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Nejakais Anblick war ein Schock. Nicht nur, weil ihre größte Feindin sie nun doch noch eingeholt hatte, sondern weil sie in einem erbärmlichen Zustand war. Ihre Kleidung war zerrissen, ihre Haut stellenweise verbrannt. Sie sah mehr tot als lebendig aus.
„Was hast du mit ihr gemacht?“, hauchte Cary zu Iljan.
„Was wir besprochen hatten“, antwortete Iljan. Sein Blick glitt über Nejakai.
„Sie ist kein Vampir“, flüsterte Jackie. „Sie hat die Verwandlung bekämpft.“
Fast unmerklich entspannte sich Iljan.
„Sprich, Kind“, sagte die Königin und gab damit das Schicksal der Kinder der Sonne in Nejakais Hände. Iljan senkte den Kopf.
Sie musste gerannt sein oder starke Schmerzen leiden, jedenfalls keuchte sie mit jedem schweren Schritt, den sie in die Halle machte.
„Ich habe … diese Wesen … gejagt. Durch das … halbe Sonnenreich …“
Nejakai stellte sich in die Mitte des Sonnenmosaiks. „Doch lasst mich bitte … von vorne beginnen.“
Die Sonnenkönigin neigte das Haupt, nur schwach zu sehen.
Nejakai sah zu den Kindern der Sonne – zu Cary.
„Caryellê Assadar war mein großes Vorbild, seit ich denken konnte. Ich wollte wie sie sein. Eine starke und eigensinnige Kriegerin, die sich nicht darum kümmerte, was andere von ihr denken. Ich trainierte drei-, vier-, fünfmal so hart wie alle anderen, um diesem Idol näher zu sein.“
Cary lief rot an und hauchte. „Ich hatte schon damals Angst vor ihr!“
„Dann hörte ich, dass sie in ihrem ersten großen Einsatz besiegt worden sein soll. Von einer Handvoll dunkler Wesen. Eine ganze Armee – aufgerieben! Und meine Heldin sollte tot sein. Ich schwor blutige Rache.“
In der Halle war es still geworden. Nejakai hatte sich aufgerichtet und Atem geschöpft. Sie war also hierher gerannt.
„Und dann wurden Gerüchte laut. Caryellê war gesehen worden. Diese Dunklen würden sie verschleppen. Ich folgte ihrer Spur nach Quellheim, doch dort verlor ich sie wieder. Ich suchte im ganzen Land. Bis die Steckbriefe auftauchten. Ihr wisst, was ich dort lesen musste. Caryellê war … ein Teil der Gruppe. Sie war gefallen, auf die dunkle Seite übergelaufen. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte es nicht akzeptieren. Caryellê war wie ein Leuchtfeuer für mich. Ich dachte, ich könnte sie befreien, und dann musste ich hören, dass sie nicht befreit werden will? Es gab nur einen logischen Schluss: Diese Monster aus dem Schattenreich haben sie belogen, getäuscht, ihren Geist irgendwie verhexet. Das war nicht länger Caryellê, die mit ihnen zog, sondern ein Gestaltwandler.“
Nejakai atmete durch und ließ den Blick über die Anwesenden streifen.
„Ich stieß auf die Gruppe. Ich bekämpfte sie und verlor. Ich verfolgte sie weiter. In Antordia konnte ich sie gefangen nehmen, doch sie brachen aus. Es war Cary, die ihnen zum Ausbruch verhalf. Ausgerechnet Caryellê.“
Nejakais Stimme klang … verletzt. So hatte Iljan die mächtige Magierin noch nie erlebt.
„Sie setzten uns aus, doch sie gaben uns Lebensmittel. Wir konnten ein Schiff auf uns aufmerksam machen und der Gruppe weiter folgen. Dann trafen wir den Kapitän, der unser Schiff gelenkt hatte. Wir hatten gedacht, dass die Vampire ihn zerfetzt hätten, doch er lebte. Und er erzählte, dass er sich mit ihnen angefreundet hätte. Angefreundet!“
Baradas zuckte zusammen. „Alte Hexe!“, murmelte er.
„Wir beschlagnahmten sein Schiff und ließen ihn untersuchen. Irgendwie mussten wir doch auf den Zauber stoßen, den diese Gruppe auf alle anwendet. Wir folgten ihnen über die Hauptstraße und es kam zu dem Kampf, von dem ihr an diesem Tag sicherlich schon gehört habt. Die Kinder der Sonne gegen die vereinten Weißen Wächter und Sonnenstrahlen! Unzählige Magier gegen einen Gewittermagier, ein Einhorn und eine Kräuterhexe. Und wisst ihr was? Sie gewannen trotzdem! Diese verflixte Gruppe fand eine Möglichkeit, dem sicheren Tod zu entfliehen. Ich denke, es ist ihre Vielfalt. So viele unterschiedliche Wesen in einer Gruppe – wie soll man dagegen einen Schlachtplan entwerfen? Ich war auch nicht länger entsetzt über Caryellês Niederlage, als sie mich gefangen nahmen.“
Iljan bewegte sich unruhig. Er wusste, was jetzt kam.
„Ich konnte sehen, doch leider nicht hören, wie sie über mein Schicksal diskutierten“, berichtete Nejakai leise. „Ich hatte einen der ihren scheinbar getötet, den Inkubus, und als Gefangenen gehalten, bis sie ihn befreien konnten. Ich hatte sie wieder uns wieder verfolgt, angegriffen, gefangen genommen, verletzt. Ich dachte, sie würden mich auf der Stelle töten, stattdessen tat der Vampir etwas noch grausameres.“
Die Menge hielt den Atem an. Iljan senkte den Blick.
„Er gab mir sein giftiges Blut“, sagte Nejakai mit klarer Stimme. „Genug, um mich zu einem der Ihren zu machen, doch keinen Tropfen mehr. Er sagte, dass es meine Entscheidung sei, dass ich ich bleiben könnte, wenn ich nur stark genug sei.“
Mehrere Blicke ruhten misstrauisch auf Nejakai. Sie grinste traurig und gab dann, völlig untypisch, einen einzigen, trockenen Lacher von sich. „Diese Wahl war die schwerste meines Lebens. Denn wieso sollte ich ich bleiben, wenn ich endlich begriff … endlich verstand, was Iljan Taidoni die gesamte Zeit über hinausschrie? Wieso sollte ich diese Verwandlung ablehnen, die Strafe, die ich verdiente?“
Alle starrten Nejakai an. Alle. Den Kindern der Sonne standen die Münder offen.
„Und doch wählte ich das Leben!“, sagte Nejakai. „Ich blieb ein Mensch mit Zauberkraft, weil meine Stimme nur dann in diesem Raum Gewicht hat! Ich muss euch sagen, was Iljan mir zeigte: Es könnte jeden von uns treffen. Jeder von uns könnte verwandelt werden. Das ändert nicht, wer wir im tiefsten Herzensgrunde sind.“
Nejakai hob ihre Stimme, bis sie brüllte. „Unsere Welt ist eine Lüge. Nicht wer wir sind, bestimmt unser Leben, nicht unser Volk, sondern unsere Taten! Diese Gruppe hat sich durch unser Land gekämpft, aber sie haben niemanden verletzt, außer, sie mussten das eigene Leben beschützen. Sie sind Risiken eingegangen, um ihren Feinden Gnade zu zeigen, und haben die Gefahr in Kauf genommen. Unser Land hat sich ihnen gegenüber von seiner dunkelsten Seite gezeigt, und sie haben versucht, für uns zu leuchten. Sprecht sie frei, Königin Adiaramat!“
Alle Blicke verfolgten, wie Nejakai zu Iljan herüberging. Sie blieb vor dem Vampir stehen und senkte den Kopf. „Vergib mir, Iljan.“
„Ich …“, stammelte er. Emotionen kochten in ihm hoch und er brachte kein Wort heraus.
Zum Glück musste er nicht antworten, denn nun erhob sich die Sonnenkönigin erneut. Die Wachen schlossen die Flügeltüren und das helle Sonnenlicht wich von den Scheiben zurück. Endlich konnten sie die Herrscherin allen Lichts sehen.
Die Königin war groß gewachsen. Sie trug ein Kleid, das wie Gold schimmerte. Es lag eng an ihrem Leib, der Saum ergoss sich wie eine Flut über die breiten Stufen rings um den Thron. Als wäre die Königin die Spitze eines goldenen Berges.
Die rechte Seite ihres Körpers war mit einer goldenen Rüstung verdeckt. Eine Maske schützte die Hälfte des Gesichtes, ein Harnisch die Hälfte des Brustkorbs, ein Palindrom, das in einen metallenen Ärmel und Handschuh überging, den rechten Arm. Auf der linken Seite war ihre goldbraune Haut zu sehen, und das goldene Haar, das sich über ihre Schulter ergoss. Auf dem Kopf trug sie, über Helm und Haar, eine Krone, von der lange Stacheln wie die Strahlen der Sonne abgingen.
Mit sanften Schritten schwebte sie förmlich von ihrem Thron und trat in die große Halle hinein. Das eine Auge, das zu sehen war, leuchtete wie Bernstein.
„Wir haben gehört und gesehen“, sprach sie mit ihrer wunderbaren Stimme. Der Klang kam Iljan entfernt vertraut vor, doch eine Stimme so voller Liebe und Wärme hatte er noch nie vernommen, da war er sich sicher. Ihrem Blick, wenngleich er sanft und freundlich war, konnte er kaum standhalten.
„Viele sind gekommen, um ihre Meinung kundzutun“, fuhr die Königin fort. „Und nun ist die Zeit für das Urteil gekommen. Kinder der Sonne – bittet tretet vor.“
Iljan, Cary, Abarax, Terziel, Najaxis, Merkanto, Jackie, Gudrun und Dayr folgten der Aufforderung.
„Zuallererst: Wollt ihr das Urteil gemeinsam empfangen, oder euch von Teilen eurer Gruppe lossagen, deren Taten nicht mit eurem Gewissen übereinstimmen?“, fragte die Königin.
Gudrun seufzte. „Ich geh ja schon.“ Die Hexe trat vor und zur Seite und leierte: „Ich gehöre nicht zu Iljans Gruppe. Ich handelte auf eigene Faust, meine Strafe soll sie nicht belasten.“
Iljan stöhnte gequält. „Ich werde mich dafür hassen.“ Dann ging er zu Gudrun und sah die Sonnenkönigin fest an. „Gudrun gehört zu uns. Sie hat uns geholfen, wenn wir sie brauchten, also kann ich sie nicht im Stich lassen.“ Er sah zu seinen Freunden. „Ich spreche nur für mich, aber ich werde Gudruns Schicksal mittragen.“
Seine Gedanken schrien im Chor: „Sie wird dich ins Unglück reißen, du hast gehört, wer sie ist und was sie getan hat! Geh zurück!“
Aber Iljan blieb standhaft. Zu oft hatte Gudrun ihnen geholfen und sie gerettet. Ob er sie ihrer gerechten Strafe entzog oder sich selbst ins Unglück stürzte, war ihm gleichgültig. Er erinnerte sich noch sehr gut, wie Gudrun stolz „Wir sind die Kinder der Sonne!“ gebrüllt hatte. Sie hatte sich zu seinem unmöglich scheinenden Traum bekannt. Das musste er ihr vergelten.
Mit festen Schritten trat Caryellê zu ihnen. Die anderen Kinder der Sonne folgten fast gleichzeitig, Trotz in den Gesichtern.
„So sei es“, sprach die goldene Königin.
„Welches Schicksal auch immer die Kinder der Sonne erwartet, es wird auch das unsere sein“, sagte Rea laut. Sie und die Mondhörner traten hinter die Gruppe. Ihre restlichen Verbündeten tauschten Blicke, doch dem Momentum wollte sich niemand entziehen. Nach und nach tröpfelten sie zu den Angeklagten. Sogar einige der Weißen Wächter von der Gegenseite folgten Nejakais Beispiel und stellten sich unter den Schiedsspruch.
Iljan sah entsetzt zu den unzähligen Wesen, sie sich auf seine Seite stellten. Für einen Moment wollte ihm der Druck schier den Atem nehmen. Alles, was bis hierhin geschehen war, würde über tausende Schicksale entscheiden! Hätte er das vorher gewusst, wäre er sicherlich anders vorgegangen. Ihm fielen unzählige Fehler ein, die sie begangen hatten.
Die Königin hatte geduldig gewartet, bis alle standen. Dann hob sie die Stimme.
„Die Kinder der Sonne haben Unverzeihliches getan, dass sie niemals wiedergutmachen können. Sie können keine Toten wiedererwecken, das kann niemand. Aber sie haben auch Heldentaten begangen und sich großmütig gezeigt. Und durch ihr Abenteuer haben sie, so scheint mir, mehr als eine Fäulnis dieses Landes ausgebrannt.“ Ihr Blick fiel auf die Zwerge und Dryaden der Gegenseite. „Ich enthebe die Anhänger von Haryna sowie die Freunde der Zwerge Torkan, Kaymurk und Kanmack ihres Stimmrechts. Wie es scheint, habt ihr die Gesetze dieses Landes gebrochen. Ihr seid die wahren dunklen Wesen und ich verbanne jeden, der glaubt, Haryna oder den drei Zwergen nacheifern zu müssen.“
Mehrere Leute schnappten nach Luft.
„Was die Kinder der Sonne angeht“, sagte die Königin. „Sie dürfen bleiben.“
Erleichterung durchflutete Iljan wie Feuer. Er taumelte. Die nächsten Worte bekam er kaum noch mit.
„Doch ihren Traum werde ich nicht erfüllen. Das steht nicht in meiner Macht. Sie erhalten einen Platz in diesem Land, wo sie leben dürfen, sobald sie keine Gegner mehr haben. Doch noch sehe ich viele, die zornig oder mit Unmut auf sie blicken. Erst wenn dieser Hass verflogen, der Zorn gekühlt oder vergessen ist, dürft ihr wahren Frieden in diesem Land erleben. Ihr müsst die Schuld abtragen, das Blut an euren Händen, und wahrlich, das wird eine unmögliche Aufgabe sein. Doch schon zuvor habt ihr unmögliches geleistet.“
Die Königin senkte die Arme. „Dies ist mein Urteil. Wer es anzweifelt, möge jetzt sprechen.“
Iljan verkrampfte sich wieder. Sie waren dem Glück, wenigstens einem Fetzten davon, so nah … konnten sie diesen Hauch wieder verlieren?
Doch nein. Keine Stimmen erhoben sich. Ihre Gegner waren entweder zu eingeschüchtert von dem Urteil über manche von ihnen, oder es war nicht üblich, der Königin zu widersprechen. Langsam, ganz langsam, spürte Iljan, wie die Angst der letzten Monate von ihm abfiel.
„Dann ist die Verhandlung hiermit beendet!“, beschloss die Königin. „Wachen! Bringt Speis und Trank für die Reisenden und bereitet ihnen Zimmer im Palast vor. Jedem, der sich für das Recht einsetzt, ob Freund oder Feind, steht eine Nacht unter meinem Dach zu.“
Die Versammlung rings um die kleine Gruppe löste sich auf. Nach und nach zogen die Gegner nach draußen.
„Was genau bedeutet das Urteil?“, fragte Iljan Merkanto.
„Sie vertraut uns noch nicht“, sagte der Magier. „Wir müssen uns beweisen. Wie wir das tun sollen, weiß ich nicht, doch wir können es schaffen.“
Dann wurde der Magier von Relabai in Menschengestalt in eine Umarmung gezogen, die Merkanto von den Füßen riss. „Ihr habt es geschafft!“, jubelte der Cereceri. „Ihr seid nun offiziell Sonnenländer!“
„Jetzt wird sich vieles ändern“, sagte Rea, die plötzlich an Iljans Seite aufgetaucht war. „Ihr habt uns den Weg in eine Zukunft geebnet, Kinder der Sonne. Das wird mein Volk euch nie vergessen.“
Als nächstes erschien Nejakai. „Ich erwarte nicht, dass wir jetzt plötzlich Verbündete sind, aber … ich hoffe, ihr nehmt meine Entschuldigung für alles an. Du hast mir die Augen geöffnet, Iljan. Ich war blind.“
Er schüttelte ihre Hand und fühlte sich wie in einem Fiebertraum. War er sich sicher, dass er nicht irgendwann ohnmächtig geworden war und das alles hier nur träumte? Vielleicht lag er ja auch auf den Stufen des Throns und verblutete an den Pfeilwunden, während die Königin darüber sprach, ob man seine Leiche und die seiner Freunde verbrennen oder lieber in Einzelteilen als Warnung an die Front schicken sollte.
Dann stand Cary vor ihm wie aus dem Boden gewachsen. Sie legte ihm die Arme um den Hals und die Stirn an seine. Iljans Gedanken kamen zur Ruhe.
„Wir haben es geschafft“, flüsterte die Elfe leise. „Nach allem, was wir aufgeben mussten, haben wir es endlich geschafft. Ich wusste es, Iljan. Ich wusste, dass du die Welt ändern kannst.“
Ihre Lippen fanden seine. Noch immer schmeckte Cary so süß, ein wenig bitter, aufregend und fremdartig. Iljan schloss die Augen und zog sie an sich. Am liebsten würde er sie auf die nächstbeste waagerechte Fläche werfen und das Ende ihrer aberwitzigen Reise feiern. Cary verzog die Lippen zu einem Lachen, als seine Küsse gieriger wurden. Sie entzog sich ihm, doch ihre Hüfte streifte seine.
„Später“, hauchte sie verheißungsvoll.
Iljan hob den Blick und erinnerte sich, dass sie inmitten einer Menge standen. Und nicht weit entfernt ragte Vailandamir in die Höhe, die Arme vor der Brust verschränkt und eine Augenbraue hochgezogen.
Iljan grinste schief, während seine Ohren brannten, und winkte dem Elfenkönig wie ein ertappter, kleiner Junge.
Vailandamir schmunzelte überheblich und drehte sich ab.