https://www.deviantart.com/ifritnox/art/701937803
Die Sonne sank dem Horizont entgegen und die aufziehende Nacht weckte Iljans Lebensgeister von neuem. Der grausame Schnitt in seinem Arm war bereits zu wenig mehr als einer breiten Narbe verblasst. Mit dem nächsten Neumond würde jeder Spur der Wunde verschwinden.
Aus dem langen Gras der Wiesen stiegen bläuliche Schatten auf. Sie hatten die Ausläufer der Leish-Ebene erreicht und vor ihnen erstreckte sich nun der Wald der Seen. Birken und Weißdorn raschelte verheißungsvoll und in der Luft lag ein intensiver Geruch nach Weihrauch. Jackie lief mit federndem Schritt voraus und bedeutete der Gruppe mit einem Winken des Schweifes, dass die Luft rein war.
Iljan, die Kinder der Sonne, Gudrun, Stella und die Weißen Wächter näherten sich der Baumgrenze, tauchten in das grünliche Zwielicht ein. Vögel sangen verborgen im Gestrüpp, das Zirpen der Grillen auf den Wiesen blieb allmählich hinter ihnen zurück.
Der Wald strahlte eine offene, freundliche Atmosphäre aus. Die Bäume standen weit auseinander und selbst in der Abenddämmerung fiel helles Licht auf den Waldboden.
Das Licht brach sich auf den schimmernden Oberflächen der unzähligen Teiche, denen der Wald seinen Namen verdankte. In jeder Vertiefung, so schien es, hatte sich ein kleiner See gebildet. Frösche quakten lauthals, ein paar Schmetterlinge tanzten über den Wassern und den Blumen an den Teichrändern.
Sie schwiegen. Die Kinder der Sonne waren viel zu gefangen von der Schönheit dieses Ortes, als dass sie die verzauberte Atmosphäre mit Worten durchbrechen wollten. Iljan betrachtete die Bäume, über deren Stämme die goldenen Lichtreflexe der Teiche tanzten. Fast erschien es dem Vampir, dass sie unter Wasser gelandet waren, in einem geheimnisvollen Reich der Meermenschen und Sirenen.
Im Wald gab es wenig Deckung, denn das Unterholz war nicht besonders dicht. Sie schlugen ihr Lager in einem größeren Tal auf, am Rand eines weiten Sees, umringt von murmelnden Bächen und kleinen Wasserfällen. Die Luft war von klarer Feuchtigkeit erfüllt, der Boden allerdings trocken und von der Sonnenhitze aufgewärmt.
Beim Entzünden des kleinen Lagerfeuers wurde ihnen erstmals wieder bewusst, dass Askook fehlte. Für den Drachen wäre es ein Leichtes gewesen, die trockenen Zweige in ihrem Rund aus weißen Steinen zum Brennen zu bringen. So musste sich Merkanto seiner Magie bedienen, um ein kleines Feuer zu entzünden.
»Wir konnten ihn nicht einmal begraben«, murmelte Jackie, während sie die Bemühungen des Zauberers verfolgten.
Iljan schwieg. Er beobachtete, wie sich schließlich der Feuerschein in den Augen der anderen spiegelte. Es war seine Schuld, dass sie hier waren. Die Kinder der Sonne waren ihm und Jackie in eine große Gefahr gefolgt. Der Gedanke, dass er weitere Freunde verlieren könnte, erfüllte ihn mit Angst. Was hatte er getan – wie viele zum Tod verurteilt? Immer wieder stand ihm Askooks Gesicht vor Augen, so, wie der Drache ihn zuletzt angesehen hatte: Wütend, verängstigt und gedemütigt, weil Iljan ihn geschlagen und ihm das Wasser abgenommen hatte.
Iljan hatte sich später entschuldigen wollen – doch diese Gelegenheit hatte er verpasst. Das war vielleicht das Schlimmste an Askooks Tod. Der Drache war alleine gewesen, erschöpft und hatte sich verraten gefühlt.
Iljan sah zu seinen Freunden und stellte sich unwillkürlich vor, dass Jackie an Askooks Stelle gewesen wäre. Entsetzen griff mit kalten Fingern nach Iljans Herz, der Schmerz der Vorstellung zerriss ihm die Brust. Auf keinen Fall durfte er zulassen, dass sich dieses Unglück wiederholte! Er malte sich aus, dass sie kurz nach jenem Vorfall in Quellheim gestorben wäre, nachdem er die Kontrolle verloren hatte. Was für ein schrecklicher Gedanke – das Ende ihrer langen Freundschaft, ohne jede Chance, sich zu erklären oder sich zu entschuldigen.
Iljan merkte, dass er sich angespannt hatte und die Hände zu Fäusten geballt hielt. Der Rest der Gruppe drängte sich um das wärmende Feuer, die Hände nah an den Flammen. Das Holz prasselte, die Flammen leckten in die Höhe, mit Funken vermischt trieb der Rauch dem dunklen Blätterdach entgegen.
Iljan löste die Hände und setzte sich zu den anderen.
»Das ist alles, was ich habe«, sagte Terziel, indem er einen Beutel öffnete und den Inhalt darauf ausbreitete. Es waren Wasserschläuche und ein paar Kanten Brot, ihre einzigen Vorräte. Jackies Magen knurrte. Sie wich dem Blick der anderen aus.
»Es wird reichen«, behauptete Merkanto besänftigend.
»Nein, wird es nicht«, Iljan trat in den Kreis des Feuerscheins. »Ihr könnt nicht den Rest des Sonnenlandes mit drei Brotscheiben durchqueren! Wir haben keine Vorräte mehr. Es ist aus!«
Seufzend setzte der Vampir sich. Jackie entdeckte einen düsteren Schimmer in Iljans schwarzen Augen, den sie von ihm nicht kannte. Sie schluckte, als ihr klar wurde, dass Iljan aufgab.
»Ihr könntet Glück haben«, ließ sich in diesem Moment Caryellê vernehmen, mit fester Stimme, jedoch zögerlich. Dann traf die Elfe offenbar eine Entscheidung.
»Es gibt Händlerkarawanen, die durch die Lichtlande ziehen, meist folgen sie dem Wind, suchen die Dörfer auf, die am Rand gelegen sind, um dort wertvolle Waren anzukaufen, die anderswo gebraucht werden. Aber es gibt feste Handelsstraßen.«
Cary sah in die schweigende Runde, dann starrte sie in die Flammen. »Die meisten Karawanen betreten den Wald der Seen nicht, sie ziehen an seinem Rand entlang. Es kann sein, dass wir auf eine treffen werden.«
Schweigen schloss sich an. Jackie konnte nicht umhin, die stoische Elfe zu bewundern. Caryellê hatte die Karawanen soeben auf Gedeih und Verderb den dunklen Wesen ausgeliefert. Im zuckenden Feuerschein wirkte auch Caryellês Gesicht ungewöhnlich bewegt, als würde sie mit ihrer Entscheidung hadern. Doch es handelte sich dabei wohl um eine Täuschung und Carys Gesicht war so steinern wie immer.
Die Kinder der Sonne wechselten schnelle Blicke. In Iljans Augen war der hoffnungsvolle Funke wieder aufgeglommen.
»Nein!«, widersprach Merkanto, obwohl niemand etwas gesagt hatte. Der Zauberer sah Iljan beschwörend an: »Wir können uns nicht auf einen Kampf einlassen – die Karawanen werden sicherlich schwer bewacht.«
»Nicht allzu schwer«, warf Cary ein.
»Außerdem«, fiel Iljan ihr scharf ins Wort, »möchte ich nicht direkt von einem Kampf ausgehen. Es sind Händler, sie werden handeln.«
»Was für ein Scharfsinn!«, spottete Najaxis.
»Sie werden wohl kaum mit uns handeln«, widersprach Merkanto. »Wir werden die Vorräte schon erkämpfen müssen.«
Iljan schüttelte den Kopf. »Keine Kämpfe mehr. Kein Blutvergießen, wenn es sich vermeiden lässt. Und halte mich nicht für ein Kind, Merkanto!«, Iljan warf dem Zauberer einen Blick zu, in dem entgegen seiner Worte einiges an kindlichem Trotz mitschwang. »Ich weiß, wer wir sind, wo wir sind und welche Probleme sich daraus ergeben. Ich werde mich auf einen Kampf vorbereiten, aber wir versuchen, eine friedliche Lösung zu finden.«
Die anderen verstummten und sahen den Vampir an, mit Gesichtsausdrücken, deren Vielfalt von Unglaube zu offenem Misstrauen gingen. Abarax schüttelte schweigend den Kopf, als wolle er sagen: »Der lernt es nie.«
Caryellê stand auf. »Ich gehe.«
»Wohin?«, fragte Terziel, worauf Cary die kämpferische Miene entglitt.
»Ich meine, ich bin für Iljans Plan. Ich gehe zu der nächsten Karawane und kaufe ein.«
»Sie werden Verdacht schöpfen, wenn du alleine die ganzen Vorräte kaufst, die wir brauchen«, warf der Engel ein. »Und alleine wirst du das alles nicht tragen können.«
»Dann komm mit mir. Du siehst nicht direkt wie ein dunkles Wesen aus. Jackie und Merkanto könnten wir auch mitnehmen und den Inkubus, falls man vernünftige Kleidung für ihn auftreibt. Und Stella, solange sie in … normaler Verfassung ist.«
Jackie sah an sich herunter. Ob man sie wirklich für eine Einwohnerin der Lichtlande halten könnte? Ihre Kleidung war zerrissen, dreckig und voller Wolfshaare.
»Und wir anderen warten in der Nähe«, fügte Abarax hinzu, als sei alles schon beschlossene Sache. »Falls es Probleme gibt, können wir eingreifen.«
Iljan wirkte nicht überzeugt. Nachdenklich betrachtete der Vampir seine Hände und zog die Stirn in Falten.
Dann sah er auf, mit einer Jackie unbekannten Härte in den Augen. »Gut. Machen wir es so.«
Terziel sah schweigend zu, als Caryellê die geeigneten Kandidaten für ihren Überfall aussuchte. Gudrun und Abarax waren aus offensichtlichen Gründen ausgeschieden, Iljan wegen der unübersehbaren Blässe seiner Haut. Gerade diskutierte Cary mit Najaxis. Der Inkubus wollte mitkommen, weigerte sich aber, ein Hemd von Jackie überzuziehen.
»Das ist mir zu warm«, schimpfte der Inkubus mit vor der Brust verschränkten Armen. »Und außerdem ist das lächerlich!«
»Du kannst hier nicht halbnackt herumspazieren, dann fliegen wir sofort auf!«, zischte Cary.
»Naja!«, rief Iljan aus dem Hintergrund mit einem Tonfall wie ein Vater, der seinen trotzigen Sohn zur Ordnung rief. Erstaunlicherweise gab Najaxis tatsächlich nach und streifte sich das helle Hemd über. Dann schenkte er Caryellê einen finsteren Blick.
»Bestens«, sagte die Elfe und musterte die kleine Gruppe, die sich aufgestellt hatte. Neben Terziel waren das nun Najaxis, Stella, Merkanto und Jackie. Eine bunte Gruppe, doch man könnte sie mit etwas Glück wirklich für normale Wanderer halten. Es war erstaunlich, wie wenig man den dunklen Wesen ihre düstere Natur ansah. Terziel fand diese neue Erkenntnis beunruhigend.
»Los geht's«, meinte Cary, indem sie ihre Waffen aufnahm.
Terziel machte auf dem Absatz Kehrt und marschierte in das Gebüsch, ohne darauf zu warten, dass auch die anderen ihre Ausrüstung aufnahmen. Iljan wies immer wieder darauf hin, dass ein Blutbad unter allen Umständen zu vermeiden sei, aber Terziel bezweifelte, dass das funktionieren würde. Cary offenbar auch, denn sie hatte die Gruppe angewiesen, ihre Waffen aufzunehmen.
Sie bezogen am Waldrand Stellung. Die kleine Karawane hatte Jackie schon vor einer halben Stunde gewittert, jetzt erst kamen die ersten Tiere in Sicht. Terziel kniff die Augen zusammen.
Die Karawane bestand aus wenigen Händlern elfischer Natur und einer kleinen Herde weißer Hirsche, die die Lasten trugen. Ein kleiner Junge, vielleicht ein Gnom oder Wichtel, ritt auf einem Luchs voraus und spähte zwischen die Baumstämme.
»Auf die Straße«, befahl Terziel ruhig.
Cary schob sich neben ihm und warf einen Blick auf die Straße, dann nickte sie und die Gruppe trat aus dem Versteck heraus. Wenn der Späher sie verborgen im Schattengrün des Waldes entdeckte, würde das keinen guten Eindruck machen.
Etwas unsicher standen die sechs im hohen Gras der Wiesen und warteten, bis der kleine Späher sie bemerkte. Der Kobold zügelte den Luchs und sah zu ihnen herüber. Dann setzte sich die schwere Großkatze in Bewegung und galoppierte zur Karawane.
»Was heißt das jetzt?«, fragte Merkanto. »Greifen sie gleich an?«
»Bleibt ruhig«, befahl Caryellê. »Der Späher berichtet nur. Noch heißt das gar nichts.«
Sie warteten. Der Luchsreiter redete auf einen Elfen ein, die Hirsche hielten. Die Händler sahen zu ihnen herüber.
»Verhaltet euch ruhig«, zischte Caryellê durch die zusammengebissenen Zähne.
»Ich bin total ruhig«, meinte Najaxis und zappelte unruhig herum.
Terziel bewegte die angeschlagenen Flügel und rückte mit ihnen seine Kleidung zurecht. Dann setzten sich die weißen Hirsche wieder in Bewegung und kamen auf sie zu.
Cary atmete hörbar aus.
Als die Karawane näher kam, erkannte Terziel, dass es sich nicht etwa um Elfen sondern um Elben handelte, eine Gruppe von traditionelleren Elfen, die vor Jahrhunderten die Elfenwälder zugunsten der schwebenden Inseln von Arbor verlassen hatten. Der Unterschied zu Elfen bestand in der Kleidung und in der Frisur der Händler – sie trugen weite Gewänder aus luftigen Stoffen in hellen, freundlichen Pastellfarben und trugen die langen Haare offen oder nur an den Schlägen geflochten. Unter den Gewändern blitzte festes Schuhwerk auf und die meisten Elben trugen Rüstungen und Waffen.
Caryellê warf dem Rest der Gruppe einen kurzen Blick zu, dann ging sie allein auf die Händler zu und grüßte schon von Weitem mit einer eleganten Handbewegung, die für Terziel größtenteils von Carys Schulter verborgen wurde.
»Sollen wir auch gehen?«, fragte Jackie gedämpft.
Terziel schüttelte den Kopf. »Lasst uns abwarten, wie sie reagieren.«
Noch in Hörweite traf Caryellê auf die vordersten Elben. Sie wechselte ein paar elbische Sätze mit zwei Händlern und dem Luchsreiter, bevor einer der Elben plötzlich in die Grundsprache wechselte.
»Wie ich höre, ist unsere ehrwürdige Sprache in euren Wäldern nur verkommen«, sagte der Elf spitz.
»Ich würde mich freuen, wenn ich einmal nach Arbor gehen und Elbisch erlernen könnte«, erwiderte Caryellê für ihre Verhältnisse ungewöhnlich förmlich und höflich. »Doch leider sind wir auf einer Mission, die keinen Aufschub duldet.«
»Kein Aufschub, so, so«, meinte der andere Elb – eine Elbin. »Wieso haltet ihr uns dann auf?«
»Eine dumme Geschichte«, sagte Caryellê. »Wir haben keine Vorräte mehr. Unser Packpferd ist auf uns davon, hat sich vor einer Nymphe erschreckt.«
»Eine Nymphe. So, so.«
Die beiden Elben sahen jetzt an Cary vorbei zu den anderen, die sich auf dem Hügel in einer kurzen Reihe aufgestellt hatten. Terziel schluckte, als er die misstrauischen Blicke spürte. Durchschauten die Elben ihren waghalsigen Plan?
»Eine bunte Gruppe habt ihr«, sagte der erste Elb und sein Blick blieb bei Terziel hängen. Der Engel wurde sich bewusst, dass sein verletzter Flügel deutlich zu sehen war und legte ihn an.
»Dein Gesicht kommt mir bekannt vor«, sagte die Elbin plötzlich zu Cary. »Bist du nicht bei den Weißen Wächtern?«
Erleichtert nickte Cary. »Ja. Ja, genau. Wir sind unterwegs zur Grenze … «
»Weiße Wächter«, sagte der Elb und nickte. »Natürlich, die Gerüchte! Wie war das noch gleich, meine Liebe?«
Die Elbin, die er angesprochen hatte, wandte den Blick zum Himmel, als würde sie überlegen. Es wirkte geschauspielert. Terziel hatte ein ungutes Gefühl.
»Ah, ich erinnere mich. Die Zwerge hatten eine Botschaft verschickt – es ging um eine Gruppe dunkler Wesen, die sich mithilfe einiger Abtrünniger der Weißen Wächter in das Sonnenreich schleichen konnten. Erinnerst du dich noch an die Flugblätter? Darauf waren ein Einhorn, ein Engel und eine Elfe zu sehen!«
Cary stolperte rückwärts. Terziel tastete nach seinem Schwert und schloss die Finger um den Griff.
Die Elben sahen sie mit glänzenden Augen an.
»Das sind sie!«, zischte der Elb. Die Elbin gab ein Zeichen, worauf die anderen Händler ihre Waffen zogen.
»Scheiße!«, sagte Jackie.