https://www.deviantart.com/ifritnox/art/689615757
Abarax reichte Iljan wortlos das Schwert, das er Terziel angenommen hatte. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Metall. Iljan hielt die Klinge so, dass das Licht sich auf ihr brach und in die Augen von Terziel und Cary fiel.
Die Elfe und der Engel saßen auf dem Boden, an den breiten Stamm einer einsamen Eiche gefesselt. Terziel zerrte ängstlich an den Seilen, die in seine Haut schnitten, Cary saß dagegen stolz und aufrecht. Sie erwiderte Iljans Blick scheinbar ungerührt.
Er konnte ihre Angst riechen.
Er ließ die Engelswaffe kreisen. Sie lag schwer und klobig in der Hand, ganz anders als Iljans Degen.
Dann ging er vor Caryellê in die Hocke. »Wo sind eure Freunde?«
»Welche Freunde?«, fragte Cary bissig.
»Du willst mir doch nicht erzählen, dass ihr uns zu zweit verfolgt. So dumm bist du nicht, Cary.«
Iljan beugte sich vor und berührte mit der Schwertspitze Carys Hals. Sie lehnte den Kopf nach hinten, bis er den Stamm der Eiche berührte, eine Sehne trat hervor, ihr Atem wurde flacher.
»Doch. Wir hatten keine Zeit, Verstärkung zu holen!«, sagte Cary. Ihr Blick glitt über die Klinge, zurück zu Iljans Augen. »Wir sind nur zu zweit.«
Jackie stieß ein humorloses, trockenes Lachen aus. Iljan zuckte leicht zusammen, denn Jackies Lachen klang etwas zu schrill. Sie war eben keine gute Schauspielerin.
»Zu zweit, dass ich nicht lache!«, verkündete die Werwölfin laut.
»Dann glaub mir nicht«, sagte Cary kalt. Ihr Blick war fest geworden – sie hatte die Angst überwunden. »Töte mich, Taidoni. Los, stich zu!«
»Erst will ich die Wahrheit wissen«, Iljan bleckte die spitzen Zähne. »Wo ist der Rest eurer Gruppe?«
»Es gibt keine Gruppe«, Cary spuckte aus. Iljan übte ein wenig Druck auf das Schwert aus und ritze die Elfe am Hals. Sofort trat Blut hervor. Iljan zog den Geruch tief ein. Warm und süß, mit einem seltsamen, vollmundigem Geruch unterlegt, einem exotischen Geruch.
Cary begann erneut zu zittern. Iljan wusste, dass seine Augen in der Dunkelheit rot aufleuchteten, gierig schimmerten.
»Wenn dir die Antworten nicht gefallen«, stieß Cary zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor, »solltest du vielleicht keine Fragen stellen!«
Iljan lachte leise und stand auf. Mit dem Rücken zu Cary strich er mit dem Finger über das Schwert, sammelte die winzigen Blutstropfen und führte den Finger zum Mund. Er leckte den Finger nicht ab, aber das sah Cary nicht. Das sahen nur die anderen Kinder der Sonne, Askook, Abarax, Najaxis, Jackie; sowie Stella und Gudrun, die alle einen Halbkreis um die Eiche gebildet hatten.
Als er sich umdrehte, wischte Iljan den Finger heimlich an der Hose ab.
»Du schmeckst gut«, lächelte er Cary an. »Bist leider keine Jungfrau mehr, aber so … störrisch. Es wird mir eine Freude sein, deinen Willen zu brechen, bevor ich dich verwandele.«
Caryellê versteifte sich. Iljan schämte sich einen Moment für sich selbst. Jedes Wort war gelogen, aber Cary konnte ja nicht wissen, dass Iljan sich an den hochtrabenden Reden seines Vaters versuchte. Cary glaubte ihm jedes Wort.
»Wenn du schon deine Freunde nicht verraten willst, wirst du uns eben anders helfen«, knurrte Iljan. »Du wirst uns sagen, wie wir ihnen entkommen. Du wirst uns zum Weißen Schloss führen, direkt in den Thronsaal eurer Königin.«
»Niemals!«, schrie Cary. Sie riss wieder an den Fesseln, aber die Dunklen waren sorgfältig gewesen. Sie konnte sich nicht rühren, konnte Iljan nur einen vernichtenden Blick zuwerfen. »Egal, wie lange du mich folterst – ich sage kein Wort!«
Najaxis grinste widerwärtig. »Wer redet denn von dir, meine Hübsche?«
Iljan nickte dem Inkubus zu und schlenderte dann auf Cary zu. »Er hat Recht. Ich werde dir nichts tun, Cary, werde dir kein Haar krümmen. Ich kenne doch deinen Schwachpunkt bereits.«
Damit stieß Iljan das Schwert nach vorne. Krachend bohrte sich die Spitze in den Stamm der Eiche. Cary konnte fühlen, wie der Stahl bis zum Herzen des Baumes vordrang und dessen Lebensader verletzte. Sie hörte den leisen Schrei der Pflanze. Und – deutlich näher – den Schrei von Terziel. Das Schwert hatte sein Ohr nur um ein winziges Stück verfehlt.
Iljan zog die Waffe aus dem Stamm und beugte sich über den Engel. »Sag mir, Engel … wie viele Federn brauchst du zum Fliegen? Wollen wir sie dir einzeln ausrupfen und sehen, ab wann du nicht mehr abheben kannst?«
Terziel wurde blass.
»Scher dich zur Hölle!«, spie er Iljan entgegen. »Exorcitamus –«
Der Engel konnte den Spruch nicht beenden. Iljans Hand traf ihn an der Wange, der Kopf des Engels prallte so heftig gegen den Baum, dass seine Wange zu bluten begann.
Terziels Blut war golden. Iljan verzog angewidert das Gesicht und ging auf Abstand, die Schwertspitze am ausgestreckten Arm zitterte jetzt eine Fingerbreite vor Terziels Auge.
»Aufhören!«, rief Cary.
»Dann rede, Elfe«, knurrte Iljan. »Verrate uns, wie wir diese Wiesen verlassen können. Wie wir den Zentauren und wer immer dir noch folgt, entkommen können.«
»Sag … nichts«, presste Terziel hervor, doch seine Stimme zitterte. »Egal, was sie tun … Cary … sag nichts!«
Cary starrte Iljan an, fixierte ihn mit ihrem finstersten Blick.
Iljan streckte den Arm ein wenig mehr. Terziel drehte den Kopf zur Seite und presste die Wange ans die Rinde.
Cary sah über die Versammelten, die Kinder der Sonne, die dem Treiben finster schweigend zusahen. Sogar Stella griff nicht ein. Das Einhorn stand neben der Hexe, bunt wie ein Regenbogen, offenbar durch irgendeinen Zauber dem Bösen Untertan gemacht.
Caryellê riss an den Fesseln und schwieg. Iljan lehnte sich weiter nach vorne. Die Schwertspitze berührte Terziels Haut, verursachte einen flachen Schnitt.
»Von der eigenen Waffe ermordet. Wie tragisch«, murmelte der Vampir. Terziel gab einen unterdrückten Schmerzlaut von sich.
»Es gibt einen Weg!«, platzte Cary heraus. »Es gibt einen Weg unter den Bergen!«
»Nein!«, brüllte Terziel und warf sich plötzlich nach vorne, direkt in das Schwert. Cary fuhr zusammen und schloss augenblicklich die Augen, um nicht zu sehen, was geschah.
Als sie die Augen wieder öffnete, hing Terziel schlaff an seinen Schultergelenken und Iljan war zurück getreten.
»Nein!«, brüllte sie auf. »Terziel!«
»Er lebt, Cary«, sagte Iljan trocken.
Schwer atmend sah sie genauer hin, und tatsächlich: Der Engel war unversehrt bis auf die Schnitte, die er zuvor erhalten hatte. Er keuchte als hätte er einen Dauerlauf hinter sich, die blonden Locken fielen ihm ins Gesicht. Langsam hob Terziel den Kopf: »Du bist verdammt schnell, Vampir!«
Iljan lächelte, indem er einen Mundwinkel nach oben zog. Dann sah er Cary an. »Du hattest einen Weg erwähnt?«
Sie warf Terziel einen letzten, schuldbewussten Blick zu. »Ja. Es gibt einen geheimen Zwergentunnel, der unter den Bergen hindurch führt.«
»Und wohin bringt uns dieser Weg?«
»Es gibt verschiedene Möglichkeiten«, erklärte Cary. »Der längste und sicherlich auch riskanteste Weg führt direkt nach Stokiq, das ist die Hauptstadt der Zwerge. Von dort müsste man nur noch die Klippen herunter und über die Ebene der Sonne, dann erreicht man den Berg des Lichts. Doch dieser Weg wird häufig benutzt, dort unerkannt zu reisen ist unwahrscheinlich. Der kürzere Tunnel führt unter Quellheim hindurch und vorbei an der Weißen Feste. Man kommt beim Wald der Seen heraus, und dorthin wolltet ihr, nicht wahr? Vom Wald der Seen ist es immer noch ein weiter und gefährlicher Weg, aber vielleicht nicht so riskant wie eine Reise durchs Herz des Zwergenreiches.«
»Cary«, seufzte Terziel halblaut.
Sie beachtete ihn nicht. Ja, sie hatte den Dunklen den Weg verraten, entgegen ihrem Schwur, niemals einem Bösen zu helfen. Aber sie war die Anführerin der Weißen Wächter, und sie hatte die Verantwortung für ihre Untergebenen.
»Kennst du den Weg?«, fragte Iljan.
Cary nickte. »Es ist lange her, dass ich dort war, aber ich werde den Weg finden.«
»Dann wirst du uns führen«, erklärte Iljan und steckte endlich das Schwert weg.
Der Mond kroch langsam über den Himmel. Trotzdem reisten sie weiter. Askook ächzte dumpf unter der Last der Vorräte. Jackie war voraus gelaufen, ein dunkler Schemen im Gras vor ihnen.
Gudrun humpelte an der Seite des Einhorns vorwärts. Stella war immer noch giftig, aber die grellen Farben verblassten langsam. Die Verwandlung klang ab.
Stella hob den Kopf, als spürte sie Gudruns Blick auf sich.
»Seltsam, dass ihr nur Späher nach vorne schickt und niemanden zurück. Ihr wisst, dass ihr nicht verfolgt werdet«, stellte sie fest.
Gudrun nickte. Es hatte keinen Zweck, das zu leugnen. »Wir haben gesehen, wie sich Terziel und Cary an die Verfolgung gemacht haben. Sie hatten keine Zeit, Verstärkung zu rufen.«
»Aber … wieso die Fragen?«, fragte Stella.
Gudrun seufzte leicht. »Du wirst das vielleicht nicht verstehen, aber wir sind verzweifelt. Irgendwann wird man nach euch dreien suchen, und unsere Mission gerät in Gefahr. Iljan musste Caryellê einschüchtern, und das war die einzige Möglichkeit, die er gesehen hat.«
Stella schüttelte die Mähne: »Das ist grausam.«
»Natürlich ist es das. Aber ich kann dir verraten, dass Iljan am meisten darunter leidet. Er ist ein Sensibelchen, schon immer gewesen. Sein Vater ist an ihm verzweifelt.«
»Sein Vater?«
»Nepumuk Aramis Andreji Taidoni«, erklärte die Hexe. »Der Graf Taidoni, falls dir das etwas sagt. Er ist der höchste Vampir und untersteht nur noch unserer Königin.«
»Der Name Taidoni ist in unseren Landen bekannt«, erwiderte Stella bitter.
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander. Gudrun warf einen Blick nach hinten. Dort stolperte Terziel vorwärts, bewacht von Abarax. Caryellê war der zweifelhaften Obhut von Najaxis übergeben worden. Offensichtlich war Iljan doch nachtragender, als er behauptete zu sein.
»Du bist in letzter Zeit sehr gesprächig«, meinte Gudrun schließlich.
Stella warf ihr einen Blick zu. »Nur dir gegenüber.«
»Ihr Einhörner redet nicht mit jedem, was?«
Stella schwieg einen Moment und ging einfach vorwärts. Gudrun fürchtete schon, dass sie zu weit gegangen war, dass sie irgendeine unbekannte Grenze überschritten hatte, doch da antwortete Stella schließlich: »Im Grund vermag jeder, unsere Stimmen zu hören. Doch die Sprache eines Einhorns ist … keine normale Sprache. Ich kommunizierte nicht über Schallwellen, sondern über Gedanken.«
»Ha! Also für einen Außenstehenden sieht es aus, als würde ich Selbstgespräche führen wie eine verrückte, alte Hexe?«, fragte Gudrun belustigt.
Stella verneinte mit einer belustigten Kopfbewegung. »Natürlich können sie mich hören. Es ist eine lautliche Kommunikation, aber ein Einhorn konzentriert sich dabei intensiv auf seinen Gesprächspartner, nimmt dessen Gedanken und Gefühle auf, -«
»Du wühlst in meinem Kopf herum?«, fragte Gudrun entsetzt. Ihre Fröhlichkeit war auf einen Schlag verschwunden.
»Es lässt sich nicht vermeiden, dass ich das eine oder andere erfahre«, gab Stella zu. »Deswegen reden Einhörner auch nicht mit jedem. Wir müssen dafür die Gedanken, die Psyche des Wesens berühren«, das Einhorn erschauerte, »und meistens stoßen andere Wesen uns ab.«
»Und ich stoße dich nicht ab?«, fragte Gudrun erstaunt.
»Ein wenig«, antwortete Stella ehrlich. »Aber ich habe gesehen, dass noch etwas Gutes in dir ist. Der Wunsch, zu helfen. Eine Vergangenheit im Licht. Ich … ehrlich gesagt, ich verstehe nicht, warum ich deine Gedanken ertragen kann.«
»Wie viel weißt du?«, fragte Gudrun. Sie wusste, dass die Angst sich in ihre Stimme geschlichen hatte. Ihr graute davor, das Stella alles wissen könnte.
»Ich kann keine Gedanken spüren«, sagte das Einhorn, »aber nicht lesen. Ich kann deine Gefühle sehen, und deine Geschichte, soweit, wie sie unterbewusst in deine Seele geschrieben ist und jeden deiner Gedanken beeinflusst.«
»Sehr poetisch«, brummte Gudrun.
Stella warf ihr einen Blick zu und schwieg. Dann sagte das Einhorn: »Ich erkenne deine Angst. Ich weiß nicht genau, wovor du dich fürchtest – dass ein Geheimnis ans Licht kommt, denke ich. Aber ich kann das Geheimnis nicht sehen, ich sehe nur, dass es ein trauriges Geheimnis ist, ein tragisches.«
Gudrun sagte eine Weile nichts. Dann sagte sie: »Danke.«
Askook vor ihnen stöhnte und beschwerte sich, dass sein Rücken bald brechen müsste.
»Vielleicht sollte ich ihm etwas abnehmen«, überlegte Stella.
»Ach, der hält das aus«, Gudrun winkte ab. »Hör nicht auf ihn. Außerdem, du bist noch giftig. Ich kann dich ja vielleicht berühren, weil ich mein Leben lang mit giftigen Substanzen zu tun hatte. Aber wenn du unsere Nahrungsmittel trägst, kann man die nicht mehr essen!«
Stella senkte den Kopf. Gudruns Intention – das Einhorn aufzuheitern – war nach hinten losgegangen. Sie legte eine Hand auf das grünliche Fell an der Schulter des Einhorns. »Die Verwandlung wird nur noch ein paar Tage anhalten. Sieh mal, du wirst schon blasser.«
Stella schnaubte. »Hoffentlich!«
Gudrun grinste breit. »Ich weiß, wovon ich rede!«
Stella warf ihr einen langen Blick zu. So lange, dass Gudrun begann, sich unwohl zu winden, an ihrer Kleidung zu zupfen und die Hände gegen den kalten Wind in die Achselhöhlen zu klemmen.
»Erinnerst du dich an gestern Nacht, als Cary und Terziel angegriffen haben?«, fragte Stella.
»Natürlich«, meinte Gudrun.
»Ich habe Cary aufgehalten«, erinnerte sie das Einhorn.
»Mit so einer Art Zauberspruch, richtig?«, fragte Gudrun. »Du hattest sie irgendwie genannt, in einer fremden Sprache …«
»Latein«, erklärte Stella. »Die Sprache der Mächtigen. Sowohl hier als auch in deinem Land.«
Gudrun nickte und schwieg. Sie spürte, dass Stella auf etwas hinaus wollte, dass das Einhorn unsicher war.
»Es war Carys Name in Latein«, sagte Stella zögernd. »Wir vergeben jedem, mit dem wir reden, einen solchen Namen. Einen, der die Persönlichkeit des Wesens widerspiegelt.«
Gudrun schwieg.
»Bisher«, fuhr Stella fort, »hat noch kein Wesen der dunklen Seite einen solchen Namen bekommen – aus den offensichtlichen Gründen.«
Gudrun schluckte und schwieg.
»Dein Name ist Aelinos«, sagte Stella feierlich.
»Was bedeutet das?«, fragte Gudrun mit rauer Stimme.
»Das ist der Name deiner Seele. Übersetzt bedeutet er das, was dich ausmacht: Dein Leben, deine Gedanken, alles.« Das Einhorn betrachtete Gudrun aus goldenen Augen. Sie hatten ihre ursprüngliche Farbe zurück – die Verwandlung würde bald verschwinden.
Gudrun brachte nicht einmal ein Danke heraus, sie schwieg einfach weiter. Ihr war klar, dass sie eine seltene, unverdiente Ehre erhalten hatte.
Sie wusste, dass sie Stellas Vertrauen enttäuschen würde.