https://www.deviantart.com/ifritnox/art/708064438
Es regnete in depressiven Strömen. Terziels leichte Gewänder waren bereits hoffnungslos durchtränkt und klebten an seinem Körper. Sie spendeten keine Wärme mehr, wenn überhaupt, so sorgten sie dafür, dass ihm kälter wurde. Jackie, die neben ihm lief, klapperte laut mit den Zähnen. Zu allem Überfluss lief das Wolfsmädchen barfuß, da sie keine Schuhe zu besitzen schien. Ihre Zehen waren vor lauter schwarzem Matsch nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Jackie blieb nicht, wie Najaxis, alle paar Meter stehen, um ihre Füße zu säubern. So war der Inkubus weit zurückgefallen, im grau verregneten Wald fast außer Sichtweite.
»Wir machen eine Pause!«, ertönte Caryellês heller Ruf, ein willkommenes Signal. Terziel schüttelte die nassen Flügel und verzog das Gesicht, als die verwundete Schwinge schmerzte. Inzwischen hasste er den Wald der Seen mit nie geahnter Heftigkeit. Wie konnte es bloß einen derartig feuchten und ungemütlichen Ort auf der Welt geben? Sogar die Sümpfe erschienen ihm nun wie eine sonnige Alternative.
Sie fanden keinen trockenen Platz. Im Schutz der Bäume waren die Wasserschwälle nur noch heftiger, inzwischen war das Blätterdach völlig durchnässt. Schwere Zweige hatten sich herabgesenkt wie grüne Tiere, die ihre Köpfe schwermütig hängen ließen. Hier und da ertönte ein lautes Platschen, wenn irgendein besonders widerspenstiger Ast unter dem Gewicht des angesammelten Wassers endlich einbrach und einen Wasserfall auf die Erde unter sich entließ.
Die Gruppe scharte sich unter dem freien Himmel auf einer Lichtung zusammen, die meisten mit verdrießlichen Gesichtern. Einzig Gudrun und Iljan schienen von dem Wetter nicht betroffen. Gudrun hatte direkt am Morgen einen rätselhaften Trank zu sich genommen, worauf das Regenwasser auf ihren Schultern zu verdampfen begann. Der Effekt hielt immer noch an, doch Gudrun weigerte sich vehement, ihr Wundermittel herauszurücken – mit dem Hinweis, dass es für alle anderen als eine Hexe giftig sei.
Iljan war vollkommen durchnässt, hatte das blasse Gesicht in den Himmel gekehrt und ließ sich den Regen in den Nacken rinnen. Die blonden Haare erschienen in der Nässe fast braun. Er störte sich offensichtlich weder an der Kälte noch an der Nässe.
Merkanto stöhnte. »Ich hasse Regen.«
»Wie das?«, fragte Gudrun unverschämt fröhlich. »Du bist ein Sturmmagier, denke ich?«
»Sturm«, knurrte Merkanto kurz angebunden, nicht erfreut, dass seine Bemerkung ausgerechnet Gudrun zu einer Antwort veranlasst hatte. »Nicht Regen.«
Gudrun zeigte beim Grinsen ihre schiefen, verfärbten Zähne. »So groß kann der Unterschied nicht sein!«
Merkanto sah in die Runde, doch der Rest der Gruppe war zu niedergeschlagen, um ihm beizustehen. »Ein Sturm zeichnet sich vor allem durch ein Gewitter aus«, zischte der Zauberer dann Gudrun zu. »Und durch Wind. Der Regen ist nur ein Nebeneffekt, den man hinnehmen muss.«
»Hinnehmen, genau meinte Rede«, meinte Gudrun.
Merkanto verdrehte die Augen und starrte wieder in die Mitte ihres Kreises, üblicherweise von einem Feuer eingenommen, nun von einem traurigen Flecken matschiger Erde.
Terziel merkte, dass Abarax fehlte. Erstaunt sah der Engel auf. Der Nachtmahr hatte sich nicht in ihren Kreis gesetzt. Nach einigem Suchen entdeckte Terziel die schlanke, dunkle Gestalt etwas weiter entfernt. Während die anderen erschöpft vor sich hin starrten oder – im Falle von Iljan und Jackie – leise redeten, stand Terziel auf und bahnte sich einen Weg durch die feuchten Büsche bis zu dem Nachtmahr.
Abarax drehte sich um, als er Terziels Schritte hörte.
»Warum bist du ganz alleine hier?«, fragte Terziel.
Abarax verzog den Mund, als wolle er nicht antworten. Dann sprach er doch. »Ich bin kein Freund von Versammlungen.«
»Versammlung? Unsere kleine Gruppe?«, wunderte sich Terziel entgeistert.
»Genau«, Abarax zog die Lippen leicht zurück und offenbarte seine Zähne, die dünn und nadelspitz waren. Wasser perlte über die graue Haut des Nachtmahrs, während Terziel ihm schweigend gegenüber stand.
»Willst du noch irgendwas?«, fragte Abarax schließlich unfreundlich.
»Ich höre dem Regen zu«, entgegnete Terziel und wandte den Blick ab. »Er klingt irgendwie entspannend, findest du nicht?«
Aus dem Augenwinkel konnte Terziel Abarax' irritierten Blick wahrnehmen. »Entspannend? Nass klingt er vielleicht.«
»Das auch«, schaudernd steckte Terziel die Hände in seine durchnässten Ärmel. »Zuhause habe ich es geliebt, an stürmischen Tagen im Sessel zu sitzen und zu lesen. Ich fand das Geräusch des Regens wunderbar. Es ist was anderes, wenn man mitten in der Sintflut steht, nicht wahr?«
Abarax starrte ihn entgeistert an. »Ich bin hierhin gegangen, um meine Ruhe zu haben, und nicht, um von einem Engel zugequatscht zu werden!«
Terziel seufzte. »Und daran merkt man mal wieder, dass du auf die böse Seite gehörst.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Da will man höflich sein, und dann das!«
»Steck dir deine Höflichkeit sonstwohin!«, schnaubte Abarax. »Ich habe nich verstanden, was daran so toll sein soll.«
»Du bist wohl eher der ehrliche Typ«, riet Terziel mit einem ironischen Lächeln.
»Ehrlichkeit ist eine Tugend«, Abarax streckte sich und offenbarte mit diesen Worten endlich einmal etwas mehr über sein inneres Wesen. Terziel war überrascht, dass ein dunkles Wesen überhaupt wusste, was eine Tugend war. Noch mehr überraschte ihn, dass Abarax einen Moralkodex zu besitzen schien.
»Ehrlichkeit um jeden Preis?«, fragte er deshalb nach, neugierig geworden.
»Warum nicht?«, fragte Abarax.
»Auch, wenn es jemanden verletzt?« Die Frage war überflüssig, das wusste Terziel.
»Natürlich.«
»Und wenn du jemanden verraten müsstest? Iljan zum Beispiel?«
»Du meinst, ob ich den Weißen Wächtern unseren Plan verraten würde, sollte man mich gefangen nehmen?«, Abarax' Augen waren eng geworden und Terziel schluckte.
»Das sind alles nur Gedankenspiele. Ich gehe nicht davon aus, dass du ein Verräter bist.«
»Daran tust du gut«, sagte Abarax gefährlich leise. »Ich würde nichts sagen. Zur Not würde ich lügen. Ich bin schon gefoltert worden, ich weiß, was realistisch ist. Ich würde Iljan nicht verraten.«
Terziel atmete erleichtert auf. »Das weiß ich doch. Wie gesagt, nur Gedankenspiele. Es war dumm von mir, Iljans Namen zu benutzen.«
»Das war es«, sagte Abarax.
Der Regen schien nicht nachlassen zu wollen. Iljan warf einen Blick auf die kleine Gruppe und dann wieder in den grauen Himmel. Er streckte sich.
»Gut, gehen wir weiter.«
Auf der kleinen Lichtung wurde gemurrt, doch nach und nach standen alle auf, schüttelten die nassen Kleider aus oder rieben sich den Regen aus den Augen.
»Ich hoffe, heute Nacht bleibt es trocken«, erklang Najaxis' Stimme.
»Hätte nie gedacht, dass eine geheime Mission in Feindesland so langweilig sein kann!«, schimpfte Jackie und wrang ihre langen Haare aus.
»Schlechtes Wetter und Langeweile«, philosophierte Merkanto. »Der größte Feind einer jeden Armee!«
»Seid ihr dann fertig?«, rief Cary und trieb diejenigen, die noch nicht auf den Beinen waren, zur Eile. Die Gruppe setzte sich in Bewegung, immer durch den Wald und den Regen.
Iljan übernahm wie selbstverständlich die Führung, obwohl sich das Gefühl nicht abschütteln ließ, dass Cary ihm einen Teil seiner Pflichten abnahm. Iljan, der am Hof seines Vaters schon früh mit der geheimnisvollen Kunst von Diplomatie und Intrige zusammengeraten war, beobachtete diese Entwicklung mit Besorgnis. Momentan gab es in ihrer Gruppe zwei Anführer – im Zweifelsfall würde es sicherlich zu Problemen kommen. Wenn er sich mit Cary stritt, würde ein Teil seiner Gruppe zu der Elfe halten. Ganz zu schweigen von dem Risiko, dass es bedeuten würde, wenn die Elfe wieder zu den Weißen Wächtern zurückkehrte.
Iljan schluckte. Er wusste genau, was sein Vater ihm in einem solchen Fall raten würde: »Binde sie an dich. Wenn es ein Mann ist, dann rette sein Leben. Er wird dir sein Leben lang treu sein. Und falls dir tatsächlich eine Frau im Weg stehen sollte … nun, eine Mutter würde alles für ihr Kind tun, richtig?«
Iljan schloss die Augen und der Regen lief ihm über die geschlossenen Lider. Nepumuk war ein Monster gewesen. Ein Tyrann, für den das Leben anderer ohne Wert war. Jetzt musste Iljan einen anderen Weg finden, die von Cary dargestellte Gefahr zu verringern. Und die Gefahr, die von Terziel, Stella und Gudrun ausging – Iljan fühlte sich, als müsste er mit rohen Eiern und Messern jonglieren. Früher oder später würde etwas kaputt gehen, entweder ein Ei oder aber seine Hände.
»Iljan?«
Der Vampir schreckte aus seinen Gedanken auf und merkte, dass sich Merkanto an seine Seite gesellt hatte. Der Magier sah ihn an, als warte er schon länger auf eine Reaktion.
»Entschuldige«, sagte Iljan. »Ich war in Gedanken. Was ist?«
»Ich muss mit dir reden«, Merkanto warf einen Blick über die Schulter und vergewisserte sich, dass niemand sie belauschte. Iljan bekam ein flaues Gefühl im Magen.
»Du weiß, was ich immer sage: Im Krieg gibt es keinen schlimmeren Feind als schlechtes Wetter und Langeweile? Weißt du noch, was das dritte war?«
»Hunger«, sagte Iljan und starrte Merkanto an. »Willst du damit das sagen, was ich fürchte, dass du sagen willst?«
Der Zauberer nickte. »Uns gehen die Vorräte aus. Erneut. Umso schneller, da deine Freundin uns verbietet, zu jagen.«
»Cary ist nicht meine Freundin«, zischte Iljan gereizt. »Und es ist Sitte in ihrem Land, keine Lebewesen umzubringen. Wie müssen das akzeptieren.«
»Mag sein. Aber die Akzeptanz würde mit vollem Magen deutlich leichter fallen«, gab Merkanto ungerührt zurück. »Wir halten noch ein paar Tage aus, aber ich wollte es dir gesagt haben. Und ich möchte das nicht beim Essen besprechen, wenn alle zuhören können.«
Iljan seufzte. »Schon verstanden. Danke für die Warnung.«
Merkanto salutierte salopp und ließ sich wieder zurückfallen. Iljan kam es mit einem Mal so vor, als wäre die Spitze ein sehr einsamer Ort. Die anderen stiefelten wenigstens zum Teil nebeneinander und bezogen Trost aus der Tatsache, dass auch andere unter dem Wetter litten. Iljan stellte sich dem Sturm ganz alleine.
Es waren Momente wie dieser, da er sich wieder jung und unerfahren fühlte.
Cary stricht sich die tropfende Haarsträhne hinter das Ohr und rieb dann mit der Handfläche die Tropfen aus der rasierten Kopfseite. Die Stoppeln wurden inzwischen lang und Cary sehnte sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag nach ihrem trockenen, kleinen Zimmer in der Feste der Weißen Wächter, zu ihrem Rasierspiegel und ihren geordneten Leben.
Sie wurde aufmerksam, als Iljan vorne anhielt und dem Rest mit hastigen Handbewegungen bedeutete, sich zu ducken. Caryellê rannte nach vorne, mit plötzlicher Angst erfüllt. Iljan wirkte ehrlich erschreckt, so als würde nicht weit entfernt eine Armee aufmarschieren.
Sie huschte durch das Gebüsch und ließ sich neben den Vampir fallen.
»Was ist los?«
Iljan sah sie an und deutete dann nach vorne. Vorsichtig zog Cary ein paar Äste beiseite und erstarrte.
Vor ihren Augen erhob sich eine Stadt. Schlanke, weiße Türme reichten an die untere Grenze des Blätterdaches heran und der Regen tanzte über unzählige Wasserrinnen, vorbei an Türen und Fenstern, über Wege im klaren Kristall und hinab in das Wasser eines riesigen Sees, in dessen Mitte die Stadt sich erhob.
Es war ein so unerwarteter Anblick, dass Cary eine Weile brauchte, um das ganze Ausmaß zu erkennen: Vor ihr lag eine Stadt. Eingerahmt von Trauerweiden und Sträuchern, Schilfrohr und Seerosen. Eine richtige Stadt, mit tausenden schlanker Häuser, gebaut aus einem halbdurchsichtigen Material.
Caryellê klappte den Mund zu. »Ich glaube, wir haben Crisayn gefunden!«
»Die Stadt der Nymphen, wie?«, fragte Iljan leise. »Das glaube ich auch. Ich dachte, die Stadt liegt im Herz des Waldes?«
»Das dachte ich auch«, Cary biss sich auf die Unterlippe. »Wahrscheinlich wollten sie das die Welt glauben machen. Deswegen hat man die Stadt niemals gefunden.«
»Weil sie da liegt, wo man sie nicht vermutet«, Iljan zischte mit plötzlicher Heftigkeit, ein wortloser Fluch.
»Wir haben echtes Glück. Das ist ein einmaliger Anblick«, meinte Cary in dem hoffnungslosen Versuch, einen Scherz zu machen. »Wir gehen zurück und machen einen Umweg.«
Iljan sah zu der Gruppe. »Das können wir nicht.«
»Warum?«, fragte Cary.
Iljan wich ihrem Blick aus. »Wir haben kaum noch Vorräte.«
Cary schwieg. Der Vampir ebenfalls.
»Schöne Scheiße«, sagte Cary dann. »Du hast echt vor, von den Nymphen zu stehlen?«
»Werden sie mit uns handeln? Ich glaube, nicht«, gab Iljan zurück. Cary konnte die Anspannung in seinem Blick sehen. Sie warf ebenfalls einen Blick zurück.
Ihre Gruppe war zu groß, um alleine vom Beerensammeln zu überleben. Ihre einzige Hoffnung war die Stadt. Am liebsten würde sie laut und anhaltend fluchen.
»Gut. Sehen wir, dass wir eine kleine Gruppe zusammen bekommen«, sagte sie dann, sich zusammenreißend. »Es ist besser, wenn nicht alle gehen.«
»Und wenn etwas schief geht?«, fragte Iljan.
»Kann der Rest immer noch eingreifen. Oder fliehen«, sagte Cary entschlossen. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte sich nun einmal entschlossen, Iljan zu helfen, da konnte sie genauso gut auf's Ganze gehen.