https://www.deviantart.com/ifritnox/art/801921859
Weder Nejakai noch Najaxis, Terziel oder Merkanto hatten ihn bereits bemerkt. Die Aufmerksamkeit aller vier war von der Kuppel eingenommen. Das Eis schmolz unter Nejakais Magiestrahl. Merkanto versuchte, das wachsende Loch mit seiner Macht zu flicken. Terziel war bewusstlos oder kaum bei Bewusstsein, er hatte sich verausgabt, und Najaxis hielt den Engel fest und suchte nach einem Ausweg.
Iljan wollte ihnen helfen. Er musste ihnen helfen! Aber sein Körper war wie erstarrt, als ihm klar wurde, dass er Naja retten musste. Ausgerechnet Najaxis, den Inkubus, der ihm Cary streitig machte. Iljan wusste, dass die Andersweltwesen eine andere Einstellung zu solchen Dingen hatten. Er wusste, dass seine Freunde, weder Cary noch Naja, es nicht böse gemeint hatten.
Das war der logische Teil seines Gehirns. Doch er hasste sie trotzdem, ganz besonders Najaxis. Die Vorstellung, dass jemand anderes Cary berührte, jagte Feuer in Iljans Adern. Er konnte sich nicht helfen – er wünschte Naja den Tod. Und alles, was er tun musste, war, ein wenig zu zögern, bis er Nejakai angriff. Niemand würde es merken. Es wäre ein Unfall im Kriegsgetümmel, so was kam vor.
Er schloss die Augen und verpasste sich selbst innerlich eine Ohrfeige. Er durfte so nicht denken, verdammt! Hier ging es nicht um seine Gefühle, nicht mehr. Es ging darum, dem Sonnenland zu beweisen, dass sie mehr waren als nur die verhassten dunklen Wesen. Und jede Entscheidung zählte.
Krachend brach das Eis. Merkanto sprang zurück, als Nejakais Magiestrahl ins Innere der Kuppel drang. Der Magier riss irgendwas hoch, das Nejakais Magie reflektierte und ihr den Lichtstrahl in die Augen jagte. Geblendet taumelte die Magierin zurück.
Iljan sprang vor und packte die überraschte Nejakai von hinten. Er umklammerte ihre Arme und spürte, wie die Energie ihrer Magie sich über ihren gesamten Körper ausbreitete und auf ihn übersprang. Wie Merkantos Elektrizität oder Säure. Es brannte.
Iljan presste die Zähne aufeinander und hielt die Zauberin weiter fest. Immerhin konnte sie so nicht länger auf die Eiskuppel feuern.
Nejakai zappelte, wand sich, stieß mit den Ellbogen zu und trat aus. Vor allem warf sie den Kopf hin und her, instinktiv ahnend, was Iljan vorhatte. Das war seine beste Chance, doch er musste sich beeilen, sonst würde Nejakais Magie ihn verbrennen.
Nun reagieren auch die anderen Kämpfer auf den Angriff auf ihre Anführerin. Pfeilspitzen richteten sich auf Iljan, warteten auf ein freies Schussfeld, Nahkämpfer rannten auf ihn zu, Reiter wendeten ihre Tiere …
„Tötet ihn!“, kreischte Nejakai wie von Sinnen. „Egal, was es kostet, tötet ihn!“
Dayr rauschte dem Kampf entgegen wie ein Wirbelsturm. Nejakais Stimme hallte, von irgendeiner Macht verstärkt, über das gesamte Schlachtfeld. Cary spannte den Langbogen und schoss einen Warnpfeil vor die Füße des vordersten Nahkämpfers. Der große Troll geriet tatsächlich ins Stocken und wandte sich um, um auf die Drohung der neuen Kämpferin zu reagieren. Er schwang die Axt gegen Dayr und Cary musste den Hirsch widerstrebend zurückhalten. Dabei wollte sie so schnell wie möglich zu Iljan!
Es stand nicht gut um den Vampir. Seine Haut war mit goldenen Flammen überzogen. Und nun befolgen die Bogenschützen Nejakais Befehl und schossen, ohne Rücksicht auf die Magierin in der Schusslinie.
„Iljan!“, schrie Cary auf.
Da gingen die Pfeile ringsum den Vampir in Flammen auf und Stella erschien wie aus dem Nichts. Sie musste in ihrer Nebelgestalt herangekommen sein. Irgendwo weiter weg hörte Cary Gudrun triumphierend krächzen.
Sie schalt sich selbst. Wäre sie abgestiegen, hätte Dayr Iljan mühelos erreichen und retten können. Wieso brauchte es eine schwarze Hexe, um auf so eine Taktik zu kommen?
Cary schoss einen Pfeil auf die Axt des Trolls und konnte die Schneide ablenken, sodass Dayr durch eine Lücke zwischen den Kämpfern zu Iljan, Nejakai und Stella springen konnte. Cary glitt vom Rücken des Hirsches.
„Halte uns den Rücken frei!“, rief sie, was sowohl Hirsch als auch Einhorn taten.
Mit einem Schritt war Cary bei der Magierin, packte ihre Haare und riss ihren Kopf zu einer Seite.
Iljan zögerte keinen Herzschlag. Er trieb die Fangzähne tief in Nejakais entblößten Hals. Seine Augen blitzten hellrot auf, voller Gier und Mordlust, und für einen Moment wäre Cary am liebsten vor ihm geflohen.
Nejakai erschlaffte einige quälend lange Herzschläge später und sank wie eine Puppe in sich zusammen. Iljan ließ sie auf den Boden gleiten. Er atmete schwer, Blut rann über sein Kinn. Cary berührte seine Schulter, um ihn notfalls gewaltsam zu zwingen, von der Magierin abzulassen.
Iljan schreckte vor ihr zurück. „Nicht“, knurrte er mit rauer Stimme. „Halt dich … fern von mir.“
Sie erwiderte seinen Blick fest. Seine Worte hätten sie verletzen können, besonders, da sie sein Zögern eben gerade gesehen hatte. Doch sie sah den Kampf, der in ihm vorging, die angespannten Muskeln, die in die Länge gewachsenen Zähne. Furchtlos packte sie seine Schulter, obwohl ihr Herz raste. Sie wusste, wie schnell Iljan sein konnte.
„Ich habe keine Angst“, sagte sie trotzdem. „Du bist stärker.“
Iljan warf den Kopf hin und her, dann legte er ihn in den Nacken und Cary konnte sehen, wie seine Fangzähne sich zurück in den Kiefer zogen. Iljan keuchte. „Du bist verrückt.“
Cary lachte und drückte ihm einen Kuss auf den Hals. „Los, du musst den Kampf beenden.“
Abarax landete dicht bei der Kuppel und knurrte die Bogenschützen an, die ihre Pfeile nach ihm schossen. Es waren bereits weniger, sodass er es wagen konnte, zu landen. Unsicherheit machte sich in den Rängen der Sonnenstrahlen und Weißen Wächter breit.
Iljan, der eine reglose Nejakai auf den Armen trug, trat zu Abarax und kletterte wortlos über seine grauen Schuppen bis auf den Kopf des gewaltigen Drachen. Ein wenig missmutig reckte Abarax sich. Er wurde nur äußerst ungern als Podium missbraucht, doch es gab keine andere Wahl.
Nejakai war doch nicht vollkommen reglos. Sie blinzelte und wimmerte. Doch ihre Hände waren provisorisch gefesselt mit dem Gegenstand, den Merkanto zum Abblocken ihrer Macht verwendet hatte: Das war das Relikt der Vorzeit, die Tüte, die Merkanto instinktiv hochgerissen hatte. Das seltsame Material, Plastik, hatte die Magie neutralisiert und war nun um Nejakais gefesselte Hände geschlungen worden. Abarax spürte, wie sie sich auf seiner Stirn bewegte und mit einem Knurren wehren wollte.
„Vergiss es“, erklang Iljans drohendes Flüstern. Dann hob der Vampir die Stimme: „Wir haben eure Anführerin! Legt die Waffen nieder und entfernt euch, dann wird Nejakai nichts geschehen! Bleibt ihr, so werden wir jeden einzelnen von euch kampfunfähig machen!“
Die Geräusche von Stahl auf Stahl und brausender Magie verebbten. Alle Blicke richteten sich auf den Vampir, die weißgekleidete Magierin und den Drachen, der sie in die Höhe hob.
„Lügner!“, rief jemand. „Nejakai hat immer noch ihre Magie!“
Mehrere Bogenschützen feuerten auf Iljan und die Magierin. Nejakai schrie auf, als die Pfeile auf sie zu rasten.
Abarax verstand: Zu jeder anderen Gelegenheit war Nejakai mächtig genug, um die Waffen abzublocken oder erhaltene Wunden zu heilen. So konnte sie ihren Leuten befehlen, auch auf sie zu schießen.
Aber jetzt war ihre Magie gebannt. Der Drache konnte sehen, wie sich die Angst in die Gesichter der Schützen legte, als auch sie begriffen.
Irgendeine schnelle Bewegung auf Abarax’ Stirn. Er konnte nicht sehen, was geschah, aber Schmerzensschreie und der Geruch von Blut blieben aus. Erstaunte Blicke hafteten an dem Geschehen auf seinem Kopf.
Dann fiel ein Bündel Pfeile auf der linken Seite herunter. Iljan musste sie gefangen haben.
„Geht!“, knurrte der Vampir laut. „Legt eure Waffen nieder und verschwindet! Eine dritte Chance gibt es nicht!“
Die ersten Reittiere mit Siebenmeilenhufeisen verschwanden. Offenbar gab der Schock, dass sie beinahe Nejakai getötet hätten, den Ausschlag für die Angreifer. Das Tal leerte sich. Wer kein Reittier mehr hatte, wandte sich zu Fuß zur Flucht.
Ganz langsam wagte Abarax es, auszuatmen.
„Warum zögert ihr es heraus? Ich werde euch nichts erzählen, um mein Leben zu erkaufen. Ich weiß, dass es alles Lügen sind!“
Nejakai kniete auf der Erde und funkelte die Kinder der Sonne trotzig an. Iljan massierte sich die Stirn.
„Wir könnten es tun!“, meinte Najaxis. „Sie bettelt doch förmlich darum!“
„Nein!“, fuhr Iljan ihn so scharf an, dass der Inkubus ein paar Schritte zurück machte. Was war bloß mit dem Vampir los?
„Wir müssen sie daran hindern, uns zu folgen, ohne sie zu verletzen.“ Jetzt stellte sich auch noch Cary auf Iljans Seite. Najaxis schenkte ihr einen finsteren Blick. Wie war das letztens noch gewesen? „Oh, oh, Naja, oh, Naja! Ja! Oh! OH!“ – und jetzt? Pah! Frauen! Nächstes Mal würde er sich Terziel schnappen.
Iljan rieb sich wieder die Stirn und sah zu der Magierin. Die Kinder der Sonne hatten zur Beratung einen Kreis gebildet. Zwar konnte Nejakai ihre Beratung nicht hören, aber die Kinder der Sonne konnten die Magierin hören. Deutlich.
„Ich hätte eine Idee, aber ihr müsst mir sagen, ob es zu grausam ist“, begann Iljan.
Er erklärte. Auf den Gesichtern der Kinder der Sonne breiteten sich ein hämisches Grinsen nach dem anderen aus. Nejakai sah es, schluckte und verstummte.
Die Berge erhoben sich nicht weit hinter dem Tal. Dahinter lag ihr Ziel: Das weiße Schloss!
Die Kinder der Sonne hatten ihr weniges Gepäck schnell zusammengesucht. Terziel war wieder zu sich gekommen und einige kleinere Wunden waren ausgewaschen und verbunden worden. Dayrs Kratzer am Rücken hatten sie nur mit einer von Gudruns Salben bestreichen können.
Stella nahm ihre Illusionsform an, in der Hoffnung, dass sie in dieser Gestalt leichter wäre. Terziel und Iljan hatten entschieden, eigenständig zu fliegen, weshalb sie auf den Einbruch der Nacht warteten. Die restlichen Kinder der Sonne würde Abarax tragen. Es würde ein Kraftakt für den Drachen werden, doch sie taten, was sie konnten, um ihm die Aufgabe zu erleichtern. Selbst Gudrun – sie trennte sich schweigend von allen Tränken und bettete ihre letzten Vorräte schweigend unter einem Busch auf den Hügeln zur letzten Ruhe.
Es war ein fast schon herzzerreißender Anblick.
Nejakai beobachtete die Vorbereitungen schweigend. Seitdem die Entscheidung gefallen war, spürte sie wohl, was ihr bevorstand und war still geworden.
Endlich wurde der Himmel dunkler. Die Kämpfer waren abgezogen und bisher nicht wiedergekommen, obwohl Iljan nicht abwarten wollte, bis sie vielleicht einen Rettungsversuch starteten.
Er nickte Abarax zu. „Brecht auf!“
Die Flugunfähigen stiegen auf Abarax‘ Rücken oder – im Falle von Stella und Dayr – stellten sich vor seine Pranken, um aufgehoben zu werden. Langsam wand sich der Drache in die Luft, wie eine Schlange im Wasser. Er stieg höher und höher. Terziel folgte mit weißen Schwingen, obwohl der Engel ein wenig schräg flog. Seine Verletzungen waren immer noch nicht vollkommen geheilt.
Nur Iljan blieb zurück. Er trat zu Nejakai, die sich straffte und ihm entgegensah als wäre er ihr Henker.
In gewisser Weise stimmte das auch.
„Ich möchte, dass du das hier verstehst“, sagte Iljan. „Ich tue das nicht, weil es mir gefällt oder weil ich gerne grausam bin. Aber wir können dich nicht gefesselt hier zurücklassen. Vermutlich würden deine Leute dich befreien, aber wenn nicht, wäre das dein Todesurteil. Und das wollen wir nicht. Gleichzeitig müssen wir verhindern, dass du uns direkt angreifst. Also bleibt uns nur eine Möglichkeit. Die – witzigerweise – auch gleich eine Lektion für dich darstellt.“
Nejakais Blick entgleiste. Sie verstand.
„Das wagst du nicht!“, flüsterte sie.
„Ich werde dir eine Chance lassen“, sagte Iljan ruhig. „Ich weiß immerhin, was es bedeutet, ein dunkles Wesen im Sonnenland zu sein. Aber es wird nicht angenehm.“
Nejakais wollte aufspringen. Obwohl sie an Händen und Füßen gefesselt war, wollte sie eine Flucht versuchen. Iljan war innerhalb eines Wimpernschlags bei ihr und hielt sie fest. Wieder grub er die Zähne in ihren Hals und jagte Gift durch ihre Venen. Nicht viel, nur genug, um ihre Gegenwehr erschlaffen zu lassen. Nejakai war noch bei Bewusstsein. Während seine Freunde sich immer weiter entfernten – glücklicherweise, Iljan wollte nicht, dass sie ihm zusehen mussten – zog er Carys Messer hervor und zog es über sein Handgelenk. Dunkles Blut quoll aus dem Schnitt.
Iljan trat hinter Nejakai, zog ihren Kopf in den Nacken und hielt das verletzte Handgelenk über ihren Mund. Sie besaß nicht mehr genug Muskelspannung, um ihn daran zu hindern. Nur ihre Augen glitten hin und her und starrten ihn dann voller Hass an.
„Und ging es genauso, weiß du?“, erzählte Iljan leise. Seine Haut kribbelte. Er fühlte Macht … Hoffentlich war das hier kein Fehler. „Wir wollten niemals dunkle Wesen sein. Die Welt ließ uns keine Wahl. Dabei sind wir nicht böse. Wir sind nur auf der falschen Seite des Lichts geboren worden.“
Nejakai brachte irgendwie die Macht auf, sich zu schütteln. Iljan packte sie fester. Dann flatterten ihre Augen und verdrehten sich. Sie wurde schlaff, kalt und regungslos.
Iljan zog die Hand zurück und verschloss den Schnitt mit seinem Speichel. Als er Nejakai ins Gras gleiten ließ, erhob sich mit einem Mal Nebel ringsum.
Verwirrt sah Iljan sich um. Dicht und weiß hüllte die Wolke ihn ein. Dann … sah er einen langen Schatten, der auf ihn zu trat.
„Iljan?“
Er fuhr zusammen. Eiseskälte überrollte ihn.
„Vater!“
Nepumuk sah auf seinen Sohn herab. „Was … was hast du getan? Iljan …?“ Er klang verwirrt. Schon wurde seine Stimme leiser und ein Windzug vertrieb den Nebel.
„Iljan!“, brüllte Nepumuk, dann war er fort, ebenso spukgleich, wie er gekommen war.
Iljan schauderte. Es war nur eine Illusion gewesen. Oder etwas ähnliches. Scheinbar hatte sein Vater es auch wahrgenommen.
Iljan nahm Nejakai die Fesseln ab und steckte die Plastiktüte ein. Er verwandelte sich in eine Fledermaus und hob ab. Nejakai war bewusstlos. Bald würde sie in Krämpfe verfallen, wenn ihr Blut den Kampf gegen das Vampirgift aufnahm. Ob sie ihn bestehen würde oder nicht, lag ganz bei ihr und ihrer Willenskraft.
Er schlug schnell mit den Flügeln, um den großen Drachen einzuholen, und versuchte, das Gefühl abzuschütteln, dass er einen großen Fehler begangen hatte.