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Alle Blicke richteten sich auf das große Eingangsportal. Irgendwann hatte es sich geöffnet, unbemerkt von allen anderen. Dort stand nun eine schlanke Gestalt, grüne Haut, in einem dünnen, luftigen Gewand aus Seide. Ihre Haare glichen Lilienblättern und sie war barfuß. Eine Dryade.
Als sie sich der Aufmerksamkeit aller sicher war, schritt sie durch die Halle, vorbei an der Sonnengarde, die wir erstarrt war, und an Merkanto, den drei Wachen festhielten.
Er sah der Gestalt nach, wie sie leichtfüßig in den Thronsaal lief. Dort erhob die Dryade erneut die Stimme.
„Ich hörte, dass eine Gruppe, die sich die ‚Kinder der Sonne‘ nennt, heute hingerichtet werden soll. Von einem Gemetzel haben die Boten nicht gesprochen.“
Sie ließ den Blick über die verstreuten Waffen gleiten, über die verletzten Kinder der Sonne und den mit Pfeilen gespickten Iljan. Jetzt, da die Sonnengarde aus dem Weg gegangen war und auch Merkanto den Vampir sehen konnte, zog sich sein Herz zusammen. Einen Herzschlag lang sah er den jungen, überglücklich lächelnden Vampir vor sich, den er damals kennengelernt hatte, kaum ein Dreikäsehoch und schon damals ein Träumer sondergleichen.
Er regte sich und wollte die Wachen abschütteln, um zu Iljan zu laufen. Sie hielten ihn eisern fest.
„Ein Gemetzel wie dieses war auch nicht geplant.“ Arinaka Dojeshi trat aus dem Licht neben dem Thron hervor. „Doch sie wollten fliehen und griffen uns an.“
„Das stimmt nicht!“, schrie Jackie wütend. „Wir waren unbewaffnet! Wir haben überhaupt nichts getan!“
Merkanto schloss die Augen und seufzte. „Still, Kind.“
Jackie verstummte nicht. „Das sind alles Lügen! Von Anfang an!“
Ihre hysterischen Anschuldigungen halfen ihr wie erwartet nicht. Jemand schlug sie, den Geräuschen nach zu urteilen, und brachte sie zum Verstummen.
„Wenn du nicht still bist, Jackie Chast, muss ich dieses Spektakel hier beenden!“, drohte Dojeshi und trat vor.
In diesem Moment regte sich etwas auf dem Thron, durch das goldene Licht nur als Schatten zu sehen, und eine Stimme, warm wie Honig erklang. „Arinaka … lass die Dryade sprechen.“
Die Magierin sah erstaunt zum Thron, dann kniete sie davor nieder. „Natürlich, Herrin.“ Sie erhob sich und gab ihren Wachen einen Wink, worauf diese Jackie vermutlich losließen. Merkanto konnte nichts von dem Geschehen an der Pforte sehen, nur den Thronsaal.
„Wer seid Ihr?“, fragte Dojeshi nun die Dryade.
Die Fremde richtete sich auf. „Ich bin Keydra Saphista, Abgesandte der Königin von Crisayn.“
Gemurmel erhob sich in den Reihen.
„Crisayn?“, wiederholte Dojeshi. „Ich weiß, dass euer Reich kürzlich wiederentdeckt wurde, im Zuge der Vernichtung, die diese Gruppe hervorrief. Doch was treibt euch den weiten Weg hierher?“
Keydra ignorierte die Magierin und trat vor Iljan, der auf den Knien schwankte. Vor dem Vampir blieb sie stehen.
„Ich spreche im Namen der Königin des Waldes“, verkündete sie laut genug, dass alle sie hören konnten. „Und die Königin des Waldes möchte sich bei den Kindern der Sonne bedanken.“
Erschreckte Aufrufe ertönten. Die Wachen, die Merkanto hielten, ließen ihn fast fallen.
Ungläubig sah Abarax auf die Szene im Thronsaal. Die Worte der Dryade hätte er nicht weniger erwarten können.
Keydra wandte sich nun dem Thron zu. „Königin Adiaramat! Meine Herrin, die größte Dryade des Waldes, schickte mich, um von dem Verrat ihrer Dienerin Haryna zu berichten. Lange Zeit vergiftete Haryna unsere Königin und ihr Volk, um ihre Vorstellung von Frieden durchzusetzen. Sie nahm uns den Willen und verbarg uns vor der Welt. Der Bann wurde erst gebrochen, als die Kinder der Sonne Feuer legten. Die Stadt brannte ab, ja, sogar unsere herrliche Königin musste aus einem Samen neu geboren werden. Doch im gleichen Zug verdampften auch Harynas giftige Quellen. Auf der Asche des alten Crisayn ist eine neue Stadt gewachsen, fruchtbarer und reiner. Und unsere Königin selbst berichtete, dass die Gruppe, welche heute sterben soll, in der gleichen Gefahr schwebte wie wir alle. Nur die Kinder der Sonne konnten Haryna besiegen und uns dabei die Freiheit schenken. Obwohl sie es sicherlich nicht planten, so war dies der Effekt ihrer Taten.“
Abarax und auch die anderen starrten die Dryade ungläubig an.
„Warum erzählst du das?“, wollte Dojeshi wissen. „Willst du dieser Gruppe etwa helfen? Sie brannten eure Stadt ab und, wie du sagtest, nicht mit der Absicht, euch zu retten.“
Keydra stellte sich zwischen Iljan und den Thron. „Und doch glaubt meine Herrin, dass diese Wesen aus dem Schattenreich Herzen voller Licht besitzen. Seit jeher ist es Tradition, dass es für jeden Verurteilten einen Prozess geben wird. Ich bin hier, um für diese Gruppe zu sprechen, die sich die Kinder der Sonne nennt. Also haltet ein mit dem Blutbad! Hört mich an, und jene, die auf dem Weg hierher sind. Denn die Straßen sind voller Reisender, die zum Schloss eilen.“
Dojeshi schnaubte. „Sonnenländer? Die für Schattenwesen sprechen?“
„Es sind jene, denen von den Kindern geschadet wurde, oder denen die Kinder halfen“, sprach Keydra laut, um sich über dem Lärm der murmelnden Wachen hinweg Gehör zu verschaffen. „Sie sprechen zu lassen ist das Grundprinzip unserer Rechtsprechung! Ihr müsst sie anhören.“
„Ich kenne die Geschichten bereits!“, knurrte Dojeshi. „Und ich sage -“
Sie wurde unterbrochen. Erneut regte sich die Königin des Sonnenlandes und sprach, so leise, dass man sie kaum hörte.
„Aber … Herrin!“, sagte Arinaka Dojeshi.
„Tu, was ich sage!“, rief die Königin.
Dojeshi drehte sich um. „Wachen! Senkt die Waffen.“
Die Sonnengarde starrte die Magierin sprachlos an.
„Senkt die Waffen!“, wiederholte Dojeshi. „Bringt die sogenannten Kinder der Sonne vor den Thron. Verbindet ihre Wunden. Heute werden wir diejenigen anhören, die zum Prozess angereist sind.“
Abarax spürte das Widerstreben der Wachen. Sie traten zögerlich zurück und ließen sie in den Thronsaal eintreten. Der Drache eilte zu Iljan. Cary, Jackie und Najaxis trafen vor ihm ein.
„Mir geht es gut“, wehrte Iljan matt ab. „Ich bin nur müde.“
„Trink!“, befahl Cary, die den Vampir im Arm hielt, und drückte das Handgelenk gegen seine Lippen.
Iljan war zu erschöpft, um Widerstand zu leisten. Während sich seine Freunde bedrückt um ihn versammelten, trank er wie ein Verdurstender.
Jackie zog Pfeil um Pfeil mit einem Ruck heraus. Der Storm schwarzen Blutes versiegte und in Iljans Wangen kehrte helles Weiß zurück, verdrängte das erschlaffende Grau.
Cary befreite ihr Handgelenk mit einer ruhigen Bewegung aus seinem Griff, beugte sich über ihn und küsste seine Stirn. Tränen tropften auf die bleiche Haut. Abarax sah sich verwundert um. Auch Merkanto weinte und Terziel lehnte sich mit einem glücklichen Lächeln gegen die Drachenschulter.
Belustigt schnaubte der Nachtmahr. Dabei war der Kampf noch lange nicht gewonnen. Sie hatten durch irgendein Wunder einen fairen Prozess erhalten, und auch ihre Wunden wurden von einigen der Wachen versorgt.
Aber der Todesstrafe waren sie damit noch lange nicht entkommen. Wer konnte schon vor den Toren stehen? Wenn Abarax zurückdachte, erinnerte er sich an sehr viele wütende Mengen, und an sehr wenige freundliche Wesen. Von letzteren dürften nur wenige das Bedürfnis haben, weit ins Herzen der Sonne zu reisen, um für sie zu sprechen. Wahrscheinlicher war es, dass Horden von Hobbits, Zwergen und anderen auftauchen würden, um laut nach den Köpfen ihrer Gruppe zu verlangen.
Aber ja – sie hatten eine Atempause geschenkt bekommen.
Die Wachen hatten einen dichten Kreis um sie geschlossen. Die Kinder der Sonne konnten ihren Platz auf dem Boden des Thronsaals nicht verlassen. Gleichzeitig kam auch niemand von außen an sie heran. Doch dieser Schutz war nebensächlich. Die Flügeltüren waren geschlossen, Keydra war hinausgebeten worden. Nur die Wachen und die Königin waren anwesend.
Trotzdem konnte Jackie Stimmen jenseits der Tür hören. Dort versammelten sich offenbar diejenigen, die sprechen wollten.
Die Angst saß ihr wie ein Klumpen im Magen.
Eine der Wachen hatte ihnen einen Tiegel mit Salbe gebracht. Diese, dünn aufgetragen, heilte jeden Schnitt und Kratzer auf der Stelle. Jackie wollte sich nicht vorstellen, wie kostbar sie war. Die Kinder der Sonne verarzteten nur die schlimmsten Wunden und gaben den halb geleerten Tiegel scheu zurück.
Schließlich trat Arinaka Dojeshi zu ihnen. Sie lächelte freundlich, doch ihre Augen blieben kalt.
„Ich habe angeordnet, dass man euch etwas zu Essen bringt. Es wird gleich angerichtet.“
Jackies Magen knurrte hörbar und die Magierin sah sie an. Rot anlaufend sah Jackie weg.
„Außerdem weise ich hiermit noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass ihr euch frei an der Salbe bedienen dürft.“ Dojeshi stellte den Tiegel wieder vor ihnen ab. „Habt ihr sonst noch Fragen? Ich werde sie alle beantworten.“
„Ja, ich!“, rief Gudrun und hob die Hand wie ein Kind in der Dorfschule. „Wann genau beginnt die Anhörung? Müssen wir noch lange warten? Kriegen wir vielleicht Betten, es war wirklich eine lange Nacht.“
Dojeshis freundliche Maske geriet kaum ins Wanken. „Die Anhörung wird am Nachmittag beginnen. Wenn ihr die letzten Stunden nutzen wollt, um euch zu erholen, werde ich entsprechendes veranlassen. Doch ihr dürft den Thronsaal nicht verlassen. Es ist untersagt, euch in Ketten zu legen, aber aus den Augen werde ich euch nicht lassen.“
„Schon gut, wir brauchen nichts“, sagte Iljan mit einem finsteren Blick zu Gudrun. „Nur eine Frage noch, wenn ich darf.“
„Natürlich“, sagte Dojeshi steif.
„Ich kenne mich mit dem Rechtssystem des Sonnenlandes nur wenig aus. Erhalten wir alle dieselbe Strafe? Und welche wird das sein?“
„Die Strafe wird im Prozess festgelegt“, antwortete Dojeshi. „Die höchste ist die Strafe des Schmerzvollen Todes. Dann folgt die Todesstrafe, die ihr bekommen hättet. Es gibt verschiedene Stufen von Gefängnisstrafen, über wenige Jahre bis hin zu Jahrhunderten, je nach Lebenserwartung des Betroffenen. Und es gibt auch Strafarbeiten für kleinere Vergehen, oder kompletten Freispruch. Was es am Ende sein wird, kann ich euch nicht sagen. Doch vermutlich werdet ihr nicht mit einigen Stunden Bäumepflanzen davonkommen.“
Iljan nickte. „Und … meine andere Frage?“
„Für gewöhnlich betrachten wir Gruppen wie die eure als ein Ganzes“, sagte Dojeshi. „Doch es steht euch frei, euch von der Gruppe loszusagen, sodass eure Strafe gesondert betrachtet wird. Ebenso könnt ihr entscheiden, ein Mitglied auszuschließen, das besonders viel verbrochen hat.“
Sie alle dachten dasselbe, doch nicht einer sah zu Gudrun. Die Hexe schnaubte trotzdem und meinte trocken: „Juhu.“
„Vielen Dank.“ Iljan lächelte höflich.
In diesem Moment kam das angekündigte Essen. Mehrere Wachen brachten Tische, Stühle und schließlich Teller mit Speisen. Es gab Brot, Käse, Fisch und ein wenig Wurst, Unmengen an Obst, Rohkost und Früchten und verschiedene Fladen, Suppen, Salate und Soßen. Mit großen Augen sahen die Kinder der Sonne das Festmahl an.
„Was hältst du von Dojeshi?“, fragte Iljan.
Najaxis hob den Blick von seinem Brot und stellte erleichtert fest, dass der Vampir Merkanto angesprochen hatte. So konnte sich der Inkubus weiter der Vernichtung sämtlicher Fladenbrote widmen.
„Was genau willst du wissen?“, fragte Merkanto.
„Sie war seltsam eben“, meinte Iljan. „Ich verstehe das nicht.“
„Oh, sie ist ihrer Königin treu ergeben.“ Merkanto warf sich drei kleine Tomaten in den Mund und kaute genießerisch. „Havinairies Adiaramat wird von ihr verlang haben, uns wie Gäste zu behandeln. Den Befehl hat sie mit der größtmöglichen Diplomatie umgesetzt, obwohl sie uns hasst.“
„Das ist doch unheimlich“, warf Jackie mit vollem Mund ein. „Sie lächelt uns an, nachdem sie uns kurz vorher mit Pfeilen spicken lassen wollte!“
„Sie hatte sogar selbst einen Bogen in der Hand.“ Abarax reckte den Kopf über ihren Tisch, um sich an dem Gespräch zu beteiligen.
„Das ist eben der Kodex des Sonnenlandes“, meinte Terziel schulterzuckend.
„Gemeinhin nennt man es auch Höflichkeit“, bemerkte Cary spitz. „Man muss ja nicht immer allen sagen, was man wirklich von ihnen hält.“
„Klingt nach einem Verhalten, das ich eher im Schattenreich erwartet hätte“, witzelte Najaxis.
Cary rollte mit den Augen. „Ihr Idioten!“
„Ich wünschte manchmal, das Schattenreich würde auch die feineren Züge der Diplomatie beherrschen“, seufzte Merkanto. „Aber nein, wir kennen nur Intrigen und Verrat. Von Ehre, Höflichkeit oder gar Gnade kann man dort nicht einmal träumen.“
Sie verfielen in Schweigen. Unausgesprochen hing die Frage im Raum: Durften sie auf Gnade hoffen?
Als die Teller leer waren, trat Arinaka wieder vor und ließ ihre Wachen abräumen.
„Stellt euch auf“, sagte sie in einem erstaunlich freundlichen Befehlston. „Die Anhörung beginnt.“
Sie wurden an die gleiche Stelle geführt, an der sie vorher gestanden hatten, in sicherem Abstand zum Thron. Dann winkte Arinaka sie auf die Seite, sodass der direkte Weg frei blieb. Auch der Stein, der von Stella geblieben war, stand an dieser Stelle. Schwere Schleifspuren im Mosaik zeugten von seinem Gewicht.
Die Flügeltüren wurden geöffnet. Nervös warteten die Kinder der Sonne darauf, wer eintreten würde.