https://www.deviantart.com/ifritnox/art/703164043
»Das sieht nicht gut aus«, erkannte Iljan und zog mit einer einzigen, fließenden Bewegung seinen Säbel.
Abarax lauschte einen Moment auf das leise Singen des Metalls, dann stieß er sich von dem Baumstamm ab, an den er sich gelehnt hatte.
Draußen auf den Wiesen zückten die Händler ihre Waffen und stürmten auf Carys kleine Gruppe zu.
Iljan rannte los. Abarax folgte, indem er zwischen den Baumstämmen hindurch glitt. Er hörte, dass Cary Befehle rief, doch sein Gehör schwand bereits, versank in weißem, dröhnenden Schweigen. In dem Moment, da er seine Gestalt vollends änderte, schloss Abarax die Augen. Er tauchte in den Boden ein, wich dem hellen Sonnenlicht aus. Seine Gestalt wurde zu vielen schlanken, dünnen Spitzen – zu den Schatten der Grashalme. Wie das Flüstern des Windes glitt der Nachtmahr vorwärts.
Die Elben schossen Pfeile. Terziel hörte das vertraute Zischen in der Luft, als die Geschosse auf sie zu hielten. Er schwang sein Schwert und konnte einen Pfeil, der auf ihn zuhielt, ablenken. Er zog sich zurück und versuchte, den Überblick zu behalten.
Jackie sank in sich zusammen. Zuerst glaubte Terziel, dass sie getroffen war, doch fast sofort sah er, dass ihre Form sich veränderte. Jackie verwandelte sich in eine rostrote Wölfin, schüttelte sich die Kleider vom Leib und sprang knurrend nach vorne. Der Luchs mit seinem kleinen Reiter trat ihr in den Weg, die beiden Tiere verbissen sich ineinander und rollten als knurrendes Bündel durch das Gras.
Cary hatte sich aus dem Gewühl gerettet und schoss Pfeile auf die Elben ab. Stella bäumte sich auf und galoppierte nach vorne, den Kopf gesenkt, sodass ihr Horn zu einer tödlichen Waffe wurde. Während Merkanto bereits in ein goldenes Geflecht gehüllt war, trat Najaxis die Flucht an.
Terziel schlug mit den Flügeln und erhob sich in die Luft, noch immer etwas ungeschickt, weil sein Flügel verletzt war. Er richtete das Schwert auf die Elben, bis sein Arm und die glänzende Schneide eine Linie bildete.
»Via!«, rief er und die Macht vibrierte in seiner Stimme wie die Saite einer Geige. Ein goldener Lichtstrahl schoss über die Klinge und traf in die Mitte des dicht gedrängten Haufens, den die Elben gebildet hatte.
Das heilige Licht explodierte und riss die weißen Hirsche von den Hufen. Die majestätischen Tiere sprangen entsetzt auf und galoppierten davon, ihre Besitzer hinter sich lassend und deren Waren im Gras verstreuend.
Die Elben waren ebenfalls unverletzt, denn Terziels Macht richtete sich nur gegen die Dunkelheit. Doch die Händler waren geblendet. Plötzlich hob sich feste Dunkelheit aus dem Gras und umklammerte die Füße der Elben, die stolperten und fielen.
Iljan und Abarax waren gekommen.
Terziel legte die Schwingen an und ging in einen raschen Sturzflug. Er packte das Schwert, schlagbereit, doch noch im Fallen fragte er sich, ob er die Elben wirklich verletzen wollte. Er bremste ab, schlug mit den Flügeln und sah auf die Elben. Sie standen auf seiner Seite! Er konnte nicht gegen sie kämpfen, das wäre ein Verrat an seinem früheren Ich. Terziel war ein Weißer Wächter geworden, um die Elben genau wie alle anderen Lichtwesen zu beschützen. Wie hatte es so weit kommen können, dass er jetzt auf der anderen Seite kämpfte?
Er durfte nicht für die Kinder der Sonne töten, das ginge zu weit.
Der Engel war von dieser Erkenntnis geschockt und unaufmerksam. Ein scharfer, stechender Schmerz riss ihn zurück in die Wirklichkeit. Der Pfeil hatte ihn nur gestreift, doch Terziels Hemd war am Bauch zerrissen, Blut drang aus dem flachen Schnitt darunter.
Er schlug mit dem Schwingen und stieg auf. Mit einem Mal drehte sich die Welt um ihn, in seinen Ohren ertönte ein lautes Geräusch, ein Rauschen, das die Schreie und das Klirren der Waffen übertönte.
Der nächste Schmerz explodierte in seinem Rücken, denn Terziel hatte sich inzwischen umgedreht. Der Engel krümmte sich in der Luft zusammen, seine Flügel versagten ihm den Dienst.
Er fiel.
Abarax spürte den Nachhall des Engelslichts im Boden, eine Art unangenehmer Wärme, die die Drohung von unerträglicher Hitze in sich trug. Trotzdem hoffte er einfach, dass Terziel nicht erneut angreifen würde.
Geschickt griff er nach allem, was er an Bewegung über dem Erdreich spürte. Unzählige Tentakel aus Schatten griffen nach Füßen und manchmal wohl auch Händen von Händlern und sicherlich auch von den Kindern der Sonne, die sich in Abarax' Reichweite begeben hatten.
Er spürte Blut auf der Erde, einen flüssigen, anschmiegsamen Schatten. Die Energien über ihm pochten und kämpften, er konnte ihre Angst wahrnehmen und ihr Erlöschen.
Plötzlich spürte Abarax etwas anderes. Eine bekannte Existenz, die sich ihm mit einer Geschwindigkeit näherte, die sicherlich nicht gesundheitsfördernd war.
Abarax hatte keinen Gleichgewichtssinn, doch er erinnere sich, wo Oben und wo Unten war, er erriet es am Stampfen der Füße und den Wurzeln des Grases.
Die Präsenz war über ihm.
Mit einem Röhren sprang Abarax aus dem Gras und gab seine Schattenform zugunsten der Alptraum-Gestalt auf. Er wurde ein Monster, mit einem riesigen Maul und langen, blutroten Krallen.
Er öffnete die Augen und sah etwas Weißes aus dem Himmel fallen. Ohne zu überlegen sprang er ihm entgegen, fing das Weiße auf und floh zum einzigen Schatten, den er wahrnehmen konnte, fort aus dem Sonnenlicht, weg von der Bewegung, dem Lärm, dem Chaos.
Im Wald herrschte eine andere Art von Chaos. Die Blätter rauschten wie tausend Kriegsschreie, auf dem Boden zuckten Blitze von Licht umher, Sonnenlanzen auf der Suche nach einem Opfer. Abarax floh in einen Schatten, wo ihn die Sonne nicht erreichen konnte und kauerte dort, bis der Schreck verflog, bis seine Gedanken zur Ruhe kamen, unfähig, die Gestalt ein weiteres Mal zu wechseln und auch unfähig zu Denken.
Schließlich wurde ihm klar, dass er den Engel Terziel in den großen Klauen hielt. Abarax sah auf das rundliche, blasse Gesicht. Terziel hielt die Augen geschlossen, doch die Augäpfel zuckte unter den Lidern in Alpträumen gefangen.
Irgendwie half dieser Anblick, die Reizüberflutung zu bewältigen. Die Blätter wurden wieder zu nichts weiter als einem Hintergrundrauschen, die Sonne, obwohl unangenehm, wurde erträglich.
Abarax beugte sich über den bewusstlosen Engel und roch das Fieber in seinem Atem. Er konnte auch die düsteren Schatten der Alpträume sehen, die sich über Terziels Haut wanden und über seine Stirn zuckten.
Abarax legte dem Engel eine Pranke auf die Stirn und zog die Alpträume zu sich. Es waren mächtige Träume, voller Schrecken, doch er konnte ihre genaue Form nicht lesen. Vielleicht würde er Terziel eines Tages danach fragen.
Der Kampf war schnell vorbei. Gudrun konnte nicht allzu viele Details erkennen, aber sie spürte die düstere Stimmung, die über der Gruppe lag, als die Kämpfer zurückkehrten.
»Ihr seid mir ja zwei Helden«, kommentierte Cary, als sie den Waldrand erreichte.
Najaxis schien sich zu schämen, aber Gudrun grinste breit. »Wir haben euch heldenhaft angefeuert!«
Caryellê spuckte auf den Boden, zog dann ihren blutverschmierten Dolch hervor und säuberte ihn. »Wo ist Terziel?«
»Ich glaube, Abarax hat ihn«, meldete sich Najaxis zu Wort. »Die beiden sind im Gebüsch verschwunden … «
Der Inkubus konnte sich ein anzügliches Zwinkern nicht verkneifen.
»Najaxis, Gudrun, ihr sammelt die Vorräte ein. Und begrabt die Leichen«, Cary war in keiner Stimmung für Scherze. Ohne weiter abzuwarten, stolzierte sie in den Wald und begab sich auf die Suche nach ihrem Engel.
Gudrun sah ihr hinterher, dann seufzte sie. »Komm, Naja.«
Der Inkubus folgte ihr auf das Feld hinaus. Der Nachmittag hatte den Himmel blutrot gefärbt, und von ebensolcher Farbe war das hohe Gras.
Sie fand Terziel im Schatten eines großen Baumes, überraschenderweise neben Abarax, der inzwischen wieder menschliche Gestalt hatte. Der Engel sah blass aus und hielt sich gekrümmt, aber er stand aufrecht. Seine Gewänder waren blutig, doch er schien nicht länger zu bluten.
Cary trat zu den beiden. »Terziel! Geht es dir gut?«
»Alles in Ordnung«, sagte der Engel. »Es waren nur Streifschüsse. Das Schlimmste war das Gift, aber das ist überwunden.«
»Gift?«, wiederholte Cary und merkte, dass ihre Stimme verängstigt klang. »Sie haben mit Gift geschossen?«
Terziel nickte und wich ihrem Blick aus. Cary empfand für einen Moment Wut, die ihre Reue überlagerte. Sie war die Anführerin der Weißen Wächter geworden, um unter anderem diese Elben zu beschützen – und als Dank dafür schoss man mit Giftpfeilen auf sie?
Sie hörte Schritte und drehte sich um, nur um Iljan zu erkennen, der aus dem gesprenkelten Zwielicht trat.
»Abarax. Wo warst du?«, fragte der Vampir.
»Ich musste gehen«, sagte der Nachtmahr mit tiefer Stimme. Sein Tonfall machte deutlich, dass es keine weiteren Erklärungen abgeben würde.
Iljan wandte sich an Terziel, musterte die Flecken hellen Blutes, dann sah er Cary an. »Das lief nicht wie geplant.«
Cary verzog die Mundwinkel zu einer traurigen Grimasse. »Läuft das jedes Mal so, wenn ihr was einkaufen wollt?«
»In den dunklen Landen? Nein, da sind wir diejenigen, die zuerst die Waffen ziehen.« Iljan ließ es wie einen Scherz klingen, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Cary musste daran denken, dass sie nun alle ihre Prinzipien verraten hatte. Sie hatte sich auf die Seite der Kinder der Sonne gestellt, hatte in ihrem Namen getötet und war bereit, es wieder zu tun. Sie fragte sich einen Moment, wie sie hier gelandet war. Wann hatte sie begonnen, an Iljans wahnsinnige Mission zu glauben?
Wenn sie sich in den Kindern der Sonne täuschte, wenn es gar keine friedliche Mission war sondern eine Infiltration, könnte sie sich das niemals verzeihen.
Sie wich Iljans Blick aus und ging davon, um zu den anderen zurückzukehren. Der Gedanke, dass sie einer Lüge erlegen sein könnte, verängstigte sie mehr, als sie zugeben wollte.
Iljan folgte Cary. Terziel blieb mit dem Nachtmahr zurück. Eine Weile standen sie einfach schweigend nebeneinander. Abarax schwieg, wie es offenbar seine Art war und Terziel wusste nicht, was er sagen sollte. Es kratzte an seinem Stolz, ausgerechnet von einem dunklen Wesen gerettet worden zu sein. Andererseits war er ja irgendwie ein Verbündeter der seltsamen Gruppe geworden, da er Caryellê gefolgt war. Er fragte sich immer noch, wie es hierzu hatte kommen können. Wie war aus einem Engel ein Freund von Vampiren und Werwölfen geworden?
»Danke«, überwand er sich schließlich, zu sagen. »Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du mich rettest.«
Abarax schwieg und bedachte ihn mit einem Blick seiner rot glimmenden Augen. Terziel bewegte die Flügel und spürte die Schmerzen der neuen Wunden. Der Wind pfiff durch die Löcher in seinem Gewand.
»Warum?«, fragte er dann. »Warum hast du mich gerettet? Ich meine – es ist offensichtlich, dass du dich ins Sonnenlicht begeben hast. Du hättest ebenfalls sterben können!«
Der Nachtmahr bedachte Terziel mit einem langen Blick, bis der Engel schon glaubte, dass er keine Antwort erhalten würde. Doch dann sprach Abarax doch: »Ich kann es dir nicht sagen, Terziel. Belassen wir es einfach dabei. Ich habe dich gerettet und ich werde es wieder tun, wir sind im gleichen Team. Ich würde selbst Gudrun retten. Ich hoffe, dass ich ebenfalls gerettet werde, wenn die Rollen eines Tages vertauscht sind. Das ist alles.«
Damit wandte Abarax sich ab und ging davon, in eine Wolke seiner eigenen Dunkelheit gehüllt, um sich vor dem letzten Tageslicht zu schützen.
Terziel sah ihm hinterher.
Die erbeuteten Vorräte hatten sie auf einem großen Haufen zusammen getragen. Cary stand neben Iljan, der die Vorräte überprüfte und aufteilte.
»Kein Fleisch?«, fragte Jackie, nachdem etwas Ordnung in die Beute gebracht worden war.
»Wir essen kein Fleisch im Sonnenland«, erwiderte Cary spitz.
»Vielleicht kannst du jagen. Für's Erste reicht das hier«, Iljan sprach halb in seine Handfläche, der Vampir wirkte zerstreut. Cary konnte nur vermuten, dass das jüngste Blutbad ihn mitgenommen hatte, vielleicht umso mehr, als er ein Vampir war und versuchte, seine grausamen Instinkte zu bekämpfen. Eine bedrohliche Aura ging von Iljan aus. Terziel und Merkanto, die beide verletzt waren, hielten sich so fern wie möglich von Iljan.
Cary betrachtete die Ansammlung von Brot, Trockenfrüchten und eingelegten Algenröllchen, Blumen und Beeren, die sie zusammengetragen hatten. Sie hatte sich niemals vorstellen können, für solche Dinge zu töten. Es erschreckte sie, wie schnell sie heute zum Dolch gegriffen hatte.
Konnte sie sich nach einer solchen Tat noch als Lichtwesen betrachten – oder war sie vielleicht auf dem besten Weg, eine Dunkelelfe zu werden? Konnte es sein, dass sie die Moral der Schattenlande annahm, dass diese auf sie überfärbte, übersprang wie eine Krankheit?
Als letzte kamen Gudrun und Najaxis zu ihnen. Beider Hände waren mit dunkler Erde verfärbt.
»Alle begraben«, berichtete Gudrun und wischte sich Schweiß von der Stirn, worauf ihr Gesicht noch unansehnlicher wurde.
Iljan warf Cary einen Blick mit hochgezogener Braue zu. »Wolltest du die Beute vor mir verstecken?«
»Nein!«, Cary hatte nicht gedacht, dass ihre Geste so verstanden werden könnte. »Ich wollte den Händlern einen Rest Würde lassen! Wir begraben unsere Toten im Sonnenreich, ich weiß ja nicht, was ihr tut!«
»Außerdem verwischt es unsere Spuren«, warf Najaxis ein, was nicht unbedingt dazu beitrug, dass Cary sich besser fühlte.
Iljan winkte ab. »Schon gut. Essen wir.«