzwall richtete, hatte sie verraten.
In der Kuppel saßen noch immer drei Kinder der Sonne in der Falle.
„Schneller, Dayr!“, rief Cary und trieb den Hirsch an. „Bei der Sonne, beeil dich!“
Dayr sprang los. Cary konnte sehen, wie das Eis schmolz. Gleich würde es nur noch ein Kampf zwischen Merkanto und Nejakai sein.
Da entdeckte sie Iljan, der ebenfalls zur Kuppel rannte, kaum mehr als ein schwarzer Schatten. Während Cary sich über den Hals des Hirsches beugte, hielt Iljan einen Steinwurf von Nejakai entfernt.
Etwas lag in seinem Gesicht. Ein grimmiger Ausdruck, den Cary so nicht von ihm kannte.
Sie wollte Iljans Blick zu Najaxis, der den offenbar bewusstlosen Terziel halb auf dem Schoß hatte.
Sie erinnerte sich an die Nacht im See und dann ihren Aufbruch am nächsten Morgen. An den Blick, den Iljan schon damals gehabt hatte.
Er weiß es!, schoss es ihr durch den Kopf. Er weiß von mir und Naja – und er kann es nicht verzeihen.
Angst ballte sich in ihrem Magen zusammen.
„Schneller, Dayr!“, schrie sie panisch.