https://www.deviantart.com/ifritnox/art/806529401
Ihr leises Klopfen an der gewaltigen Pforte rief ein unheimliches, lautes Echo hervor. Gudrun zuckte zusammen und presste die Hand gegen die Brust.
„Wie kann ich dir helfen?“
Die Stimme erklang hinter ihr. Gudrun drehte sich um und blinzelte.
Natürlich hatte sie gewusst, dass die Königin ein normaler Men- ein normales Wesen war und sich auch von dem Thron erheben und woanders herumlaufen konnte. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass Adiaramat das tun würde.
„Ich …“, sie stockte. Schluckte. Atmete tief durch. „Ich möchte zu Stella. Sie steht doch noch im Thronsaal, richtig?“
Der misstrauische Ausdruck im Blick der Königin wurde sanfter. „Du magst dieses Einhorn sehr, Elysa.“
Gudrun verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. „So heiße ich nicht länger. Du selbst sprachst mir den Namen ab, damit ich ihm keine Schande bringe.“
„Um deine Legende nicht zu zerstören“, verbesserte die Königin sanft. „Und weil es Schrecken verbreitet hätte, wenn meine treue Magierin plötzlich im Land der Schatten lebt.“
„Du redest, und ich kenne jedes Wort“, sagte Gudrun, „aber ich verstehe nur: Politik, Politik, Politik.“
Zu ihrem Erstaunen lachte Adiaramat glockenhell auf. „Das hat dich früher nicht so gelangweilt.“
„Früher“, Gudrun warf die Hände hoch, „Früher war das anders. Da konnte ich mir nichts anderes vorstellen, aber das war, weil ich nicht wusste, was mir fehlte!“
„Und was fehlte dir?“, fragte Adiaramat. „Hier, an meiner Seite, als zweitmächtigstes Wesen im Sonnenland?“
„Liebe“, hauchte Gudrun. „Ich hatte nie geliebt. Niemanden. Ich … ich wusste nicht, was das für ein Gefühl war. Bis ich ihn sah.“
„Nepumuk“, sagte die Königin.
„Ich weiß ja, dass er mich verachtet. Niemand könnte mich lieben, wie ich bin. Früher, da haben mich alle geliebt. Ich wurde verehrt. Doch ich konnte diese Gefühle nie erwidern. Nun kenne ich die Liebe. Ihren Schmerz, ihren Preis. Ich weiß, dass Nepumuk mich niemals lieben wird, aber“, eine Träne rollte über Gudruns Wange, „ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben.“
No victory comes without a price.
Measured defeat on every side.*
„Ach, mein Kind!“, seufzte die Königin und drückte Gudrun an sich. „Aelinos. Wenn ich den Schmerz von dir nehmen könnte, so würde ich es tun.“
Gudrun versteifte sich. „Was sagtest du?“
„Wenn ich -“
„Nein, du weißt, was ich meine.“
„Aelinos.“
„Woher kennst du meinen Namen in der Sprache der Einhörner?“
Die Königin lachte wieder. „Ach, Gudrun. So lange waren wir Freunde, und immer noch verwundert dich meine Macht?“
„Stimmt auch wieder.“ Gudrun schnaubte.
Vanquish!
The battle may be won,
but war still rages on.
Auf eine Handbewegung der Königin hin öffneten sich die großen Pforten und ließen sie in den Thronsaal ein. Dieser war in goldenes Licht gebadet. Doch Gudrun stutzte. Die klaren Linien der Säulen, die glatten Wände und der fein gemusterte Boden waren verschwunden. An ihrer Stelle führten Holzstege über klares Wasser, auf dem Seerosen schwammen. Von der Decke hingen Lianen mit leuchtenden Blüten in Rosa, Blau und Gelb. Ein sanfter Wind ließ sie schwingen. Im stillen Wasser sah Gudrun ihr Spiegelbild, eine hässliche, krummgebeugte Frau mit unterschiedlichen Augenfarben und einem haarigen Muttermal auf der Wange, neben der schönsten, strahlendsten Frau des gesamten Sonnenreichs.
Sie schnaubte. „Nicht anders als früher.“
Die Stege bildeten verwirrende Muster. Einer führt zu einer kleinen Plattform, auf der Stellas Statue stand. Auch der Thron war nichts weiter als eine schwimmende Insel.
Vanquish!
The glory fades into
the truth of what was lost.
Gudrun trat zu Stella. Die Königin folgte ihr nahezu lautlos.
Das Einhorn stand starr dar. Seine Haltung drückte die niederschmetternde Enttäuschung aus, die Stella gefühlt haben musste.
„Als hätte man meinen Fehlern eine Statue gebaut, die mich ewig anklagen soll!“, schimpfte Gudrun. „Verdammt noch eins, Stella!“
Die Hexe sah sich suchend um. Sie lief die Stege entlang. „Es muss doch hier sein.“
Sie hockte sich an den Rand des Stegs und tastete im Wasser. Karpfen und silberne Fischchen flohen.
„Suchst du etwas?“, fragte Adiaramat.
„Natürlich suche ich“, brummte Gudrun. „Ihr Horn! Es muss doch irgendwo sein! Es ist abgefallen und auf die Erde gerollt …“
„Und was willst du mit dem Horn des Einhorns?“, fragte die Königin.
„Es kleinmahlen, kochen und für einen Unsterblichkeitstrank verwenden“, schnaubte Gudrun. „Nein, ich will Stella natürlich helfen. Man kann sie heilen, das habe ich gelesen. Ich brauche nur das Horn …“
„Aber du weißt, dass nur eine Person mit reinem Herzen ein Einhorn heilen kann“, sagte die Königin ruhig.
„Ich weiß“, knurrte Gudrun. „Aber ich bin die einzige, die Stella hat. Ich muss es wenigstens versuchen.“
„Steh auf, mein Kind“, seufzte die Königin. „Ich habe es hier.“
Gudrun fuhr in die Höhe, und dort, in der Hand der herrlichen Königin, lag das versteinerte Horn Stellas.
Gudrun machte zwei Schritte vor und streckte die Klauenhand aus. „Gib es mir!“
Adiaramat sah auf sie herab. Wind rauschte durch die Lianen und schüttelte sie stärker. Die Blüten schlossen sich und wie ein Vorhang senkte sich Dunkelheit über den Raum. Die Wasser wurden dunkel und aufgewühlt, Wellen schwappten über die Stege, die mit einem Mal glitschig wirkten. Nur die Königin strahlte in Gold.
Gudrun schrie auf und taumelte zurück. Dann fiel sie auf die Knie. „Was … was passiert hier?“
„Gudrun Blackwood“, sprach die Königin mit einer Stimme, die nicht mehr angenehm war, und unheimlich von den Wänden widerhallte. „Zuerst brauche ich die Wahrheit von dir. Wohin willst du gehen?“
Gudrun bebte. Sie kauerte sich zusammen.
„Fort!“, rief sie. „Ich gehe zurück zu Nepumuk. Er wird mich wohl töten, weil ich seinen Sohn nicht mitgebracht habe, aber … aber … die Kinder der Sonne wollen mich doch auch nicht. Ich sehe es in ihren Blicken, sie hassen mich für das, was ich getan habe.“
„Und was hast du getan?“, fragte die Königin.
„Ich habe geliebt!“, schrie Gudrun gegen den Sturm. „Ich liebe einen Vampir, der mich niemals lieben wird! Ich würde alles für ihn tun – alles, damit er mich ansieht, vielleicht sogar lächelt!“
„Und warum?“
„Nur dann fühlte ich mich, als könnte ich atmen. Alles andere ist mir egal. Der Krieg. Der Tod. Alles. Ich will nur bei Nepumuk sein.“
Der Sturm ebbte ab. Ebenso plötzlich, wie es dunkel geworden war, wurde es wieder hell und der ruhige Teich kehrte zurück. Gudrun sah vorsichtig auf.
Adiaramat sah sie mitleidig an, den Kopf schief gelegt. „Du weißt, dass das keine Liebe ist, richtig?“
Gudrun nickte. „Aber ich kann nicht anders.“
Adiaramat kam zu ihr und zog sie sanft auf die Füße. Dann drückte sie ihr das Horn in die Hände. „Geh. Rette deine Freundin.“
„Das kann ich doch gar nicht“, seufzte Gudrun. „Ich bin ein Schattenlandwesen. Als ich noch eine weiße Hexe war, hätte ich es vielleicht gekonnt.“
„Dann willst du das Einhorn einfach stehen lassen?“, fragte die Königin herausfordernd.
Gudrun schüttelte den Kopf, umklammerte das Horn mit beiden Händen, und ging zu der Statue.
Mit beiden Händen hielt sie das Horn an Stellas Stirn. Nichts geschah.
We cannot rewrite history's page,
but we can learn from our mistakes.
„Es tut mir so leid“, flüsterte sie und schloss die Augen. „Ich wusste von Anfang an, dass ich dich enttäuschen würde. Ich habe es versucht, wirklich. Ich wollte die gute Hexe sein, die du in mir gesehen hast. Aber Nepumuks Bann liegt auf mir und ich kann mich ihm nicht erwehren. Er ist meine Droge und ich muss alles tun, was er verlangt. Sogar Kriege anzetteln und meine Freunde verraten.“
Tränen liefen heiß über Gudruns Wangen. „Es tut mir so leid, Stella. Das hast du nicht verdient. Du hast die Freiheit verdient, das Leben. Ich sollte an deiner Stelle stehen.“
Ein seltsamer Schimmer zwang Gudrun, die Augen zu öffnen. Erstaunt sah sie, dass eine Faser des Horns leuchtete. Dann eine zweite. Die goldenen Linien krochen in die Statue, durch das eingefrorene Fell und die versteinerte Mähne.
„Stella!“, hauchte sie.
Vanquish!
Prevailing wisdom of
the past can't be denied.
Das Licht wurde intensiver. Nach und nach erglühte das ganze Horn, dann schimmerte die Statue in einem Licht, das heller und heller aus dem Inneren drang. Bald strahlte es grell durch winzige Risse im Stein. Knirschend verbreiterten sie sich.
Gudrun ließ das Horn los und trat zurück. Doch selbst so blieb das Bildnis erhalten. Die Wunden klafften auf, größer und größer, heller und heller. Krachend brach der Stein, die Schale polterte zu Boden, und das Licht wurde so intensiv, dass Gudrun ihr Gesicht abschirmen musste.
Vanquish!
The blood and tears of war.
The scale of sacrifice.
Als der Schein erlosch, blinzelte Gudrun. Und da, vor ihr, stand ein Einhorn. Ein zartes Pferd, kaum erwachsen, mit schlanken Beinen, kurzer Mähne und kurzem Schweif.
Doch unverkennbar Stella.
„Du … du bist es …“, hauchte die Hexe.
Das Einhorn neigte den schlanken Kopf. Gudrun sprang vor und warf die Arme um den Hals des Tieres.
Da flackerte für einen winzigen Moment auch die Gestalt der Hexe. Im Teich, zwischen den Seerosen, veränderte sich ihr Spiegelbild, nur für einen Augenblick, und dort sah man eine wunderschöne, schlanke Frau in einem dunkelgrünen Kleid, mit langen, schwarzen Haaren, die schimmerten wie Sternenlicht, mit blasser Haut und perfekten Zügen.
Vanquish!
Dann erlosch das Trugbild. Gudrun war wieder sie selbst.
Stella löste sich sanft von der Hexe. „Ich hörte deinen Ruf. Du batest mich um Verzeihung.“
„Und ich bitte immer noch. Nein, ich flehe! Stella, du bist meine einzige Freundin. Ich wollte dich niemals verlieren, aber … ich bin ein schreckliches Wesen. Ich bin eine böse Hexe, und daran kann ich nichts ändern.“
„Dem möchte ich widersprechen“, sagte die Königin leise. „Was du soeben getan hast, kann nur eine weiße Hexe tun. Ein Einhorn erwecken, gelingt nur den mächtigsten, reinsten und gütigsten Wesen. Alle Hoffnung ist noch nicht verloren, Aelinos.“
Weinend presste Gudrun ihr Gesicht an den Hals der jungen Stella. „Was kann ich tun?“
„Das gleiche, was alle Kinder der Sonne tun müssen: Trage deine Schuld ab.“
„Aber … wie?“, fragte Gudrun und drehte sich um. „Du hast einen Plan!“
„Einen Plan? Nein. Aber einen Auftrag für euch. Besteht ihr ihn, werdet ihr nicht nur euren ersehnten Frieden finden, sondern eine ganze Menge mehr.“
Gudrun sah die Königin an. „Was willst du von uns?“
Havinairies Adiaramat lächelte. „Das wirst du nur allzu bald erfahren. Kehre zurück zu den Kindern der Sonne, Gudrun Blackwood.“
„Aber …“
„Sie werden lernen, dich zu akzeptieren. Und nur als Gemeinschaft könnt ihr bestehen, was vor euch liegt“, sagte die Königin. „Sie brauchen dich, besonders Stella braucht dich.“
Das Einhorn schnaubte bestätigend.
Dann richtete Stella den Blick auf die Königin, um etwas zu sagen. Gudrun sah, wie das Einhorn stockte und ein Ausdruck von Verwirrung in seine Züge trat.
„Verzeih mir, junges Fohlen“, sagte die Königin sanft. „Aber mein wahres Wesen kannst du nicht sehen noch benennen. Es bleibt allen Wesen verborgen, selbst den weisesten.“
Gudrun klopfte Stella beruhigend auf den Hals. „Mach dir nichts draus. Ich bin auch nie aus ihr schlau geworden.“
Wieder lachte die Königin wie ein sprudelnder Sommerquell.
„Auf, ihr beiden! Eure Freunde erwarten euch. Und ebenso neue Abenteuer.“
„Neue Abenteuer?“ Gudrun ächzte. „Wenn sie so werden wie das letzte, dann verzichte ich.“
„Keineswegs“, sagte die Königin nun ernst. „Diese Abenteuer werden sehr viel dunkler, blutiger und gefährlicher.“
Gudrun und Stella starrten die Königin erschrocken an.
„Ihr habt eine große Schuld abzutragen, Kinder der Sonne“, murmelte Adiaramat wie im Traum. „Zur Sonne führt ein steiniger, harter und dunkler Pfad voller Schrecken.“
Wenig später verließ Gudrun das Schloss auf dem Rücken von Stella, die mit ausgreifenden Hufen über die Straße galoppierte. Die Königin stand im gewaltigen Eingangsportal, eine winzige, goldene Gestalt, und winkte. Dann kehrte sie in die große, stille Halle zurück, schritt über die Stege, vorbei an Seerosen und unter Lianen hinweg.
Sie setzte sich auf den Thron und ihr goldenes Gewand ergoss sich über die Stufen ringsum. Sie lehnte sich zurück, und ein Sonnenstrahl, der durch das Fenster fiel, verbarg ihre Gestalt vor der Welt, hüllte sie in undurchdringliches Licht.
Und so, still und regungslos, bliebt der Thronsaal zurück.
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*»Vanquish«, Two Steps from Hell