https://www.deviantart.com/ifritnox/art/696702112
Terziel befand sich in der Hölle.
Die Arbeit ging mühsam voran. Abarax' Lied wurde eintönig, sie sangen es stundenlang, wieder und wieder, aus trockenen, wunden Kehlen. Längst war der Engel des Textes überdrüssig, wollte und konnte es nicht mehr hören. Aber sie brauchten den Rhythmus, regelmäßig wie ein schlagendes Herz, sonst würden sie einfach über den Spitzhacken zusammenbrechen.
Inzwischen befand sich Terziel in einem Zustand der Erschöpfung, der ihn bei den endlosen Wiederholungen ins Taumel geraten ließ. Unkonzentriert schlug der Engel wieder und wieder auf den Stein ein, verhaspelte sich in den Worten, die er doch eigentlich schon zur Genüge kannte, verlor den eintönigen Rhythmus, vergaß manchmal für einen Moment, wo er sich befand, wer er war, warum er an der Seite eines Nachtmahrs schuftete.
Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als etwas die Hölle unterbrach: Eine Stimme von oben.
Licht drang in die kleine Höhle, flackernder Fackelschein. In einer viereckigen Öffnung an der Decke der Höhle war ein bärtiges Gesicht aufgetaucht, ein Zwerg mit einer Grubenlampe.
Wenig später quietschte der Flaschenaufzug, eine eilige, provisorische Konstruktion. Es war Kaymurk, der nun nach unten gefahren kam. Die Gefangenen legten die Werkzeuge aus den blutigen Händen.
»Wie weit seid ihr?«, fragte Kaymurk, als der Aufzug kurz über dem Boden zum Stehen kam. Er beleuchtete den Berg Gold mit der Lampe in der erhobenen Hand, runzelte die Stirn kritisch.
»Wir würden gerne den ersten freikaufen«, sagte Iljan, der auf den Zwerg zutrat und sich Staub von der blassen Stirn wischte.
»Hat ja auch lange genug gedauert«, brummte Kaymurk. »Ihr dürft eine Pause einlegen, allesamt. Ihr bekommt Wasser und Brot.«
Sie drängten sich um den Aufzug, der in seiner erhöhten Position erstarrt war. Die Höhe mochte eine Schutzvorrichtung sein, vielleicht, damit sie den Aufzug nicht zu kapern versuchten. Kaymurk warf ihnen Trinkschläuche und mit Papier umwickeltes Brot herunter.
Gierig stürzten sie sich darauf, riskierten Leib und Leben, um die Nahrung vor der allgegenwärtigen Lava zu bewahren. Als Terziel den Schlauch an die Lippen setzte, als ihm das Wasser durch die Kehle rann, glaubte er, von einem Eisblock durchspült zu werden. Die Hitze in der Höhle war schon aus seinem Bewusstsein verschwunden, zu etwas Banalem verblasst. Jetzt drängten der trockene Hals, die aufgerissenen Lippen, der Kopfschmerz sich mit Gewalt ins Bewusstsein. Terziel war völlig ausgetrocknet, einem äußerst unschönen Tode nah. Den anderen musste es ähnlich gehen, selbst dem Vampir, selbst dem Feuerdrachen.
Die ersten versuchten, über einen Trinkschlauch in einen wilden Kampf auszubrechen. Askook schob die rote Pranke über den Wasserschlauch, zog das kostbare Gut zu sich. Najaxis heulte vor Wut auf: »Du hattest bereits einen Schlauch, du Gierschlund! Gib mir mein Wasser!«
»Du hattest auch schon einen Schlauch, und ich bin deutlich größer als du!«, gab Askook mit gefährlichem Grollen zurück. »Ich brauche mehr Wasser!«
»Du bist doch gleich sowieso draußen!«, warf ihm Najaxis entgegen. »Ich habe mir die Hände wund geschuftet, damit du nach draußen kannst, ausgerechnet du, der die Hitze am Besten abkann!«
In diesem Moment war Iljan heran, erschien einfach zwischen den Streitenden, als sei er aus dem Boden gewachsen.
»Ruhig, beide!«, zischte der Vampir. »Askook, gib den Wasserschlauch her. Na los, auf der Stelle.«
Der Drache fletschte die Zähne. »Auf keinen Fall! Du gibst ihn nur diesem missratenen Elfen!«
»Werde ich nicht«, sagte Iljan heftiger, weil er sich bückte und dem Drachen den Trinkschlauch mit einer blitzschnellen Bewegung entzog. Askook brüllte. Vor den entsetzten Augen der anderen, die den Streit nur verfolgen konnten, machte Askook einen Sprung auf Iljan zu.
Er hatte die Wut des Drachen unterschätzt.
Iljan wich der roten Schnauze aus, nicht ohne Mühe. Es kostete ihn Kraft, sich mit der vampirischen Geschwindigkeit zu bewegen, schneller als ein Auge sehen konnte. Er hatte nicht mehr viel Kraft übrig. Trotzdem spannte er sich noch einmal, ballte die Hand zur Faust und erwartete Askook, der ein weiteres Mal nach ihm schnappte.
Die weiße Faust traf donnernd auf die Drachenschnauze. So heftig, dass Askook ein ganzes Stück über den Boden schlitterte, so heftig, dass Iljans Haut aufplatzte und schwarzes Blut hervorquoll. Er atmete heftig. Askook schüttelte den Schädel, stand auf, stolperte und setzte sich unsanft auf das Hinterteil.
Kaymurk, der die Szene von oben beobachtet hatte, applaudierte lakonisch. »Wunderbare Vorstellung, Vampir. Und nun?«
Iljan fauchte leise. Er reichte Najaxis den Trinkschlauch. »Trink. Die Hälfe. Ein Tropfen mehr und -«, er brachte den Satz nicht zu Ende. Er spürte, wie sich in seinem Inneren etwas Dunkles rührte, ein gefährlicher, blutrünstiger Wahnsinn. Iljan stand kurz davor, die Kontrolle zu verlieren, innerlich zitterte er vor Wut, die Erschöpfung machte Selbstbeherrschung schwierig.
Najaxis begriff. Der Inkubus trank, hastig, gierig, beherrschte sich dann und gab Iljan den Trinkschlauch zurück. Der Vampir warf das Wasser herüber zu Askook und verbiss sich mit aller Macht eine bösartige Bemerkung. Der Schlauch landete vor Askook auf dem Stein. Der Drache zögerte, stürzte sich dann nach vorne.
Alle Blicke ruhten auf Iljan. Er fühlte sich schlecht, er wusste, er hatte den anderen Angst gemacht. Er würde sich bei Askook entschuldigen müssen. Später, entschied er. Im Moment wäre jede Entschuldigung unaufrichtig.
Kaymurk, noch immer über ihnen hängend, räusperte sich. Die Plattform pendelte an ihren Seilen leicht hin und her.
»Was willst du noch?«, fragte Iljan gereizt.
»Ich bin gekommen, um eure freigekauften Freunde mit hochzunehmen«, rief ihnen Kaymurk in Erinnerung. »Und außerdem euch drei: Elfe, Engel und Einhorn. Die Mönche von Quellheim haben offenbar eure Geschichte bestätigt. Ihr seid frei.«
Überrascht sahen die Kinder der Sonne zu den Weißen Wächtern herüber. Die drei wirkten ebenso überrumpelt.
Es schloss sich eine unangenehme Stille an, während derer die Gefangenen der Zwerge erst einmal rekapitulieren mussten, wer auf welche Seite der Grenze gehörte. Die Arbeit im Bergwerk hatte diese Grenze verschwimmen lassen, leider nur für eine Weile, wie sich zeigte.
Caryellê, Terziel und Stella traten von den Kindern der Sonne fort. Kaymurk lächelte sie an. Er warf ihnen ein Bündel zu: »Eure Waffen.«
Cary und Terziel fanden Bogen und Schwert in dem Bündel vor und rüsteten sich erfreut aus.
Der Zwerg war ihnen gegenüber wie ausgetauscht: »Uns ist ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Ich hoffe, ihr werdet es uns vergeben können. Vergeben und vergessen, was hier vorgefallen ist.«
»Und unsere Gefangenen?«, fragte Caryellê.
»Sind offensichtlich gefährlicher, als ihr glaubtet«, sagte Kaymurk. »Vielleicht solltet ihr sie lieber in unserer Obhut lassen.«
Es war Caryellê zugute zu halten, dass sie zögerte. Einen Moment. »Gut.«
Kaymurk nickte. »Sehr schön. Wir beginnen mit dem Drachen. Danach holen wir euch drei.«
Askook, der bis eben seine Schnauze betastet hatte, sah auf. Iljan knirschte nur sehr leise mit den Zähnen, als die Platform sich senkte und Askook unter den misstrauischen Augen Kaymurks hinaufstieg.
Iljan zwang sich zur Ruhe. Askook als ersten hinauf zu schicken, war eine diplomatische Entscheidung gewesen. Als nächstes wäre Stella dran gewesen – alle anderen waren deutlich leichter, was die Arbeitsmoral der Gefangenen deutlich erhöht hätte.
Schwankend erhob sich die Platform in die Höhe. Die Zurückbleibenden sahen ihr nach.
Es ging langsam vonstatten.
»Das war dann wohl das Ende unserer Reise«, ergriff Najaxis das Wort und lächelte Cary an. »Ich werde dich vermissen, schöne Elfe!«
Cary zog einen Mundwinkel nach oben. Es mochte eine angewiderte Geste, allerdings auch ein Lächeln sein. »Ich werde dich nicht vergessen, Dämon.«
Najaxis grinste und sah in die Runde. »Sie liebt mich!«
Ein paar lachten müde. Terziel machte eine Bewegung, als wolle er ein Schwert ziehen, legte die Hand dann nur auf den Griff.
»Es wäre so oder so das Ende gewesen«, zischte der Engel stattdessen. »Ihr hättet euch gerettet und uns hier sterben lassen!«
»Hätten wir nicht«, meldete sich überraschend Abarax zu Wort. »Wir sind nach Gewicht gegangen. Das Einhorn wäre als nächstes frei gewesen.«
Iljan nickte bestätigend.
»Und danach du, Engel«, grinste Abarax dreckig. »Danach du.«
Terziel schnaubte, hielt es aber wohl für unter seiner Würde, darauf einzugehen.
Askook schlug die Klauen tief in die Holzbretter. Um ihn her wurde es dunkler, als die Lava unter ihm zurück blieb. Schwankend schwebte der Lift empor. Askook bekam Höhenangst, weil er selbst keine Kontrolle über die Höhe hatte. Natürlich hätte er das niemals zugegeben. So knirschte er nur unter dem Maulkorb mit den Zähnen.
Er war froh, den Steinbruch endlich verlassen zu können. Seine Schnauze schmerzte von Iljans Schlag. Seien Augen juckten vom Staub und seine Krallen waren abgesplittert davon, dass er sie statt Spitzhacke verwendet hatte.
Schließlich konnte er den Kopf durch die Öffnung heben und sah nun aus dem Boden der riesigen Höhle heraus, irgendwo mitten auf einem Weg zwischen den Lavaseen hindurch. Die große Höhle war verlassen, vermutlich war bereits eine neue Zwergenschicht vergangen, dass dies immer noch der gleiche Abend – oder die gleiche größere Pause – war, in der sie hinab geschickt worden waren, bezweifelte Askook erheblich.
Auf einer Brücke aus Stein stand Kanmack. Neben ihm befand sich Torkan, die Armbrust gespannt.
Askook runzelte die Stirn, als die Zwergin die Armbrust auf Schulterhöhe hob. Er klappte das Maul auf, so weit der Maulkorb es erlaubte. Die Sehne der Armbrust sang, der Bolzen pfiff.
Askook begann ein Brüllen. Er brachte es nicht zu Ende.
Der seltsame, abgehackte Schrei hallte in der Tiefe wider. Der spielerische Abschiedston, der Verwirrung, Hass und Trauer überdecken sollte, wich einer Stille, wie man sie von Begräbnissen kannte.
»Was ist da passiert?«, fragte Jackie. Die Werwölfin war blass geworden. Cary sah zu Terziel hinüber, erkannte, dass der Engel genau wie sie die Wahrheit wusste.
Den Kindern der Sonne dämmerte es langsamer.
»Sie haben ihn erschossen!«, flüsterte Merkanto. »Sie haben Askook kaltblütig ermordet! Aber sie hatten ihr Wort gegeben!«
Die dunklen Wesen wurden so blass wie der Vampir Iljan. Cary spürte, wie etwas nach ihrem Herz griff, eine eisig kalte Hand, die die Hitze in der Höhle verdrängte.
»Haben sie wirklich … ?«, fragte Najaxis.
Jackie kauerte sich auf den Boden, schlang die Arme um die Schultern und nickte. Cary erinnerte sich daran, wie gut die Nase eines Werwolfs war. Für einen Moment hatte sie in Jackie bloß ein Mädchen gesehen, ein verängstigtes Kind.
Unprofessionell!, schalt sie sich selbst. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Iljan plötzlich einen furchtbaren, unmenschlichen Schrei ausstieß, einen von der Art, die tief, tief aus dem Bauch nach außen brachen, die alles offenbarten, was sich im Inneren befunden hatte.
»Nein!«, schrie Iljan gellend, fiel nach vorne auf die Knie, das Gesicht zur Decke gewandt. Seine Reißzähne blitzen, die weißen Hände ballten sich zuckend zu Fäusten.
Cary betrachtete ihn, sah, wie der Vampir, der Blutsauger, der Schrecken aller mondlosen Nächte, zusammenbrach, über dem Tod des Gefährten verzweifelte.
Und traf eine Entscheidung, die sie im Grunde schon lange getroffen hatte.
Mit einer einzigen, fließenden Bewegung spannte sie den Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne, dessen Spitze zitternd zu dem Loch in der Decke wies.
»Caryellê!«, schrie Terziel auf. »Was tust du?«
»Ich wechsele die Seiten«, sagte Cary ruhig, zielte mit dem Auge über dem Bogenschaft, die Federn an der Wange. Ihre Füße presste sie fest an den Boden, richtete den Rücken auf, hob den Ellbogen der spannenden Hand ein Stück, streckte den Finger neben der Pfeilspitze.
Terziel griff ihr in die Sehne. »Was tust du?«, wiederholte er. »Du schlägst dich auf ihre Seite, auf die Seite von Monstern? Du hattest geschworen, die Lichtlande vor ihnen zu beschützen! Was ist mit deinem Schwur, Caryellê? Was ist mit deiner Legende, deinem Verlobten, der Blutrache …?«
»Es gab niemals eine Legende«, fauchte Cary und stieß den Engel heftig weg. »Meine Laufbahn als Wächterin ist vorüber, war eine Enttäuschung. Ich zwinge dich nicht, mir zu folgen. Wenn du hier raus kommst, dann geh, Terziel. Ich habe meine Entscheidung getroffen.«
Der Engel stolperte, landete auf dem Boden. Er sah zu ihr auf, mit einem verletzten Ausdruck im Gesicht.
Er hat mich bewundert, erkannte Cary. Für ihn war ich eine Sagengestalt, unantastbar, unerreichbar. Ich habe ihm diese Illusion genommen. Grausam. Brutal.
Sie zielte wieder nach oben, wo sich der schwache Lichtschein der Fackel zeigte. Kaymurk erschien, um den Lift ein weiteres Mal nach unten zu führen.
Der Pfeil schnellte von der Sehne, sang während des Flugs leise und melodisch, was der besonderen Form der Federn geschuldet war.
Der Schatten von Kaymurk gab einen erstickten Laut von sich, dann stürzte er nach hinten.
»Sie sind die Monster«, sagte Cary mit rauer Stimme. »Sie sind die wahren Monster.«