https://www.deviantart.com/ifritnox/art/804128879
Iljan hob den Kopf, als etwas klackte und sich die Tür dann mit leisem Knirschen öffnete.
Die Angst, die ihn gleich darauf überrollte, hatte er nicht erwartet. Von einem Moment auf den anderen war ihm übel. Er umklammerte das Eisen der Ketten hinter dem Rücken mit beiden Händen.
Die Hinrichtung … das Ende ihrer Reise …
Er fühlte sich wie damals auf der Silbermöwe, als der Sturm sie gebeutelt hatte.
Die Gesichter seiner Freunde blitzten vor ihm auf. Er würde ihnen in die Augen sehen müssen, während sie starben. Und er konnte nichts tun.
Ein Dutzend Wachen befand sich auf der anderen Seite der Tür. Vier kamen herein und ersetzten die Bodenfesseln durch normale Ketten um Arme und Beine, mit denen Iljan kleine Schritte machen konnte. Jemand schob ihm mit einer geschickten Bewegung ein Stück Holz zwischen die Zähne, von dem an beiden Seiten Schnüre abgingen, die in seinem Nacken zusammengeknotet wurden. Dann packten zwei Männer ihn an den Armen und zogen ihn mit sich. Die Restlichen gruppierten sich um sie herum. Pfeilspitzen wurden auf Iljan gerichtet. Als ob er fliehen könnte!
Er hielt den Kopf gesenkt, während sie ihn durch schmale, helle Gänge führten. Zurück zu der verborgenen Tür, die sie auf den Flur vor dem Thronsaal bringen würde.
Weitere Wege kreuzten den ihren. Plötzlich blieb der vorderste Wächter stehen und hob eine Faust.
„Sollten die anderen nicht schon hier sein?“, fragte sie – es war eine Elfe. Ihre Stimme klang der von Cary nicht unähnlich, doch das war wohl nur Iljans Sehnsucht.
„Sie verspäten sich“, erkannte auch einer der anderen Wachen. Unruhe kam auf. Iljan hob den Kopf. Wäre es möglich, dass seine Freunde entkommen waren?
„Ihr zwei, geht nachsehen.“ Die Anführerin deutete auf zwei Wachen, die mit gezückten Speeren in einen der Gänge liefen, wachsam und angespannt.
Der Griff um seinen linken Arm verstärkte sich. Iljan funkelte den Mann an, der ihn gepackt hielt – und stutzte.
Das Gesicht, größtenteils von dem goldenen Helm bedeckt, war ihm vertraut. Merkanto runzelte warnend die Stirn.
Iljan hätte beinahe gelacht. Das war doch verrückt! Wo kam der alte Zauberer her?
Dumpfes Ächzen und Klirren kam aus dem Gang, in den die beiden Wachen eingebogen waren. Die anderen packten ihre Waffen fester.
„Etwas stimmt hier nicht“, sagte die Elfe. Sie klang nicht nur wie Cary – es war Cary! Iljans Herz schlug Purzelbäume. Seine Freunde waren bei ihm!
„Los!“, befahl Cary und die Wachen, bis auf die beiden, die Iljan hielten, folgten ihr in den Gang. Sie waren keine fünf Meter gelaufen, als sich fünf von ihnen plötzlich umdrehten. Es schepperte, als Metall auf die Helme traf. Die echten Wachen waren nur zu dritt. Ehe sie reagieren konnten, lagen sie am Boden. Die Verkleideten machten sich daran, die Liegenden zu fesseln.
„Beim Licht der Sonne!“, hauchte der andere Wächter, der Iljans Arm festhielt. Er wollte den Vampir zurückzerren, doch Merkanto schlug ihm mit einer schnellen Bewegung auf den Hinterkopf. Der junge Satyr verdrehte die Augen und kippte zu Boden.
„Meine Güte!“, hauchte Iljan.
Merkanto zückte einen Schlüssel und befreite ihn von den Fesseln. Cary und die anderen kamen zurück, gemeinsam mit Abarax und Dayr, die hinter der Ecke gewartet hatten.
Iljan starrte sie ungläubig an. „Ihr seid frei?“
Bevor jemand antworten konnte, drängte sich Cary durch die Menge, flog auf ihn zu und küsste ihn. Iljan erwiderte den Kuss überrascht. Dann hielt er die zarte Elfe in seinen Armen und genoss ihren Duft, ihre Wärme.
Er hörte ihren Puls durch die dünne Haut am Hals. Cary merkte, wie er sich versteifte und ließ es zu, dass er sie sanft von sich schob. Sie lächelte trotzdem überglücklich.
„Ich dachte schon, ich würde euch verlieren“, gestand Iljan.
„Wir sind wie Unkraut. Wir vergehen nicht“, meinte eine Stimme aus der Menge der falschen Wachen.
Iljans Lächeln gefror. „Gudrun. Was machst du hier?“
„Nachdem Dayr mich befreit hatte, habe ich euch überall gesucht“, erklärte Cary. „Gudrun war die erste, die ich fand. Und alleine hätte ich die ganzen Wachen nicht besiegen können.“
Iljan starrte die Hexe hasserfüllt an.
„Bitte. Lass es mich wieder gut machen“, flehte Gudrun. „Und wenn nicht um meinetwillen, dann für Stella. Ich muss sehen, ob ich sie noch retten kann.“
„Stella ist tot“, sagte Cary kalt. „Du hast es doch gesehen. Sie hat ihre Magie verloren und ist zu Stein geworden.“
Gudrun senkte den Blick, dann sah sie wieder Iljan an. „Bitte.“
Er dachte an das kraftspendende Blut, das durch die Adern der Hexe floss. Sein Hals brannte vor Durst.
Dann seufzte er. Was würde ein Sonnenländer an seiner Stelle tun? Ein grimmiges Lächeln umspielte Iljans Lippen, als er an die Zentauren, die Hobbits, an Nejakai und die Dryaden von Crisayn dachte.
„Iljan …?“, fragte Gudrun zögerlich.
„Dann komm mit“, entschied er widerstrebend. „Aber mach den kleinsten Fehler, und du wirst jeden Atemzug bereuen, den du in diesem Leben getan hast.“
Alle Augen ruhten auf dem Vampir.
„Du willst es noch einmal im Thronsaal versuchen?“, erriet Cary aus seiner Entscheidung.
„Wie Jackie schon sagte – wir können nirgendwo anders hin“, sagte Iljan. „Ihr habt doch keine der Wachen getötet, oder?“
„Nein, das nicht. Sie sind nur bewusstlos oder gefesselt“, sagte Cary.
„Oder beides“, warf Najaxis ein. „Meistens beides.“
Gudrun kicherte nervös.
„Du willst in den Thronsaal? Wo wir gerade die Chance zur Flucht haben?“, fragte Merkanto. „Noch könnten wir Vorsprung gewinnen. Und bleibt aber nicht viel Zeit, ehe die Wachen zu sich kommen oder die anderen Wachen merken, dass etwas nicht stimmt.“
Iljan senkte den Blick. „Ich muss es versuchen. Wenn ihr wollt, dann flieht. Ich zwinge niemanden, mit mir zu kommen. Aber ich will unsere Geschichte erzählen. Wenn wir jetzt fliehen, dann gestehen wir unsere Schuld ein. Ich weiß, dass es hoffnungslos ist. Mir wäre es am liebsten, wenn ich euch in Sicherheit wüsste. Dann spiele ich gerne eure Ablenkung.“
Cary trat vor und nahm Iljans Hand. „Ich sagte, dass ich deinen Traum unterstütze, und ich tue es immer noch.“
„Wenn wir schon sterben, dann gemeinsam“, fügte Jackie hinzu. Sie hatte in der Zwischenzeit Wappenrock und Helm des jungen Satyrs an sich genommen und reichte Iljan beides.
Er lehnte ab. „Nein. Die Verkleidung bräuchten wir nur für die Flucht. Wir wollen offen und ehrlich vor die Sonnenkönigin treten.“
Seine Freunde nickten. Cary zog wie alle anderen die gestohlene Rüstung der Sonnengarde aus. Nur Jackie behielt einen Wappenrock, denn ihre Kleidung hatte man ihr genommen.
Iljan sah sie an und seine Kiefer spannten sich. „Auf in unseren letzten Kampf, Kinder der Sonne. Egal was geschieht. Ich will, dass ihr folgendes wisst: Ich bin stolz auf uns. Ich bin glücklich, dass wir diese Reise gemeinsam gemacht haben. Jeder Schmerz, den sie euch zufügen, wird wie mein eigener Schmerz sein. Aber hier geht es um mehr als nur um uns. Es geht um die Wahrheit von Licht und Schatten, darum, dass auch Wesen wie wir eine Chance haben.“
Iljans Augen funkelten. Mit einem schmerzhaften Stich musste Cary erkennen, dass sie ihn schon lange nicht mehr so gesehen hatte. Vor ihnen stand der Iljan, der damals die Grenze überquert hatte, naiv und im festen Glauben daran, dass Vernunft und gute Taten ausreichen würden. Während der Reise war dieser Iljan verschwunden und einem zynischen Vampir ohne Hoffnung gewichen. Und jetzt, ganz unvermittelt, erinnerte er sie alle daran, warum sie hier waren: Weil sie von ganzem Herzen an seinen wundervollen Traum geglaubt hatten. Jenen Traum, den sie endlich wieder in seinem Gesicht sehen konnten.
„Gehen wir“, sagte Iljan. „Und niemand wird verletzt. Sie können uns töten, aber wir werden die Hand nicht gegen sie erheben.“
Schweigend gingen sie los. Der Ernst der Stunde schnürte ihnen die Kehlen zu. Es war, als hörten sie eine ferne Marschmusik, Trommeln vermischt mit den Klängen von klagenden Arien, mal triumphierend, mal voller Sehnsucht und Angst.
Die Gänge im Inneren des Palastes waren verwirrend, doch gemeinsam fanden sie den Rückweg, weil sich jeder an diese oder jene Abzweigung erinnerte. Schließlich standen sie vor dem hohen Portal, das in die Eingangshalle führen würde. Abarax trat vor und drückte die Schulter gegen die Tür, bis diese fast lautlos aufschwang.
Die Halle mit ihren drei Galerien und den beiden Flügeltüren am Anfang und am Ende erwartete sie. Der Drache sah sich um.
Unzählige Wachen sahen von den Balkonen herab, Bögen gespannt und lautlos. Einen Moment starrten der Nachtmahr-Drache und die Sonnengarde einander an.
„Feuer!“, befahl eine Stimme. Arinaka Dojeshi. „Tötet sie!“
„Abarax!“, rief Terziel.
Fauchend zog der Drache den Kopf zurück, als Pfeile auf den Boden regnete. Mehrere Spitzen prallten von seinen Schuppen ab.
Merkanto riss die Arme hoch. Ein Schild aus Blitzen ließ die nächsten Geschosse abprallen.
„Los!“, rief Iljan.
Sie rannten in die Halle, umknistert von Elektrizität. Dayr sprang leichtfüßig voraus und wurde von den Fußtruppen empfangen. Fünfzig Wachen standen vor den Toren zum Thronsaal, noch ein paar mehr standen vor der Tür, die nach draußen führen würde. Jetzt zogen sie Schwerter, Speere, Äxte, Hellebarden und weiteres und stürmten auf die entflohenen Gefangenen zu.
Dayr senkte das Geweih und wehrte die ersten Hiebwaffen ab. Er wich zurück.
Abarax baute sich hinter dem Hirsch auf und brüllte. Einige der jüngeren Wächter zögerten angesichts des grauen Drachen.
„Lasst sie nicht durchkommen!“, brüllte Dojeshi irgendwo im Gedränge. „Sie dürfen nicht zur Königin!“
„Lauft!“, befahl Merkanto. Im selben Moment löste sich der Blitzschirm auf, stattdessen legte sich über jeden von ihnen ein Teil dieses Schutzes wie eine Decke. Der alte Zauberer sank auf ein Knie, Blut lief aus seiner Nase. Dieser Trick kostete ihn viel Kraft, doch er ermöglichte es den Kindern der Sonne, direkt in die Reihen ihrer Feinde einzutauchen.
Stahl prallte von den magischen Schilden ab. Die Bogenschützen stellten das Feuer ein, um keinen der Ihren zu verletzen.
„Magier!“, grollte Abarax. „Ich habe starke Schuppen.“
Merkanto seufzte erleichtert und der Drache fühlte, wie die Blitze um seinen Körper schwanden.
Unzählige Schläge prasselten auf seinen Panzer. Schritt für Schritt arbeitete er sich voran. Winzige Stiche von Schmerzen durchzuckten ihn. An den Krallen, am Bauch, an der Leiste. Er knurrte und widerstand dem Drang, die Angreifer mit der Pranke fortzuwischen. Wie durch eine Flut watend ging er Schritt für Schritt vorwärts, bis er mit dem Kopf gegen die Türen zum Thronsaal stieß.
Er drückte.
„Nein!“, schrie Dojeshi. „Haltet ihn auf! Tötet den Drachen! Tötet ihn!“
Stück für Stück öffneten sich die Flügeltüren. Iljan stand neben Abarax‘ Vorderbeinen und fing Schwerter und Speere ab, obwohl die Klingen trotz Merkantos Schutzzauber in seine Hände schnitten. Auch die anderen hatten sich vor der Tür gesammelt, um das Holz im Rücken zu haben. Cary wand soeben einer Wache das Schwert aus den Händen und warf es fort.
„Nein!“, kreischte Gudrun auf den Knien. „Bitte!“
Ihr Angreifer ließ einen Hammer niedersausen. Er traf die Hexe am Kopf, federte aber von dem Schutzschild zurück.
Doch ihre Schilde flackerten. Merkanto war zurückgeblieben, inzwischen von Feinden umkreist, und seine Macht schwand.
„Los, Abarax!“, murmelte Iljan gepresst. „Gib nicht auf.“
Der Drache hörte ihn. Mit tiefem Knurren verdoppelte er seine Anstrengungen. Die Muskeln am Hals traten weit hervor.
„Sie dringen ein!“, rief Dojeshi. Ihr Ruf war wie Glockengeläut für Iljan.
Er drängte sich durch die Reihen seiner zusammengedrängten Freunde und stemmte sich selbst gegen die Tür. Nur noch ein winziges bisschen, und der Spalt wäre breit genug, um hindurch zu schlüpfen.
Er sah einen dicken Riegel auf Kopfhöhe, der die Tür versperrte. Iljan sah sich kurz um.
„Jackie! Cary!“
Statt den beiden erschien Gudrun. „Kann ich helfen?“
Abzulehnen war verlockend. Doch Iljan nickte. „Ich muss nach oben, um den Riegel zu zerschlagen.“
Gudrun sah sich um, verstand und stemmte den Rücken gegen die Tür. Sie machte eine Räuberleiter für ihn. Iljan trat auf ihre ineinandergelegten Hände und stieß sich in die Höhe. Gudrun riss zusätzlich die Arme hoch.
Einen Moment schwebte er förmlich, glitt schwerelos vor die Tür. Er hob eine Hand, die Finger zu Krallen gekrümmt, und sammelte seine Willenskraft. Dann schlug er nach unten, während er fiel.
Holz splitterte. Die Kämpfenden an der Tür stolperten nach vorne. Iljan stieg mit dem Schienbein gegen Gudruns Schulter und rollte in den Thronsaal hinein.
„Beschützt die Königin!“, rief Arinaka Dojeshi.
Eine Reihe von Bogenschützen stand vor den Stufen, die zum Thron hinaufführten. Sie zielten und ihre Pfeile schossen auf die Kinder der Sonne zu, wie in Zeitlupe.
Iljan sah, wie Merkantos Schutzzauber in genau diesem Moment flackerte und verschwand. Mit einem Knurren stieß sich der Vampir in die Höhe. Die Pfeile, die über ihn hinweggeflogen wären, schlugen in seine Brust ein.
Er schrie und taumelte nach hinten. Hände stützten ihn. Cary rief seinen Namen.
Die Schmerzen waren überwältigend. Ihm war kaum genug Blut geblieben, um sich am Leben zu erhalten, geschweige denn, solche Verletzungen zu heilen.
Er stieß sich nach vorne und schüttelte den Kopf. Irgendwie fühlte er sich benommen. Warum war es so still?
Der Kampf hatte gestoppt. Alle starrten ihn an, wie er Schritt für Schritt nach vorne wankte.
Jetzt. Jetzt war der Moment. Die Waffen ruhten, alle sahen ihn an. Hörten ihm zu.
Wenn er nur Worte hätte. Sie sahen doch nur ein Monster, rotglühende Augen, schwarzes Blut auf der Kleidung, eine Kreatur der Finsternis, die sich der Königin ihres Reiches näherte.
Der Moment entglitt ihm. Gleich würden die Bogenschützen erneut feuern. Tränen stiegen in Iljans Augen. Nach dieser ganzen Reise war er so hilflos!
Der erste Schütze hatte sich aus seiner Starre erholt und hob den Bogen. Er richtete den Pfeil jedoch nicht auf Iljan. Den Vampir sah er nicht länger als Gefahr an. Seine Pfeilspitze drohte … Terziel!
Iljan sprang zur Seite, als der Pfeil flog. Diesmal traf das Geschoss seine Schulter. Er knurrte vor Schmerzen. Ein Geräusch, das in der Stille des Saales widerhallte.
Seine Beine versagten den Dienst. Erschöpft hob er den Blick. Er hatte nicht einmal die Sonne in der Mitte des Mosaiks erreicht.
„Havinairies Adiaramat“, sprach er. Seine Knie gaben nach und während er auf den Boden sank, hob er die Hände. Seine Schultern und Brustmuskeln brannten. „Bitte …“
Wie ein Wesen spannten die Schützen erneut ihre Bögen. Die Pfeile glitzerten kalt im Licht.
„Halt!“, befahl eine Stimme, die Iljan nicht kannte.
Sie erklang hinter ihm.