https://www.deviantart.com/ifritnox/art/699323239
Irgendwann waren die Karren zu einem Halt gekommen. Fast drei Tage lang waren sie auf den Schienen gefahren, beständig bergab, obwohl die Neigung immer flacher geworden war.
Nun hatten sie das Ende erreicht, eine große Halle, in der sich Steine und Holzkisten türmten: Ein Lager, beliefert mit dem, was die Zwerge aus dem Berg schürften und in ihren Schmieden fertigten.
Im Lager selbst war niemand, obwohl Jackie vermutete, dass der Eingang, irgendwo am oberen Ende eines handbetriebenen Aufzugs, mit Wachen besetzt sein würde.
Es kostete sie alle Willenskraft, den Karren zu verlassen. Ihr Körper schmerzte. Sie hatte die letzten Tage in einem Dämmerzustand verbracht, nicht wach und auch nicht schlafend.
Sie stellte fest, dass sie immer noch keine Kleidung trug. Sie zitterte in der Kälte. Ihre Haut war schwarz von Qualm und Staub, übersät mit Schrammen.
Sie schlang die Arme um die Brust und versuchte, nicht mit den Zähnen zu klappern.
Alle anderen waren ebenfalls erschöpft. Die Reise im Karren war unbequem gewesen, sie hatten sich nicht erholen können. Während sie mit steifen Beinen vorwärts ging, wünschte sich Jackie ein warmes Bett, aus dem sie nie, nie, nie wieder aufstehen musste. Aller Kampfgeist war erloschen. Am liebsten würde sie einfach stehen bleiben.
Iljan verteilte das letzte bisschen Wasser aus ihren Vorräten. Sie hatten nur wenig bei ihrer Flucht retten können, aber Terziel war so geistesgegenwärtig gewesen, ihre Waffen und ein wenig Wasser mitzunehmen.
Iljan kam zu Jackie. Er trug einen provisorischen Verband um den Arm, einen breiten Stofffetzen von Merkantos Robe. Jetzt reichte er Jackie etwas.
»Mein Hemd!«, erkannte sie und griff danach.
Iljan half ihr, das Hemd überzuziehen. Jackies Bewegungen waren steif und ungeschickt, wie bei einem Kind.
Iljan hatte auch ihre Hose eingepackt, und den grünen Stoff, den Jackie für alle Fälle in den Hosenbund gestopft trug, weil man nach einer Verwandlung manchmal nur Zeit hatte, sich eine Decke über zu werfen.
»Danke«, sagte sie zu Iljan, der nicht reagierte.
Sie ließen sich Zeit. Streckten die steifen Beine, versuchten, die Müdigkeit abzuschütteln, neuen Mut zu fassen.
Dann kletterten sie in den Aufzug, der mit einer kleinen Kurbel bedient werden musste.
»Wo sind wir?«, fragte Jackie leise. Abarax kurbelte.
»Unter Greifenfels«, erklärte Caryellê. »Das hier ist das Lager der Weißen Wächter, beziehungsweise eines der kleineren, äußeren Lager.«
»Schöne Scheiße«, kommentierte Najaxis. »Wir sind also vom Regen in die Traufe geraten?«
Cary schüttelte den Kopf. »Es sollte nur wenige Wachen geben. Wir können in einem Tagesmarsch draußen sein, und dann ist es nicht mehr weit bis zum Wald der Seen.«
Sie schwiegen. Die Kurbel quietschte leise. Diverse Seile und Drehpunkte lenkten das Gewicht im Aufzug so um, dass an der Kurbel kaum Kraft aufgewendet werden musste.
Jackie schloss die Augen. Die nächsten Wachen besiegen. Eine weitere schnelle Flucht, damit man sie nicht vor dem Wald der Seen abfing. Und dann würde hoffentlich endlich Zeit für eine Pause sein, eine dringend nötige Atempause.
Der Aufzug brachte sie in einen düsteren, schlecht beleuchteten Gang, an dessen Ende sich eine große Doppeltür aus Holz befand, die geschickte Handwerker in den Stein eingeschlossen hatten. Ein beinahe unüberwindliches Hindernis – hätte die Tür nicht offen gestanden.
Die Kinder der Sonne, Cary, Stella und Terziel traten durch die Türöffnung. Es war niemand zu sehen. Ein kurzer Tunnel führte sie auf den breiten Hauptweg, den sie inzwischen erkannten.
Iljan bedeutete den anderen plötzlich, stehen zu bleiben. Der Vampir schnupperte.
»Wer ist da?«, fragte er dann laut.
»Ich hätte mehr von dir erwartet«, sagte eine vertraute Stimme. Sie drehten sich um und Jackie erblickte Gudrun, die auf einem erhöhten Felssims saß und mit den Beinen baumelte.
»Gudrun«, sagte Iljan und man hörte förmlich, wie er mit den Zähnen knirschte.
»Deine Nase lässt echt nach. Habt ihr es alle geschafft?«, fragte Gudrun im Plauderton. Ihr Blick wanderte über die Gruppe und zum ersten Mal wich das höhnische Grinsen aus ihrem Gesicht. »Wo ist Askook?«
»Tot«, gab Iljan knapp an. »Was willst du?«
»Ich muss doch auf dich aufpassen«, sagte Gudrun und sprang von dem Felssims, schon wieder bester Laune. »Hab's geschworen. Deswegen bin ich vorausgefahren und hab hier ein bisschen aufgeräumt.«
»Wusstest du etwa, was passiert?«, fragte jetzt Jackie und drängte sich nach vorne, die Hände zu Fäusten geballt. »Und du hast uns nicht gewarnt?«
»Ich beherrsche die Kunst des Wahrsagens, natürlich wusste ich Bescheid«, Gudrun feixte. »Deswegen wusste ich ja, dass ihr entkommen würdet. Naja, fast alle.«
»Scher dich weg!«, fauchte Iljan. »Deinetwegen ist Askook tot! Wag es nicht, mir unter die Augen zu treten!«
»Na, na, Iljan«, sagte Gudrun unbeeindruckt. »Du würdest doch niemanden weg schicken, der euch den sichersten Weg zum Wald der Seen zeigen kann, oder?«
Iljans Blick war voller Hass. »Du bist eine Verräterin, Gudrun, sonst nichts.«
»Ja, das vielleicht schon. Aber ihr braucht mich«, Gudrun schlenderte herüber und schulterte eine Tasche, die in einer Ecke gestanden hatte. Jackie hörte Glas klirren.
»Also, was ist? Kommt ihr? Oder wollt ihr darauf warten, dass die Weißen Wächter vorbei kommen?«
Iljan drehte sich zu der Gruppe um, die erschöpft hinter ihm stand. Wortlos ersuchte Iljan sie um ihre Meinung.
Jackie zuckte mit den Schultern. Ihr war alles egal. Über Gudrun konnte man auch später noch abstimmen, wenn sie in Sicherheit waren.
Stella schnaubte. »Gudrun muss bleiben.«
Die anderen widersprachen nicht.
Iljan seufzte. »Geh. Wir folgen.«
Sie schleppten sich durch lange Tunnel, vorbei an rußenden Fackeln, an Abzweigungen, die wie klaffende Mäuler erschienen.
Gudrun hielt ihr Versprechen. Sie begegneten niemandem. Schließlich legten sie eine Pause ein, in einer der vielen Seitenhöhlen, die wie immer mit Wasser und einer Kohlegrube ausgestattet waren. Jackie rollte sich direkt auf dem Boden zusammen und schloss die Augen. Die Müdigkeit übermannte sie, war sogar größer als der Hunger.
Es dauerte nicht lange, da schliefen sie alle tief und fest, traumlos oder von Alpträumen geplagt. Sie erwachten am nächsten Tag von dem Geruch bratenden Fleisches.
»Na, Schlafmützen?«, rief die Hexe fröhlich und zeigte beim Grinsen die krummen, gelben Zähne.
Das brutzelnde Fleisch hatte sie zur beliebtesten Person in der kleinen Kaserne gemacht. Sie fühlte sich wie eine Glucke, umkreist von ihren Küken, während die Kinder der Sonne sich um die Kohlenpfanne versammelten. Auch Stella, Cary und Terziel kamen näher. Was immer im Berg der Zwerge vorgefallen war, es hatte die feste Grenze zwischen Kindern der Sonne und Weißen Wächtern aufgelöst. Man merkte es schon daran, dass keine der beiden Seiten Fesseln trug.
»Hast du auch was, was nicht aus Fleisch ist?«, fragte der Engel leise und wich ihrem Blick aus.
»Nee, wieso?«, fragte Gudrun. »Willst du etwa kein Fleisch?«
»Was soll's?«, Terziel zuckte mit den Schultern: »Gib her.«
Gudrun verteilte das Essen. Niemand würdigte ihre Kochkünste, sie verschlangen das Fleisch gierig wie die Tiere. Gudrun knabberte deutlich langsamer an ihrem Steak. Sie hatte es mit Rosmarin und ein paar Preiselbeeren gewürzt, und sich sehr viel Mühe gegeben, damit das Fleisch noch leicht blutig war, aber der Rand bereits dunkel und krustig.
Iljan seufzte: »Das war ja noch blutig!«
Gudrun nickte, obwohl sie sich etwas mehr Lob erhofft hatte.
»Brauchst du noch mehr?«, fragte Jackie mit einem Blick auf Iljans Wunde, die wirklich abartig tief aussah.
Iljan nickte schweigend und stand auf. Jackie, ihren Ärmel hochkrempelnd, folgte ihm aus der Kammer in den Gang hinaus.
Aus irgendeinem Grund behandelte Iljan das Bluttrinken als etwas privates, trank eigentlich nie in der Öffentlichkeit, ganz anders als sein Vater Nepumuk. Gudrun hatte nie verstanden, woher Iljan diese Scheu nahm. Sie hatte ihn noch als kleinen Vampir erlebt, als er nichts, was sein Vater sagte, angezweifelt hatte.
Stella hielt sich am Rand der Gruppe und betrachtete das Fleisch aus dunklen Augen. Gudrun war sich nicht sicher, wie lange ein Einhorn ohne Essen überleben konnte – sie hatte jedenfalls nie gehört, dass eines verhungert wäre.
Trotzdem hatte sie sich einen Sack Getreide verschafft, den sie vor Stella auf den Boden fallen ließ.
»Ich weiß nicht – kannst du das essen?«
Stella senkte den Kopf mit einer eleganten Bewegung. »Das wäre nicht nötig gewesen! Wir sind doch bald draußen«, sie senkte die Schnauze in das Getreide.
Gudrun zuckte mit den Schultern. »Wenn man es so sieht, hätte ich auch für die anderen nichts braten müssen.«
»Du hast an alle gedacht«, Stellas goldenen Augen ruhten auf Gudrun. »Ich wusste ja, dass du ein gutes Herz hast.«
Gudrun winkte ab. »Ich reise einfach lieber mit Gefährten, die satt und gut gelaunt sind.«
Stella schüttelte die Mähne auf eine Art, die Gudrun stark an ein resigniertes Kopfschütteln erinnerte, als wolle das Einhorn sagen: »Wie du meinst!«
Gudrun hörte Caryellê nur deshalb kommen, weil ihre Ohren an die leisen Schritte von Vampiren gewöhnt waren. Sie drehte sich um, als die Elfe schon fast hinter ihr stand.
»Geht es dir gut, Stella?«, war das erste, was Cary sagte. Das Einhorn nickte schnaubend.
»Sie hatte noch eine Verwandlung«, erklärte Cary dann an Gudrun gewandt.
»Wirklich? In was?«, fragte die Hexe.
»Feuer«, antwortete Cary und Gudrun sah in ihren dunklen Augen etwas aufblitzen, das Furcht hätte sein können.
»Ein Feuereinhorn«, murmelte sie nachdenklich. »Das muss beeindruckend gewesen sein.«
Cary nickte schweigend. »Wird das häufiger geschehen?«
»Es gehört jetzt zu Stellas Wesen«, meinte Gudrun. »Sie ist nicht mehr bloß ein Einhorn. Ihr müsst euch daran gewöhnen.« Der letzte Satz war etwas schärfer, denn Gudrun war durchaus aufgefallen, dass sich Cary und Terziel in letzter Zeit von dem Einhorn fernhielten, als würde Stella ein schlechter Geruch anhängen.
Cary hörte den Unterton heraus und bedachte Gudrun mit einem hochmütigen Blick, bevor sie davon stolzierte.
Gudrun seufzte. »Man sollte meinen, gemeinsam die Gefangenen dieses verrückten Vampirs gewesen zu sein, müsste uns für immer zu Freundinnen machen!«
Stella hob den Kopf aus dem Getreidesack. »Gib ihr etwas Zeit. Cary macht gerade einiges durch.«
»Das machen wir alle«, brummte Gudrun. »Und ich stolziere nicht arrogant durch die Gegend!«
»Du hast ja auch nicht alle Prinzipien verraten, die du dir gesetzt hast«, kommentierte Stella und senkte den schmalen Kopf wieder, um weiter zu kauen. »Du hast überhaupt keine Prinzipien.«
Endlich wurde der Tunnel breiter. Das Licht veränderte sich, stammte nicht mehr nur von den Fackeln zu den Wänden.
Merkanto spürte einen kühlen Windzug im kurzen Haar, und ebenfalls auf der Brust, da, wo seine Robe durch die Klinge der Zwergen-Hellebarde aufgerissen war.
Stella hob den Kopf und wieherte.
Sie hatten es geschafft. Die Kinder der Sonne sowie ihre Begleiter, Cary, Gudrun, Terziel und Stella, beschleunigten ihre Schritte. Die Erschöpfung war verschwunden, die Schmerzen für den Moment vergessen. Frische Luft!
Sie durchquerten eine große Höhle, die aussah wie jene, durch die sie die Berge betreten hatten: Ringe von Galerien an den bräunlichen Wänden, die mit verschiedensten Szenen verziert waren, leuchtende Lampen und unzählige Tunnelöffnungen.
Die größte Öffnung führte sie auf eine Wiese mit mittellangem Gras, das sich dunkelgrün und silbrig im Wind bewegte, so federleicht, als wäre es eine zarte Seidendecke über den Hügeln, die sich bis zum Horizont erstreckten. Obwohl die Farben des Grases den Eindruck erweckten, es wäre tiefste Nacht, stand die Sonne noch recht hoch am Himmel. Es musste Nachmittag sein, die Schatten waren lang und die Luft golden eingefärbt.
Die Sonne beschien auch den majestätischen Berg in ihrem Rücken, Greifenfels, auf dessen Krone mehrere schlanke, weiße Türme zu sehen waren, untereinander mit gebogenen Brücken verbunden – die Feste der Weißen Wächter.
Im Süden schließlich erkannte Merkanto einen dunklen Flecken am Horizont, in eine Art goldenen Nebel gehüllt. Dort, am Rand des Gebirges, musste der Wald der Seen liegen, vorläufiges Ziel ihrer Reise.
Der Magier war erschrocken, wie nah sich der Wald mit einem Mal befand, nachdem es zwischenzeitlich so ausgesehen hatte, als würde ihre Reise niemals ein Ende nehmen.
»Wir haben es fast geschafft!«, murmelte auch Jackie.
Merkanto nickte, obwohl ihm mit plötzlichem Schrecken klar wurde, dass der Wald der Seen nur ihre allererste Etappe gewesen war. Er kannte die Karten des Sonnenlandes, und der Wald der Seen bezeichnete gerade das erste Fünftel. Dahinter begann der schwierige Teil, ein stark besiedeltes Gebiet, wo sie auf deutlich mehr Schwierigkeiten treffen würden.
»Ja, wir haben es fast geschafft«, sagte er zu Jackie.
Sie zogen los. Was später sein würde, würden sie später sehen.