https://www.deviantart.com/ifritnox/art/804128433
Die Bewaffneten nahmen die Kinder der Sonne schweigend in ihre Mitte. Sie marschierten in geschlossener Formation durch das hohe Tor, in dessen Bogen selbst Abarax klein wirkte.
Dahinter schloss sich eine Halle an, die vielleicht doch ein sehr großer Flur war. An ihrem Ende ragten neue Tore in die Höhe, zu beiden Seiten erstreckten sich Galerien auf drei Ebenen, von denen Bogenschützen heruntersahen, die gespannten Waffen auf die Eintretenden gerichtet. Die Wände bestanden aus dunklem, getäfelten Holz. Türen waren keine zu sehen, weder zum Flur noch zu den Galerien, weshalb Iljan vermutete, dass diese geschlossen nicht zu sehen waren.
Jeder ihrer Schritte wurde wachsam verfolgt. Die vielen Stahlspitzen von Pfeilen und Speeren würden sie zerfetzen, wenn sie auch nur so viel wie einen falschen Atemzug wagen würden.
„Das ist Wahnsinn!“, flüsterte Jackie.
„Geht einfach weiter und macht keine plötzlichen Bewegungen“, riet Merkanto ebenso leise.
Iljan ging an der Spitze der Gruppe. Er wandte den Kopf halb. „Noch haben sie uns nicht getötet. Sie werden uns anhören.“
Die Wachen bestanden aus den unterschiedlichsten Wesen, von winzigen Pixies bis zu Zentauren und Sonnenlanddrachen. Ihre Blicke waren ausnahmslos finster.
„Die Sonnengarde steht unter Eid“, erklärte Cary, während sie sich an Iljans Seite gesellte. „Sie dürfen niemanden verletzen, der um eine Anhörung bittet. Jeder muss vorgelassen werden.“
„Und das sagst du erst jetzt?“, fragte Iljan überrascht.
„Theoretisch können sie uns, sobald wir im Thronsaal stehen, durchsieben“, gab Cary ruhig zurück.
Iljan schluckte. Das war nicht so ermutigend, wie er sich erhofft hatte.
Mit dröhnendem Knirschen wurden die großen Flügeltüren vor ihnen geöffnet. Scheinbar von Geisterhand glitten sie nach hinten, doch im Thronsaal mussten Wachen sein, die sie öffneten.
Grelles Licht blendete sie. Der Thronsaal glich einer gewaltigen Kathedrale, wenn man davon absah, dass der Raum eher rund als langgezogen war. Ein Mosaik einer riesigen Sonne bedeckte den Boden, acht Strahlen gingen davon aus und führten in acht spitzzulaufende Flügel des Raumes. Gegenüber der Eingangstür befand sich der Thron, unter einem runden Fenster, durch das die Sonne schien. Ihre Strahlen trafen auf das Mosaik und brachten es zum Glühen, das Licht floss die Strahlen entlang und über Kanäle aus goldenem Glas die Säulen hinauf zur Decke, wo es sich mit dem Schein unzähliger Kerzen an riesigen Kronleuchtern vermischte. Wachs, das von der Decke tropfte wie heller Regen, schmolz auf dem Boden und stieg als Dunst wieder auf.
Doch seltsamerweise fühlte sich der Boden unter Iljans Füßen nicht heiß an, nicht einmal warm. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, das Klackern von Abarax‘ Krallen und das Klopfen der Hufe von Stella und Dayr.
Der Thron selbst war verborgen hinter einem Vorhang der hellen Sonnenstrahlen, doch sie konnten die langen, goldenen Gewänder der Königin sehen, die sich wie eine Flut über den Boden ergossen.
Selbst die Sonne im Inneren des Mosaiks war schon gewaltig. Die Gruppe folgte den endlos langen Strahlen, bis ihre Wachen schließlich „Halt!“ befahlen.
Sie standen noch ein ganzes Stück vom Thron entfernt. Zu weit weg für einen Speerwurf, einen Bodenschuss oder sogar einen magischen Angriff. Auch die Halle war natürlich voller Wachen, die sich auf Balkonen in der Höhe und am Boden rings um die Gruppe befanden. Die Sonnengarde umfasste sicherlich zweihundert Soldaten. Iljan ließ den Blick über die Bewaffneten gleiten. Es waren so viele! Er konnte ihre Anspannung riechen, Angst und Wut in einer gefährlichen Mischung.
Er sah zur Königin und wartete darauf, dass sie das Wort ergriff. Doch die Stimme, die sich erhob, kam von der Seite.
„Das ist also die Gruppe dunkler Spione, die unser Land unsicher macht.“
Merkanto sah zur Seite, wie auch alle anderen der Gruppe. Nur die Soldaten blieben regungslos stehen. Wie Statuen.
Eine hochgewachsene Frau mit langen, goldbraunen Haaren, die ihr in Locken bis zum Hintern fielen, trat hinter einer leuchtenden Säule hervor. Sie trug ein schlichtes, weißes Gewand, dessen einziger Schmuck ein schmaler, goldener Gürtel um ihre Hüften war.
„Wer seid Ihr?“, fragte Merkanto. Denn das Gesicht der Frau kam ihm wage bekannt vor. Es war kantig, mit leicht schrägen Augen und Augenbrauen wie zwei Berge, mit Spitzen in der Mitte. Ihr Blick war hochmütig und kalt.
„Mein Name ist Arinaka Dojeshi. Doch für euch bin ich -“
„Die zweithöchste Magierin!“, rief Merkanto aus. „Die Herrin der Quellen!“
„Die höchste Magierin“, verbesserte Dojeshi pikiert. „Und heute stehe ich als Sprachrohr unserer wunderbaren Herrscherin Havinairies Adiaramat vor euch!“
Die Blicken glitten zur Königin des Sonnenlandes. Dann würde sie heute nicht sprechen?
Arinaka Dojeshi kam mit ruhigen Schritten auf sie zu. „Die Liste eurer Vergehen, dunkle Wesen, ist lang. Ihr habt die Grenze unerlaubt überquert, Angst und Schrecken verbreitet, ihr habt Bewohner unseres Landes getötet, Handelswaren gestohlen, Schiffe gekapert, und zuletzt habt ihr eine ganze Armee der Sonnenstrahlen besiegt.“ Sie schnaubte. „Wenigstens dafür gebührt euch Bewunderung, ebenso für die Leistung, es bis hierhin zu schaffen, obwohl ihr euer Ziel von Anfang an jedem, der nicht schnell genug davonrannte, verraten habt.“
Sie kam langsam näher.
„Herrin“, sagte Iljan leise. „Was wir auch getan haben, wir haben immer versucht, Verletzte und Tote zu vermeiden.“
„Lügen!“, fuhr Dojeshi auf. Merkanto spürte, wie ihm das Herz in die Magengrube sackte. Die Magierin gehörte zu jenen, die nicht zuhören würden.
Es war aus!
„Herrin!“, sagte Iljan wieder. „Wir hatten so oft keine Wahl. Wir handelten aus Notwehr, um unser Leben zu schützen. Ich bin bereit, für alle Taten meiner Begleiter zu zahlen, nur bitte, hört uns an! Wir kamen her, um um Frieden zu bitten.“
„Frieden!“ Dojeshi schnaubte bitter. „Erzählt das den Händlern, die ihr gnadenlos abgeschlachtet habt. Den Kindern der Zwerge, die in der Höhle verbrannten. Erzählt das den einfachen Soldaten, die in Antordia auf einsamen Inseln ausgesetzt wurden. Erzählt es den Toten der Schlacht vor den Bergen. Erzählt es ihren Familien! Sie sollen mit euch im Frieden leben? Seite an Seite mit euch?“
Die Kinder der Sonne schwiegen bedrückt.
Die Magierin schüttelte den Kopf. „Was ihr getan habt, kann nicht entschuldigt werden. Ich weiß jedoch, dass ihr von einer unmöglichen Hoffnung verblendet wart, von dem Glauben, dass euch auch etwas Gutes innewohnt. Dies wurde bei der Entscheidung über eure Strafe berücksichtigt.
„Strafe?“, fragte Iljan. Es war fast ein Hauchen.
Auch Jackie spürte, wie sich Angst in ihrem Inneren zusammenballte. Diese Dojeshi wusste von allem, was sie getan und erlebt hatten. Wie würde sie urteilen? Große Hoffnungen machte sich die Werwölfin nicht. Dafür lag zu viel Kälte in Dojeshis Blick.
„Die große Sonnenkönigin entschied, euch Gnade zuteilwerden zu lassen“, sprach sie und warf einen Blick zu der Person auf dem Thron, die vom Licht verborgen und stumm blieb. „Euer Tod wird ein schmerzloser sein.“
Stille senkte sich in der großen Halle. Nur das Tropfen von Wachs war zu hören. Jackie fühlte sich leer und kalt.
„Tod?“, fragte Merkanto resigniert.
„Ihr könnt sie nicht hinrichten – sie bitten darum, Bürger dieses Reiches zu sein!“, rief Cary und drängte sich vor. Sie machte zwei Schritte auf Dojeshi zu, ehe die erhobenen Speere der Wachen sie aufhielten. „Ihnen stehen doch sicherlich Anwälte zu“, sagte die Elfe ruhiger, fast schon flehend.
Dojeshi warf ihr einen überraschten Blick zu. „Und wen schlägst du als Anwalt vor, Caryellê Assadar?“
Cary ballte die Fäuste und streckte sich. „Ich werde die Fürsprecherin sein!“
„Ich ebenfalls!“, rief Terziel und Stella schnaubte bestätigend.
Dojeshi lachte mitleidig. „Aber Kinder … ihr drei seid gefallen. Auch ihr werdet morgen früh hingerichtet.“
Iljan konnte den Schock endlich abschütteln. „Bitte! Es war meine Idee. Tötet mich, macht es schmerzhaft, wenn es sein muss. Ihr wisst, dass Vampire lange Zeit leiden können. Aber lasst meine Freunde frei! Ich habe sie dazu überredet, ich bin verantwortlich.“
Jackie ergriff sein Handgelenk. Ihr Blick war traurig, aber hinter der Traue flackerte Wut. Sie hasste ihn für das Opfer, das er erbringen wollte.
„Lass gut sein, Iljan“, sagte sie leise. „Wohin sollen wir denn gehen? Wir können nicht zurück, und hierbleiben können wir auch nicht. Es gibt nichts außer Licht und Schatten. Wir haben keinen Ort, an dem wir leben können.“
Seine Haut kribbelte. Er konnte ihre Wut spüren, also riss er sich los und drängte sich an Cary vorbei nach vorne, bis die Speerspitzen seine Kehle berührten.
„Ich habe sie hypnotisiert!“, rief er Dojeshi zu. Sie hatte sich halb abgewandt, eine Hand erhoben, um den Bogenschützen den Befehl zum Angriff geben zu können, falls er auch nur einen Schritt weiterging.
„Ich habe sie hypnotisiert!“, wiederholte er, die erschrockenen Ausrufe seiner Freunde ignorierend. „Es war nicht ihre Entscheidung. Ich habe sie getäuscht, damit ich ihren Schutz auf dieser Reise habe. Ich nehme den Bann von ihnen, dann kehren sie zurück.“
Arinaka Dojeshi ließ die Hand sinken. „Hypnotisiert?“
„Sie stehen vollkommen unter meiner Kontrolle. Es sind Marionetten. Sieh!“ Iljan hob eine Hand und seine Augen leuchteten blutrot auf. Cary zuckte zusammen, versteifte sich und machte dann plötzlich eine ungelenke Verbeugung. Dampf stieg mit einem Mal von Iljans Haut auf, wo das Sonnenlicht auf sie fiel. Er ließ Cary eine Pirouette drehen, dann schrie er auf und hielt sich die Hände. Cary stolperte, als der Bann sich löste. Terziel fing sie auf.
Schwer atmend kauerte Iljan auf dem Boden, den Blick gesenkt, um sich vor dem Licht zu schützen.
„Sie sind schuldlos“, flüsterte er, doch seine Stimme hallte in dem großen Raum wider, vielfach verstärkt von den spitzen Winkeln der Ecken.
„Beeindruckend“, sagte Dojeshi, doch sie klang nicht beeindruckt. „Dann hast du dir im Schattenreich Marionetten zusammengesammelt und sie bis in den Thronsaal gebracht? Durch das halbe Sonnenland, durch unzählige Kriege und Tage?“
„Ganz genau!“, presste Iljan hervor.
„Und du hast drei Weiße Wächter, die gegen solche Angriffe geschult wurden, ebenfalls unter deine Kontrolle gebracht?“
„Es dauerte etwas, doch den Samen konnte ich in ihren Geist säen, als sie nach der Schlacht an der Grenze bewusstlos waren.“
„Und damit willst du all ihre Vergehen entschuldigen?“ Dojeshi trat näher.
Iljan hob den Blick. Seine Wangen dampften und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. „Ja.“
Dojeshi lachte trocken. „Du bist sehr tapfer, Iljan Raphaele Anarcén Deacon Taidoni.“
Er zuckte zusammen.
„Aber deine Macht ist begrenzt, Vampir. Und niemals hättest du die höchste Magierin des Hofes manipulieren können.“
Iljan sah sie verwirrt an. „Manipulieren? Euch?“
Dojeshi seufzte. „Nein, ich spreche nicht von mir. Wie dein Zauberer richtig anmerkte, gab es eine Magierin im Stande über mir, ehe sie ging. Merkanto, Ihr habt offenbar veraltete Quellen. Doch macht euch nichts daraus, das gehört zu unserer Politik. Wir wollen nicht, dass unsere Feinde alles über uns wissen.“
Eine kalte Faust ballte sich in ihren Eingeweiden zusammen. Sie konnte kaum atmen. Ihr Hals fühlte sich zugeschnürt und trocken an.
„Allein die Tatsache, dass sie uns verließ, um ins Schattenreich zu gehen“, fuhr Dojeshi fort, „rechtfertigt ihre Todesstrafe. Und die eure, da ihr mit ihr befreundet seid und euch auf ihre Seite stellt. Doch noch schlimmer ist ihr zweiter Verrat. Denn sie ermöglichte einer Armee von Schattenwesen, unsere Grenzen anzugreifen. Sie gab ihnen die Informationen, die sie brauchten, um unsere Stellungen empfindlich zu treffen und diesen Jahrtausende andauernden Krieg zum ersten Mal zu kippen – zu Gunsten der Nacht! Das alles hat eure Gruppe ihr ermöglicht, und aus diesem Grund wird kein einziger von euch den morgigen Abend erleben.“
Die Kinder der Sonne tauschten verwirrte Blicke.
„Wovon spricht sie?“, fragte Abarax.
„Es herrscht Krieg?“, fragte Terziel entsetzt.
„Wir haben keine Armee mit Informationen versorgt!“, rief Merkanto. „Wir haben überhaupt keinen Kontakt zu anderen Wesen gehabt!“
Dojeshi riss die Augen auf. „Dann wisst ihr nichts davon? Du hast ihnen nichts gesagt … Gudrun?“
Die Kinder der Sonne drehten sich zu ihr um. Mit verständnislosen Gesichtern wichen sie zurück, als hätte Gudrun eine ansteckende Krankheit. Iljan funkelte sie hasserfüllt an und flüsterte: „Also doch.“
Stellas Blick brach ihr das Herz. Das Einhorn sah sie traurig an und wandte den Kopf ab. Ihr Fell färbte sich grau, die Mähne hing wie Spinnweben herunter, ohne die geringste Leuchtkraft. Dunkler und dunkler wurde Stellas Gestalt, die Veränderung kam langsam, ganz anders als ihre Verwandlungsformen. Das Einhorn schloss die Augen, eine einzige, silberne Träne rollte hervor.
Dann fiel ihr Horn mit einem Klirren wie von Glas auf den Boden.
„Stella!“, hauchte Gudrun entsetzt.
Doch das Einhorn blieb stehen, reglos. Zu Stein erstarrt.
„Was hast du getan?“, fragte Cary, deren Blick zwischen dem Pferd – denn mehr war Stella nicht mehr – und der Hexe hin und her glitt.
„Du warst eine Hexe im Sonnenland?“, stammelte Merkanto. „Aber … das ist unmöglich! Die höchste Hexe war -“
„Elysa Myrrdha, die größte Hexe neben unserer geliebten Königin“, führte Arinaka Dojeshi den Satz zu Ende. „Doch als sie floh, nannte sie sich Gudrun Blackwood. Jetzt bist du zurückgekehrt? Wieso? Weißt du nicht, dass das deinen Tod bedeutet?“
Gudrun sah auf den Boden. Sie spürte die Blicke auf sich ruhen. Entgeisterte, geschockte, wütende und enttäuschte Blicke.
„Ich hatte … einen Auftrag“, flüsterte sie leise. „Von jenem einen, den ich liebe.“
„Sie gehört nicht zu uns!“, rief Iljan laut. „Ihr könnt sie haben, sie und all ihre“, er spuckte vor Gudrun auf den Boden, „Lügen! Verdammt, Gudrun, ich dachte, ich könnte dir endlich vertrauen! Zum ersten Mal!“
„Vergiss es, Vampir“, sagte Dojeshi scharf. „Deine Gruppe trug den Krieg in unser Land. Dafür müsst ihr zahlen.“