https://www.deviantart.com/ifritnox/art/684245639
Sie sprangen aus dem Fenster und huschten über eine karge Rasenfläche, die den Tempel umgab. Es war dunkel, die Sterne glitzerten über ihnen. Trotz ihrer gefährlichen Situation atmete Jackie die frische Bergluft tief ein und sah zu den Sternen hinauf.
»Sie sind so groß und hell hier«, murmelte sie in Gedanken versunken.
Auf dem ganzen Weg aus dem finstersten Herzen des dunklen Reiches bis hierher, an die Grenze zwischen Licht und Schatten, hatte sie gemerkt, wie die Sterne immer heller zu werden schienen. Trotzdem ging ihr bei jedem Blick in den Nachthimmel das Herz auf. Sie liebte die hellen Sterne, ihre Wege über das Himmelszelt, die Klarheit und Ruhe, die sie ausströmte, als wäre nichts, was auf dem Boden geschah, von Bedeutung.
Obwohl sie verstehen konnte, dass den meisten Wesen solche Gedanken Angst machen würden, fühlte Jackie sich durch ihre eigene Unbedeutsamkeit getröstet.
Sie zwang ihre Konzentration zurück auf die Flucht und folgte Iljan, der Najaxis stützte, über die trockene Wiese. Das Gras glitzerte vom Tau und war durchzogen von feinen Eiskristallen.
Iljan hatte sich an die Spitze gesetzt, aber bald ließ er sich zurück fallen. Jackie schloss zu ihm auf.
»Lass mich vorgehen«, sagte sie. »Ihr beide seid verletzt.«
Iljan nickte. Dann suchte er die Umgebung mit seinen dunklen Augen ab. »Kannst du Gudrun irgendwo erkennen? Sie müsste doch direkt vor uns sein!«
»Was willst du von dieser Verräterin?«, fragte Jackie und gab sich keine große Mühe, ihren Hass zu verbergen.
»Sie aufhalten«, meinte Iljan. »Was, wenn sie zu meinem Vater läuft?«
»Iljan«, sagte Jackie beschwörend, »wir sind im Reich der Sonne. Dein Vater kann uns hier nicht mehr erreichen. Wir sind ihm entkommen!«
Der Vampir zögerte einen Moment. »Hoffentlich hast du Recht«, murmelte er schließlich.
Als sie einen halbwegs geschützten Winkel entdeckten, ließ Iljan sie anhalten.
»Jackie, kannst du vielleicht den Weg erkunden?«, bat er.
Sie nickte. Der Gedanke war ihr ebenfalls gekommen, denn ihre Gruppe war nun wirklich nicht unauffällig. In einer dunklen Ecke legte Jackie ihre Kleidung ab, zitterte einen Moment in der Kälte und verwandelte sich dann.
In Gestalt einer schlanken, roten Hündin, die nur noch entfernt an einen Wolf erinnerte, trottete sie aus ihrer Ecke. Merkanto sammelte ihre Kleidung ein.
Iljan sah ihr tief in die Augen. »Pass auf dich auf, Jackie. Finde einen Weg nach unten, der sicher ist.«
Jackie blinzelte und sprang dann los, die angeschlagene Gruppe ein Stück hinter sich. Mit der Nase dicht am Boden suchte sie die Umgebung nach einem verräterischen Geruch oder einer Spur ab. Alles hier roch ungewohnt und gefährlich. Da war der weiße Stoff, aus dem die Kleidung der Mönche gewoben war, ihre Kräuter und Heilpflanzen und Tees, die ein dichtes, buntes Netz aus Gerüchen um den Tempel woben. Weiter entfernt roch es nach Kälte und feuchtem Gras, nach den unzähligen kleinen Bächen, die im ganzen schlafenden Dorf murmelten. Und noch etwas weiter konnte Jackie die Ausdünstungen von Bergziegen erahnen.
Sie lief zurück zum Dorf, denn ihr wurde schnell klar, dass die Bergklippen überall sonst zu steil wären, um herunter zu klettern. Der einzige Weg fort von Quellheim führte über die Hauptstraße.
Lautlos huschte sie durch die Schatten, roch die fremdartigen Bewohner dieser Stadt und deren Essen, roch die Feuer, die in den Häusern brannten und die Schlafenden warm hielten.
Sie roch so gut wie überhaupt kein Leder oder Fell. Dafür schien die Kleidung der Bewohner aus Stoffen gemacht, aus Pflanzenfasern, die Jackie nicht kannte.
An anderer Stelle kletterte Gudrun durch ein Fenster und fragte sich, ob sie den Verstand verloren hatte. Aus der Nacht heraus betrat sie den Tempel wieder, und zwar in der Absicht, Stella zu holen.
Das erbärmliche Wiehern des Einhorns erfüllte das ganze, große, weiße Gebäude. Gudrun hatte geglaubt, dass Gefühle wie Mitleid und Freundschaft längst hinter ihr lagen – umso erstaunter war sie davon, dass sie jetzt alles riskierte, um dem Einhorn zu helfen. Wenn man sie auf den Gängen entdeckte, wäre ihre Flucht gescheitert. Ihr altes, feiges Herz pochte laut in ihrer Brust, während sie durch die Gänge schlich, suchend, lauschend, schnüffelnd.
Die Geräusche wurden lauter. Bald fand sich Gudrun auf dem richtigen Gang wieder, ohne einer einzigen Wache begegnet zu sein. Als sie durch das Schlüsselloch einer der Türen spähte, entdeckte sie Stella im Inneren des Raumes. Sie lag völlig allein auf dem Boden.
Gudrun schloss daraus, dass Caryellê, Terziel und die Mönche sich zu einer Beratung zurückgezogen hatten. Die Hexe atmete ein letztes Mal tief durch, dann öffnete sie die Tür und trat ein.
Stella hob sofort den Kopf von dem Stroh, mit dem man den Boden des Raumes bedeckt hatte. Die Augen rollten wild in dem schmalen, weißen Pferdegesicht. Gudrun sah dunkle Schweißflecken, die Stellas reines Fell bedeckten.
Das Einhorn mühte sich, auf die Hufe zu kommen.
»Ruhig, ruhig«, sagte Gudrun und hob beide Hände. Ihre Stimme zitterte, trotzdem ließ Stella sich wieder sinken. Das Einhorn zuckte, Krämpfe liefen durch den eleganten Körper. Gudrun kam langsam näher.
»Ich bin gekommen, um dir zu helfen«, erklärte sie Stella mit leiser Stimme. »Du kannst die Verwandlung nicht rückgängig machen, aber ich kann dir helfen, es zu beherrschen.«
Das Einhorn sah Gudrun aus großen, dunklen Augen flehentlich an. Gudrun war erstaunt darüber, wie lang die Wimpern des Pferdes doch waren. Dann kniete sie sich vorsichtig neben Stella und berührte eine bebende Flanke. Das Einhorn strahlte Hitze aus, und die Berührung des Fells brannte an Gudruns Haut, als hätte sie in Säure gefasst.
»Gift«, murmelte sie leise und merkte, wie Stella noch mehr erzitterte.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versprach Gudrun dem Einhorn. »Hör zu, ich kann nicht hier bleiben. Die Kinder der Sonne sind geflohen – ich muss aber Iljan zurück zu seinem Vater bringen. Kannst du mit mir kommen, Stella? Ich werde dir helfen, das schwöre ich dir.«
Sie sah in die großen Augen des Einhorns. Dann geschah etwas, womit Gudrun nie gerechnet hätte: Stella sprach.
»Hilf mir!«, sagte das Einhorn mühsam, mit einer klangvollen Stimme, weiblich und melodiös. Gudrun wäre vor Schreck fast wieder aufgesprungen.
»Ich spüre, dass du einmal ein reines Herz hattest, dass es immer noch existiert. Hilf mir!«, sagte Stella.
Gudrun nickte und merkte, dass ihre Finger zitterten.
»Kannst … kannst du aufstehen?«
Lautlos huschten die Kinder der Sonne über eine schlanke Brücke, die sich über einen klaren Bach spannte. Endlich lag der gewundene Pfad nach unten vor ihnen, und damit die Freiheit!
Jackie sprang der Gruppe voraus, ein rötlicher Schemen im Licht der blauen Lampen. Iljan dagegen bildete die Nachhut. Immer wieder sah er wachsam nach hinten, doch wie durch ein Wunder wurden sie noch nicht verfolgt. Die Nacht unter dem unbeschreiblich klaren Sternenhimmel nahm sie auf, Werwölfin, Inkubus, Drache, Magier, Nachtmahr und Vampir.
Najaxis humpelte ein wenig, und auch Iljan spürte jetzt die Verletzungen, die Cary ihm zugefügt hatte. Doch er biss die Zähne zusammen. Bis sie außer Gefahr waren, musste er durchhalten und kämpfen. Danach konnte er sich um die Schnitte kümmern, die mit Knoblauchsaft betröpfelt waren. Bald, sobald sie in Sicherheit wären.
Iljan wirbelte herum, als er plötzlich Hufschlag vernahm. Er war sich sicher, dass es die Zentauren waren, die sich auf die Suche nach den flüchtigen Kindern der Sonne begeben hatten, oder – noch schlimmer – auf dem Rückweg waren und nun die Gefangenen entdeckten, von deren Flucht sie noch nichts gewusst hatten.
Sein Herz setzte einen Schlag aus, dann erkannte er, dass sich ihnen nur ein einzelnes pferdeartiges Tier näherte, noch dazu offenbar unsicher auf den Hufen. Es war ein schneeweißes Pferd mit einem gewundenen Horn mitten auf der Stirn, und neben ihm …
»Gudrun?«, entfuhr es Iljan.
»Du klingst überhaupt nicht glücklich darüber, mich zu sehen!«, sagte die Hexe mit dem ihr typischen, sarkastischen Lächeln.
Es stimmte. Iljan war tatsächlich nicht glücklich darüber, sie zu sehen. Er warf einen Blick zu den anderen, die vor Schreck erstarrt waren und sich jetzt langsam entspannten. Dann siegte seine Neugier.
»Warum hast du es dabei?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf Stella. Die Beine des Einhorns zitterten. Iljan war sich nicht sicher ob er sich vielleicht täuschte, aber es schien ganz, als würde dem schlanken Pferd Speichel aus dem Maul tropfen
Gudrun zuckte so lässig mit den Schultern, dass Iljan misstrauisch wurde.
»Ich dachte, sie könnte uns vielleicht nützlich werden.«
»Sie?«, wiederholte Iljan. »Sie wird uns Cary und Terziel auf den Hals hetzen! Das ist nicht die Zeit, um sich spontan mit den Guten zu verbrüdern, Gudrun!«
Ärgerlich wollte er sich umdrehen und die Hexe stehen lassen.
»Cary und Terziel?«, fragte Gudrun.
Iljan erstarrte. Langsam drehte er sich um.
»Du sprichst also schon von Cary, was?«, Gudruns Lächeln war in die Breite gewachsen und gab ihr das Aussehen einer Kröte. Selbstgefällig grinste sie ihn an. »Wie war das mit dem Verbrüdern? Iljan?«
»Gut, vergessen wir das«, knurrte er geschlagen. »Kommst du mit uns?«
»Mit dem größten Vergnügen!«, stimmte Gudrun in sein pflichtschuldiges Angebot ein. Während sie zu dritt zu den anderen aufschlossen, bemerkte Iljan die neugierigen Blicke der anderen auf sich ruhen. Jackie legte fragend den Kopf schief.
»Sie kommen mit«, sagte er. »Diplomatie.«
So ziemlich jedes Wesen der Nacht pflegte früher oder später Umgang mit den einflussreichen Vampirfamilien, deswegen genügte diese Erklärung. Ohne weitere Umstände folgten sie dem gewundenen Weg nach unten.
»Was?«, entfuhr es Caryellê.
»Sie sind geflohen«, wiederholte der kleine Mönch mit gesenktem Kopf. Terziel merkte, dass der Weißgewandete zitterte. Was Caryellê mit den gefangenen Dunklen angestellt hatte, hatte sich herumgesprochen. Terziel strich vorsichtig sein Gewand glatt. Im Kampf gegen das Böse war jedes Mittel recht, um das Land des Lichts zu schützen. Trotzdem machten Situationen wie diese deutlich, dass diese Aufgabe – diese Taten – ihn veränderten, genau wie sie Cary verändert hatten. Die weißen Wächter kämpften und töteten. Es war eine ehrenvolle Aufgabe, aber es war auch eine Schuld, die sie für immer von den gewöhnlichen Wesen des Lichts abtrennte. Die weißen Wächter bewanderten einen schmalen Grad - sie mussten achtgeben, damit sie nicht abstürzten.
»Holt Stella! Wir müssen sie verfolgen!«, rief Cary. »Wir hätten sie niemals ohne Aufsicht lassen sollen!«
»Das war wohl ihr verderbter Plan, als sie Stella Cantici vergiftet hatten«, sagte Terziel und rückte seine Waffen zurecht.
»Das Einhorn ist ebenfalls fort«, sagte der Mönch leise und sank noch etwas tiefer. »Sie wurde entführt, als wir bei der Abendandacht waren.«
Terziel konnte genau sehen, wie Cary sich auf die Lippen biss. Er konnte ihre Gefühle nachempfinden. Eine langjährige Freundin und alle Gefangenen verloren, weil die Mönche während der Andacht keine Wachen aufstellten, sondern alle zum gemeinsamen Gebet gingen. Für eine Kriegerin wie Cary eine schon fast persönliche Demütigung. Terziel trat vor und legte ihr eine Hand auf den Arm, um sie zu besänftigen. »Mit Stella werden sie langsam sein. Wir haben sie bald eingeholt, sogar ohne die Zentauren.«
Caryellê nickte. Sie brachte ein knappes Danke an den Mönch hervor.
»Auch für die Bereitstellung eurer Räume. Wir stehen in eurer Schuld«, fügte Terziel hinzu und entließ den Mönch mit einem sanften Nicken.
Cary hob ihren Waffengürtel auf und schnallte sich das Schwert um die Hüfte, den Bogen auf den Rücken und den langen Dolch ans Bein. Terziel, der sich niemals von seinem Breitschwert trennte, wartete geduldig.
»Du kommst mit mir?«, fragte Cary.
»Natürlich«, sagte er. Caryellê war seine Anführerin. Auch, wenn sich die Weißen Wächter wohl gerade an der Grenze neu formierten, war sein Platz an ihrer Seite.
Cary dankte ihm mit einem Blick. Sie wirkte erschöpft. Ohne weitere Worte, ohne sich einen Vorrat zuzulegen, brachen sie auf. Caryellê schlug ein schnelles Tempo an, als sie über die Wege von Quellheim liefen. Hinter der Brücke über den breitesten Fluss, an der Stelle, wo die Straße nach unten begann, hielten sie an.
»Dort«, sagte Cary und deutete nach unten. Ganz am Fuß der gewundenen Straße verließen mehrere Gestalten den Pfad.
Terziel spannte die weißen Flügel auf. »Holen wir sie uns!«
Unten hielten die Gestalten inne und sahen offenbar zu ihnen hinauf. Jedenfalls beschleunigten sie ihr Tempo daraufhin.
Cary legte Terziel eine Hand auf den Arm. »Wir sind zu wenige für einen offenen Kampf. Und dein Flügel ist noch verletzt. Wir laufen.«
Sie begab sich auf den Pfad nach unten und Terziel folgte ihr. Die Wiesen lagen weit und dunkel unter dem Sternenzelt vor ihnen, eingegrenzt durch die mächtigen Berge.
»Wir folgen ihnen wie die Wölfe«, hörte er Cary murmeln und spürte das Feuer in ihren Worten.
Sie nahmen die Fährte auf.