https://www.deviantart.com/ifritnox/art/675017584
Sie standen früh auf. Iljan half, die Zelte abzubauen, die samt der Taschen mit ihren Vorräten auf Askooks Rücken geschnallt wurden.
»Steht auf«, sagte er den Gefangenen und löste die Seile, die alle vier an die Bäume banden. Die Fesseln um die Hände blieben.
Gudrun, die das Spiel schon kannte, streckte sich und schüttelte die steifen Beine aus. Die Elfe und der Engel erhoben sich zögerlich und sahen sich in dem Lager um.
Das Einhorn rannte unvermittelt los, sobald es von seinem Strick befreit war. Die Hufe trommelten auf den Waldboden wie ein Herzschlag. Das weiße Tier wollte im Wald verschwinden, aber die Kinder der Sonne hatten damit gerechnet. Askook sprang ihm in den Weg und breitete brüllend die Flügel aus. Merkanto fing das weiße Pferd mit einem magisch verstärkten Strick ein. Das Tier konnte noch so sehr daran zerren, der Strick würde weder reißen, noch Merkanto aus den Händen gleiten. Während der Magier aus dem Strick ein Halfter knüpfte und das niedergeschlagene Einhorn an einen breiten Ast band, standen die Elfe und der Engel starr daneben.
Die Gefangenen waren von der gescheiterten Flucht sichtlich beunruhigt. Aber weder Iljan noch jemand der anderen ließ eine Strafe folgen. Najaxis reichte die Wasserschläuche herum und teilte Brot aus. Die Gefangenen bekamen ebenso viel wie Iljans Gefolge.
»Bitte sehr, schöne Frau«, sagte Najaxis mit einer spöttischen Verbeugung, als er Caryellê ihren Teil überreichte. Iljan warf ihm einen Blick zu. »Lass sie in Ruhe, Naja!«
Nach einem letzten Zwinkern zu der stoischen Elfe machte sich Najaxis daran, den letzten Rest einzupacken.
»Wir werden die Grenze erst morgen überschreiten«, verkündete Iljan noch einmal, was sie am Vorabend besprochen hatten. »Die Wächter sind zurückgeschlagen, aber sie werden wiederkehren. Hier werden sie uns suchen, bei Quelltal erwarten sie uns nicht. Wir wollen tief ins Herz des Sonnenreiches eintauchen, bevor sie uns finden können.«
Die Elfe beobachtete ihn aus unergründlichen, schwarzen Augen. Sie hatte die Haare auf einer Seite des Kopfes abrasiert. Auf der anderen Seite stachen unordentliche Strähnen des dunklen Haares in alle Richtungen, fielen ihr ins Gesicht und bis auf den Hals. Die Haare am Hinterkopf und Nacken waren lang und reichten bis zur Hüfte. Wo die Haare rasiert waren, konnte man ein von Metallringen durchstochenes, spitzes Ohr sehen.
Von den anderen widersprach niemand. Iljan nickte und gab den Befehl zum Aufbruch.
Ihre kleine Kolonne arbeitete sich durch die dunklen Wälder. Iljan lief voraus und spähte den Weg aus. Hinter ihm folgte nach einer längeren Wegstrecke Askook mit der Last ihrer Vorräte. Merkanto führte das Einhorn an dem Halfter, das ebenso dunkelblau wie die Roben des Magiers waren. Gudrun, die Elfe und der Engel folgten hinter dem Pferd, bewacht von Najaxis und Abarax, die das Schlusslicht bildeten.
Mit federleichten Schritten schloss Jackie zu Iljan auf. Sie trug inzwischen Kleidung, ein einfaches Hemd aus Leinen, ehemals weiß, inzwischen aber gelb vom Alter, darunter eine braune Hose, beide Kleidungsstücke zerfetzt und zerrissen, bis sie wenig mehr als das Nötigste bedeckten. Die langen Haare fielen ihr bis zum Hintern, und sie lief immer noch barfuß, trug aber braune Felle um die Waden und Schienbeine. Ein grünes Tuch hatte sie mit den Ecken in den Gürtel der Hose geschoben, sodass es sich jetzt hinter ihr bauschte wie ein Rock.
»Die Elfe hält nicht mit«, erklärte sie Iljan. Er hielt an und sah zurück. Tatsächlich fiel die Elfe immer weiter zurück, und das, obwohl Najaxis dicht hinter ihr ging und wohl die ganze Zeit seine typischen Kommentare abgab. Iljan verengte die Augen. »Humpelt sie?«
Jackie nickte. »Ich denke, sie hat sich den Knöcheln verletzt.«
Iljan schüttelte den Kopf und lief der Gruppe entgegen. »Warum sagt sie nichts?«
»Zu stolz«, meinte Jackie, die ihm folgte.
Die Elfe sah auf, als Iljan direkt auf sie zu kam. Ihre helle Haut wirkte noch blasser und unter ihren Augen lagen Ringe von sanftem Lila. Ihre Züge waren so hart und abweisend wie geschliffener Feuerstein.
»Kannst du mithalten?«, fragte Iljan.
Caryellê Gesichtsausdruck würde hochmütig. »Natürlich!«
»Ehrlich?«, fragte Iljan nach. »Wir sind nicht die Bösen, Caryellê. Habt Ihr einen Titel?«
»Ich bin Kommandantin Caryellê Assadar von den Weißen Wächtern!« Sie stand so aufrecht, wie man mit gefesselten Händen nur stehen konnte. Aber er merkte, dass sie den einen Fuß nicht belastete.
»Und als diese Kommandantin habt Ihr Verantwortung für Eure Männer«, sagte Iljan. »Für den Engel und das Einhorn. Ihr müsst sie weiterhin beschützen, was auch immer Ihr von uns halten mögt. Das heißt auch, dass Ihr Euch nicht zugrunde richten dürft.«
Iljan sah, wie Caryellês Miene weicher wurde. Er hatte richtig geraten. Die Pflicht war ihr Lebenszweck. Dafür würde sie sogar ihren Stolz hinunter schlucken.
»Ich denke, mein Knöchel ist verstaucht«, gab sie endlich zu.
Iljan nickte. Das glaubte er allerdings auch.
»Wir machen eine kurze Pause«, verkündete er laut. Caryellê musste sich auf den Boden setzen. Während Iljan das Einhorn festhielt, untersuchte Merkanto ihren Knöchel und strich schließlich eine Salbe darauf.
»Sie muss sich eine Weile schonen«, sagte er. Seine Stimme klang neutral, von dem beinahe angeborenen Hass aller Dunklen auf die Wesen der Lichtlande war nichts zu spüren.
»Wir können nicht warten, bis sie gesund ist«, knurrte Askook, der seine Abneigung weniger gut verbarg.
»Ich könnte sie tragen«, schlug Najaxis vor und zwinkerte der Elfe zu. Deren Augen weiteten sich entsetzt.
»Wir haben das Einhorn«, sagte Iljan zu Caryellê. »Du kannst reiten, unter der Voraussetzung, dass es keine weiteren Fluchtversuche gibt. Merkanto hier ist ein misstrauischer Mann. Wenn er glaubt, dass ihr beide etwas plant, wirst du laufen müssen.«
»Iljan, das ist Wahnsinn!«, fuhr Jackie auf. »Wenn sie flieht, wird sie den Weißen alles erzählen!«
»Sie wird nicht fliehen«, sagte Iljan und sah sie Elfe an. »Richtig, Cary? Du wirst bei deinen Leuten bleiben.«
Die Elfe nickte und schien nicht einmal zu merken, dass Iljan in die vertraute Anrede gewechselt war. Unter den finsteren Blicken von Najaxis, Abarax und Askook zog sie sich auf den Rücken des weißen Einhorns.
»Danke«, sagte sie leise. Iljan lächelte ihr zu und wollte sich wieder an die Spitze setzen.
Bevor er dazu kam, fassten zwei Hände seinen Oberarm. Er blickte zur Seite in das wenig ansehnliche Gesicht von Gudrun, die ihn anfeixte: »Du zähmst sie, Iljan! Wie professionell! Dein Vater wäre stolz auf dich!«
Iljan riss sich mit einer heftigen Bewegung von der Hexe los und stolzierte davon. »Rühr mich nicht an, Gudrun! Und rede nicht von meinem Vater.«
»Wie, hast du Angst, dass er kommt, wenn man über ihn spricht?«, lachte sie ihm schrill hinterher. »Nepumuk, Nepumuk, Neeeeepumuk! Hahahaa!«
Ein Klatschen ertönte und Gudrun verstummte. Als Iljan sich umdrehte, hielt die Hexe sich die eine Wange und starrte Jackie mit großen Augen an, die vor ihr stand.
»Halt dein schiefes Maul!«, knurrte die Werwölfin bedrohlich.
»Jackie!«, rief Iljan scharf und sie trottete nach einem letzten, finsteren Blick auf Gudrun zu ihm.
»Sie ist es nicht wert«, sagte Iljan ruhig und setzte sich an die Spitze ihrer Kolonne. Nach einem kurzen Zögern folgten ihm die anderen, zusammen mit Gudruns irrem Kichern.
Als die Sonne im Zenit stand, machten sie eine Pause. Sie hielten in einem Graben am Waldrand und legten die Taschen ab. Askook entzündete ein Feuer und Abarax setzte sich daneben und begann, Würstchen in einer Pfanne zu braten.
»Esst ihr Fleisch?«, fragte Iljan Caryellê und Terziel, nachdem sie beiden wieder an einen Baum gefesselt saßen, diesmal sehr locker angebunden.
Beide schüttelten den Kopf.
»Was ist mit Kartoffeln?«, fragte Iljan. »Wäre das in Ordnung?«
»Ja«, sagte Terziel zögerlich.
»Warum ist dir das wichtig?«, fragte Caryellê misstrauisch.
Iljan zögerte: »Wir wollen keine Monster sein.«
Wenig später brachte Iljan den beiden ihr Essen, das aus Bratkartoffeln bestand. Das Einhorn wurde mit Heu versorgt.
»Ich dachte, Vampire würden im Sonnenlicht verbrennen«, meinte Caryellê, die langsam Vertrauen zu fassen schien.
»Das ist ein Mythos«, lächelte Iljan. »Obwohl es früher viele Vampire gab, die sich der absoluten Finsternis hingegeben haben und danach kein Sonnenlicht mehr vertrugen. Meistens können wir es ab.« Dass das Sonnenlicht für ihn immer noch unangenehm war, insbesondere, wenn sein Durst wuchs, verriet Iljan ihnen nicht.
Caryellê nahm ihre Kartoffel entgegen. Terziel bemühte sich, Iljan weder zu berühren noch anzusehen. Trotzdem setzte sich der Vampir zu ihnen.
»Du sagtest, ihr wollt keine Monster sein«, begann Cary. »Was bedeutet das?«
Iljan hatte auf diese Frage gehofft.
»Du siehst unseren Namen, Kinder der Sonne, vielleicht als Beleidigung an«, begann er. »Für uns ist es ein Symbol der Hoffnung. Du musst verstehen, kaum einer von uns ist freiwillig zum Monster geworden. Wir wurden als das geboren, was wir sind, aber wir sind nicht davon überzeugt, als was wir geboren wurden.«
Caryellê musterte ihn neugierig. »Also wollt ihr nicht ins Land des Lichts, um uns zu überrennen?«
Iljan schüttelte den Kopf. Die Elfe wirkte noch nicht überzeugt und Terziel knurrte: »Er lügt!«
»Wir sind wenige«, sagte Iljan. »Aber wir glauben, dass unsere Handlungen entscheiden können, wer wir sind, und nicht allein unsere Herkunft.«
»Mal angenommen, das stimmt«, sagte Caryellê, »warum müsst ihr dann über die Grenze?«
»Weil es unsere Wahlheimat ist.«
»Und warum müsst ihr es heimlich tun?«, fragte Caryellê weiter, während Terziel offenbar beschlossen hatte, nicht mit Iljan zu reden. »Und warum habt ihr eben noch gegen uns gekämpft?«
»Die Weißen Wächter würden uns sofort töten«, sagte Iljan. »Und von den Dunklen würden wir als Verräter hingerichtet werden. Wir mussten eine Möglichkeit finden, beide Seiten zu überlisten.«
»So, so«, meinte Cary spöttisch. »Also in Wahrheit seid ihr Helden und Heilige!«
Iljan schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Aber wir hätten gerne eine Chance.«
Er sah, dass Caryellê ihm bei aller Neugier nicht glaubte. Er seufzte und stand auf. Zeit. Die Wächter würden Zeit brauchen. Aber die Kinder der Sonne hatten nicht ewig Zeit. Iljan fürchtete sich davor, ohne die Unterstützung von Lichtwesen in die hellen Lande zu ziehen.
»Was ist mit der Hexe?«, rief die Elfe ihm plötzlich hinterher. Iljan drehte sich um.
»Warum ist sie gefesselt?«, fragte Caryellê. »Warum gehört sie nicht zu eurer Gruppe?«
»Gudrun war mal eine weiße Hexe«, erklärte Iljan ruhig. »Sie hat sich freiwillig und aus Machthunger entschlossen, ihre Macht für das Böse zu nutzen. Sie hat sich selbst zu einem bösen Wesen gemacht, absichtlich, in vollem Wissen davon, was sie tat. Sie gehört so wenig zu uns wie zu euch.«
Caryellê wusste noch nicht, was sie von der Gruppe halten sollte.
Taidonis Gefolgsleute waren die ersten Dunklen, die sie persönlich traf – abgesehen von jenen erbärmlichen Kreaturen in den Kerkern der Weißen Wächter. Aber schon in ihrer Ausbildung war sie davor gewarnt worden, wie trickreich und verlogen die Wesen der Nacht sein konnten, wie mächtig ihre Täuschungen.
Warum ließen sie Cary, Stella und Terziel am Leben? Glaubten sie wirklich, dass die Wächter sie ins Herz des Sonnenlandes führen würden? Dass Cary ihnen die Geschichte abkaufen würde, oder Terziel, dessen tief empfundener Hass auf alles Dunkle schon beinahe eine Legende war?
Caryellê wurde nervös, denn sie wusste nicht, was die Kinder der Sonne planten.
Aber eines war klar: Eine Gruppe der Dunklen war auf dem Weg zum Herzen des hellen Reichs. Was würde geschehen, wenn sie bis zum Palast der Sonne kommen würden, vor den Thron von Königin Adiaramat? Cary musste ihre Königin unbedingt warnen. Nicht nur aus der Liebe heraus, die alle Bewohner der hellen Lande für ihre Königin empfanden, sondern weil Havinairies Adiaramat die wichtigste Person im ganzen Reich der Sonne war. Die Folgen, sollte ihr etwas zustoßen, mochten katastrophal werden.
Den ganzen Tag über entwickelte Cary Pläne. Sie musste fliehen, die Weißen Wächter erreichen und ihre Botschaft übermitteln. Plan um Plan verwarf sie. Die Kinder der Sonne waren wachsam. Außerdem war die Gruppe zusammengewürfelt aus den unterschiedlichsten Wesen. Caryellê wusste, wie man einen Werwolf täuschte, einem Vampir entkam und einen dunklen Magier besiegt, aber die Ausbildung hatte sie nicht darauf vorbereitet, gleichzeitig gegen diese zu kämpfen. Diese Kinder der Sonne waren in mehr als einer Hinsicht ungewöhnlich. Oder aber Carys Ausbilder wussten viel weniger über die Reiche der Finsternis als sie angegeben hatten.
Hinzu kam, dass Cary weder Stella noch Terziel im Stich lassen wollte. Bisher hatte Iljan Taidoni ihnen keinen Schaden zugefügt, doch möglicherweise würden die beiden im Falle von Caryellês Flucht den Zorn der Schattenwesen erdulden. Cary war zur Anführerin der Weißen Wächter geworden, weil sie eben wusste, in welchem Fall man rücksichtslos sein durfte, und wann nicht. Noch war die Bedrohung nicht so groß, dass sie ihr Reittier und den Engel zurücklassen würde.
Als es Abend wurde, hatte sie immer noch keinen Plan gefasst. Ihre Hoffnung ruhte im Moment darauf, dass die Gruppe unvorsichtiger war, als es bisher den Anschein hatte. Das helle Land wurde ständig von Patrouillen überwacht, und selbst den friedlichen Bewohnern sollte ihre Gruppe auffallen. Vielleicht würden die Dunklen schon in wenigen Tagen gefangen genommen werden, und bis dahin würde Caryellê ihnen keinen Grund bieten, aufmerksamer oder vorsichtiger zu sein.
Während das Lager aufgeschlagen wurde, band man Cary, Stella, Terziel und Gudrun an einen Baum nicht all zu weit von dem kleinen Feuer entfernt, dass der Drache entzündete. Cary beobachtete die verschlossenen Gesichter der schweigenden Gruppe. Der Nachtmahr Abarax geriet mit dem Zauberer Merkanto über die Verteilung der Vorräte in Streit. Cary erkannte darin eine weitere Chance für ihre eigene kleine Gruppe: Die Kinder der Sonne waren ein zusammengewürfelter Haufen. Was einerseits ihre Gefährlichkeit ausmachte, war auch ihr Schwachpunkt, denn die Mitglieder hielten nicht zusammen. Und Iljan war ein schwacher Anführer, der versuchte, die widersprüchlichen Interessen alle gleichzeitig zu erfüllen. Cary überlegte, ob sie geschickt genug wäre, um ein paar gezielte Keile in die Gruppe zu treiben. Möglicherweise wäre das sogar nicht mehr nötig. Sie würde sich gerne mit Stella und Terziel beraten, aber noch misstraute sie Gudrun. Was, wenn die gefangene Hexe nur eine Täuschung war, in Wahrheit ein Spion von Taidoni?
Sie lehnte sich an den Baum und schloss die müden Augen. Der Schlafmangel, der Kampf und die Wanderung forderten ihren Tribut, so groß ihre Sorge auch war. Noch vor dem Abendessen war sie eingeschlafen.