https://www.deviantart.com/ifritnox/art/711613028
Es war einer der angenehmeren Kerker, die Merkanto im Laufe seines Lebens von Innen zu sehen das Vergnügen hatte: Die Wände bestanden aus borkiger Rinde, die Gitter aus einem Geflecht dorniger Zweige. Es gab ein kleines Fenster, eher ein Astloch, durch das er einen atemberaubenden Blick auf Crisayn erhielt, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte und halb am Rand des Astlochs hochzog. Zwischen den grünen Zweigen vor dem Fenster war die Stadt zu sehen, die tief unter ihnen lag, von kleinen Sprühnebeln durchzogen und umringt vom Wald der Seen.
Trotzdem blieb es eine Kerkerzelle. Es gab eine kleine Erhebung, eine natürlich gewachsene Sitzbank an der Seite der Zelle und ein schmales Loch für die Notdurft. Die Decke lief nach oben hin spitz zu, ihr Ende war irgendwo in der spinnwebenverhangenen Finsternis verborgen.
Merkanto seufzte und trat von dem Fenster zurück. Es war zu schmal, um daraus zu fliehen und auch das Dornengestrüpp vor dem Eingang bot kein Durchkommen, wie Carys zerkratzte Arme eindrucksvoll bewiesen. Die Elfe und der Engel saßen niedergeschlagen auf der Rindenbank. Nur Cary hob den Kopf, um Merkantos Einschätzung zu hören.
»Narrensicher«, fasste Merkanto zusammen. »Wir müssen hoffen, dass Najaxis kommt und uns sucht.«
»Und wie soll er uns hier oben finden?«, fragte Cary. Merkanto wusste darauf keine Antwort. Sie waren hoch über der Stadt, irgendwo nah der Krone des riesigen Baumes, der Crisayn überschattete, im Körper der Herrin des Waldes persönlich. Merkanto war sich nicht sicher, ob sie nicht jedes Wort hörte, was gesprochen wurde. Es war zweifellos eine einzigartige Zelle, doch alle Faszination wurde von der überwältigenden Hoffnungslosigkeit erdrückt. Sie saßen hier fest und Rettung würde so schnell nicht kommen. Währenddessen wuchs das Risiko, dass man sie hinrichtete. Merkanto hatte es seinen Mitgefangenen gegenüber noch nicht angesprochen, doch da sie Eindringlinge und Hochverräter waren, lag die Vermutung nahe.
»Wir lassen uns etwas einfallen«, sagte er zu Cary. Und das mussten sie, denn es war vielleicht ihre letzte Chance.
Ihr neuer Lagerplatz lag in einem unregelmäßigen Ring großer, weißer Steine - besseren Schutz hatte Iljan nicht finden können. Die Gruppe richtete sich irgendwie in diesen Steinen ein, Stella wurden die Satteltaschen abgenommen, Jackie reichte ein paar Trockenfrüchte herum. Doch die Zeichen standen auf einen schnellen Aufbruch. Die Kinder der Sonne packten die Taschen nicht aus und hielten die Hände nah bei ihren Waffen. Angespannt erwarteten sie etwas – das Auftauchen der Vermissten oder einen Angriff. Doch nichts geschah, die Stunden zogen ins Land.
Gegen Mittag konnte Iljan die Entscheidung nicht länger vor sich herschieben.
»Naja!«, er winkte den Inkubus zu sich.
Najaxis ließ davon ab, die anderen zu nerven und kam zu Iljan geschlendert. »Was ist, Hauptmann?«
»Wir müssen die anderen finden«, Iljan erklärte Merkantos vagen Rettungsplan mit kurzen Worten: »Merkanto glaubte, dass du dich halbwegs unbemerkt unter das Volk in Crisayn mischen könntest.«
»Und jetzt willst du mich alleine los schicken?«, fragte Najaxis entsetzt.
Iljan nickte. »Ich würde es nicht von dir verlangen, wenn ich einen anderen Weg sehen würde. Ich würde selbst gehen! Aber ich bin … zu auffällig.«
Najaxis seufzte. »Schon gut. Ich mach's ja.«
Der Inkubus war blass geworden und griff jetzt nach seiner Hüfte, wo die anderen ihre Waffen trugen. »Ich könnte mir nicht vielleicht ein Schwert ausleihen?«
Iljan streckte dem Inkubus ohne zu Zögern seinen Degen hin. »Nimm den.«
»Was ist los?«, fragte Abarax, der aus dem Nichts erschienen war.
»Ich gehe die hübsche Elfe retten«, Najaxis grinste etwas verzweifelt.
Abarax starrte Iljan an: »Alleine?«
»Er ist unauffällig«, verteidigte Iljan seine Entscheidung.
»Durchaus. Ich komme mit dir, Najaxis.«
Vampir und Inkubus starrten den Nachtmahr mit großen Augen an.
»Wieso das denn?«, fragte Najaxis.
»Du bist zu auffällig!«, sagte Iljan mit einem Blick auf die graue Haut des Nachtmahrs.
Abarax sah Najaxis an: »Weil ich kampferfahren bin. Und ich werde nicht in dieser Gestalt reisen, Iljan.«
Damit legte Abarax eine Hand auf Najas Schulter und … verwandelte sich.
Abarax' Gestalt verschwamm zu einer unförmigen, grauen Wolke, in der nur noch zwei rote Augen glänzten. Während Naja und Iljan noch sprachlos starrten, schoss die Wolke plötzlich auf Najaxis zu und zwängte sich durch dessen offenen Mund. Najaxis riss die Augen auf und wollte zurück weichen, doch der Rauch war schneller. Es dauerte vielleicht drei Herzschläge, vielleicht etwas länger, dann war Abarax vollständig verschwunden. Najaxis' Augen färbten sich dafür plötzlich schwarz. Es sah aus wie Tinte, die sich in blauen Seen ausbreitete.
»Unauffällig genug, Iljan?«
Abarax' tiefe Stimme drang aus Najas Mund.
»Was hast du … getan?«, stotterte Iljan, obwohl er natürlich schon früher Zeuge von Besessenheit geworden war.
»Keine Sorge, ich habe Naja nichts angetan«, sagte der Nachtmahr und ein spöttisches Lächeln zierte die Lippen des Inkubus' »Wir teilen uns den Körper.«
Iljan seufzte. »Bist du sicher, dass die Dryaden dich nicht wittern?«
»Keine Ahnung«, sagte Abarax. »Wir werden es herausfinden.«
Damit wich das Schwarz wieder dem Blau von Najaxis' Augen.
»Iljan! Verbiete ihm das!«, verlangte der Inkubus mit schriller Stimme.
»Er hat gesagt, dass er dir nicht schadet«, sagte Iljan hilflos.
»Aber er kann meine Gedanken sehen!«, beschwerte sich Naja. »Ich will das nicht!«
»Abarax!«, rief Iljan laut.
Die Augen des Inkubus' schlugen um.
»Ganz ehrlich, Iljan, ich will das auch nicht gerne sehen«, sagte Abarax. »Aber Naja braucht jemanden, der auf ihn aufpasst. Zu zweit haben wir eine bessere Chance als er alleine.«
»Aber wenn er es nicht will … «, sagte Iljan und wollte in einer starken Geste seinen Degen ergreifen, ehe er merkte, dass Naja die Waffe in den Händen hielt.
»Er wird sich schnell dran gewöhnen«, würgte Abarax jeden Einwand ab. »Es ist besser so, glaub mir.«
Iljan seufzte, dann zuckte er mit den Schultern. »Du erklärst ihm das. Und wenn du ihm irgendwie schadest … «
»Werde ich nicht«, Abarax verschwand. Zurück blieb ein seufzender Najaxis.
»Ich hasse mein Leben!«
»Halt die Ohren steif«, meinte Iljan aufmunternd. »Es ist ja nicht für lange.«
»Das ist mein einziger Trost«, Najaxis hatte allerdings, sehr zu Iljans Erleichterung, zu seinem üblichen, spöttischen Tonfall zurückgefunden. Vermutlich hatte der Inkubus übertrieben.
»Viel Glück«, wünschte Iljan, als der Inkubus sich auf den Weg machte. »Und geht kein Risiko ein, ihr beiden?«
»Bestimmt nicht«, antwortete Naja, winkte und sprang lässig in den Wald davon.
»Siehst du was?«
Caryellê stieß sich seufzend vom Fenster ab und landete leichtfüßig auf dem Boden. »Es ist ziemlich viel los«, berichtete sie Merkanto. »Es sind so viele auf den Straßen, dass ich nichts mehr erkennen kann.«
Der Magier seufzte.
»Auch keinen Najaxis«, fügte Cary überflüssigerweise hinzu.
»Ja, ja, schon gut! Tut mir leid, dass ich gefragt habe!«, fauchte Merkanto.
»Ich würd's ja sagen, wenn ich was sehen würde«, gab Cary stolz zurück und ließ sich neben Terziel fallen. Sie wusste, dass sie ihre Wut ungerechtfertigt an Merkanto ausließ, aber sie brachte es nicht über sich, Terziel Vorwürfe zu machen. Sie waren nur geschnappt worden, weil er Engel nicht auf sie hatte hören wollen, aber er sah so elend aus, dass Cary ihn lieber in Ruhe ließ.
Merkanto lehnte an der Wand und schlug in langsamen Rhythmus mit der Hacke gegen die Borke. Cary war genervt von dem leisen Pochen. Es verstärkte nur ihre eigene Unruhe. Sie wollte irgendwas tun, sich den Weg aus dem Gefängnis erkämpfen oder vielleicht auch frei handeln – beides ging nicht, denn in der ganzen Zeit, die sie hier hockten, war keine einzige Wache erschienen. Es blieb der übermächtige Drang, zu schreien und gegen die Wände zu schlagen.
Um sich abzulenken, begutachtete Cary erneut die tiefen Kratzer, die bei ihrem Ausbruchsversuch entstanden waren. Die Dornen hatten ihre Arme und Kleidung zerrissen, nicht wenige der Kratzer hatten heftig geblutet. Sie musste aussehen, als hätte sie sich von einer Klippe gestürzt oder einen Kampf gegen blutrünstige Nagetiere ausgetragen. Jetzt setzte der Heilungsprozess ein und die Kratzer juckten wie wahnsinnig. Cary ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel knackten, um dem Juckreiz zu widerstehen.
»Wie weit bist du?«, fragte sie Merkanto. Der Magier knüpfte immer noch an dem Stofffetzen.
»Nicht mehr lange«, gab der Zauberer knapp zurück.
»He, ich sehe nichts!«, beschwerte sich Najaxis.
»Leise!«, kam Abarax' lautlose Antwort. »Jeder kann dich hören!«
»Hier ist niemand!«, fauchte Najaxis. »Oder?«
»Da vorne ist das Tor«, Abarax' Präsenz in seinem Kopf zog sich zurück und Najaxis konnte wieder etwas anderes als Schwärze wahrnehmen. Vor ihm befand sich tatsächlich das Tor zu Crisayn. Die Stadt der Dryade begann an einem zarten Steinbogen, hinter dem sich die ersten Häuser zwischen Bäumen und Bächen drängten.
Najaxis schluckte und versuchte, seine Nervösität zu verbergen, als er durch das Tor trat.
»Benimm dich einfach ganz normal«, riet Abarax' geistige Stimme.
»Klappe!«, dachte Najaxis, so laut er konnte.
Er trat durch das Tor und auf die Wege aus festgetretener Erde und Kieseln, die durch die Stadt führten. Schon bald begegneten ihm die ersten Nymphen und Dryaden – zarte, ätherische Wesen in weiten, luftigen Gewändern und menschliche Formen von Rinde und grünem Blattwerk. Manche der Nymphen schienen nur aus einer Ansammlung Wasserblasen zu bestehen, andere hatten rosige Haut aus Fleisch und Blut. Die wenigsten schenkten Najaxis mehr als einen flüchtigen Blick.
»Sehr gut«, meldete sich Abarax trotz Najaxis' Warnung wieder. »Wir sollten nachsehen, ob es nicht einen Marktplatz oder so gibt.«
Najaxis schnaubte und schüttelte leicht den Kopf. Die Besessenheit durch den Nachtmahr fühlte sich an, als würde ihm ein Schwarm Fliegen durch den Schädel summen. Ihre Gedanken waren miteinander verwoben und allein Najaxis' Erfahrung sagte ihm, was seine und was Abarax' Gedanken waren. Es war ein befremdliches Gefühl, aber der Nachtmahr hatte viele solcher Erfahrungen gemacht. Abarax war froh, dass er diesmal nicht gegen geistigen Widerstand ankämpfen musste und war entspannt, was sich auf Najaxis übertrug.
Er schlenderte, vielleicht etwas zu betont locker, durch die Straßen und hielt den Blick geradeaus gerichtet. Er spürte die Blicke, die ihn streiften, als ein Prickeln auf der Haut, nahm die Aufmerksamkeit wahr, die schnell vergangen war. Unter der luftigen Jacke wurde ihm heiß und der Juckreiz stieg ins Unermessliche.
»Nicht dran denken«, riet Abarax wenig hilfreich.
Sie fanden den Marktplatz überraschend schnell, indem Najaxis mit untrüglichem Gespür für die Lebensströme der Städte dem größten Lärm folgte. Wie in jeder anderen Stadt auch herrschte auf dem Marktplatz reges Gedränge, Händler boten lauthals ihre Waren feil, versuchten einander zu übertönten. Najaxis stellte sich vor, dass er im Schattenland auf dem großen Sklavenmarkt von Xalyton war, wo die Cremé de la Cremé der Dunkelheit zusammenkam. Er stellte sich die taxtierenden, lauernden Blicke der anderen Käufer vor, der Halsabschneider, die danach trachteten, unvorsichtige Käufer in Ware zu verwandeln.
Und er fühlte sich wohl. Dieser Kampf, diese ungreifbare Gefahr im Gedränge, war etwas, das Najaxis beherrschte. Er kannte die Waffen – ein selbstsicherer Gang, ein finsterer Blick, eine feste Stimme – er kannte die Regeln, die es nicht gab. Er konnte sich anpassen, untertauchen, ein Teil der Menge werden.
Mit plötzlicher Klarheit wurde ihm bewusst, dass Merkantos dieses Talent von ihm schon lange erkannt hatte und ihn deshalb für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Es war ein tröstlicher Gedanke, dass Merkanto nicht nur sein Können zu schätzen wusste, sondern ihm auch die Rettungsmission zutraute.
»Bleib auf dem Boden, Inkubus. Noch haben wir niemanden gerettet.«
Wenn da nur nicht Abarax wäre!
In Gedanken hörte Najaxis das Echo eines widerlichen, schadenfrohen Lachens.
Ernüchtert lief er weiter und sah sich um. Sperrte die Ohren auf, ob jemand von Eindringlingen erzählte, die man geschnappt hatte oder etwas ähnliches. Doch die Themen auf dem Marktplatz drehten sich um (soweit Naja das abschätzen konnte) alltägliche Dinge, um die heftigen Regenfälle, das Wachstum von Sternblumen und Heidekraut, Moos und Flechten, um die Preise für dies und jenes und darum, wie spät dieses Jahr die Schmetterlingswanderung sei. Kein Wort von Gefangenen, dabei hätte das Eindringen von Fremden in diese gut gehütete Stadt doch sicherlich Aufregung hervorgerufen.
»Vielleicht sind sie nicht gefangen«, meldete sich Abarax.
»Wo sollten sie sonst sein? Haben sie uns verraten?«
»Leise, verdammt!«, fluchte der Nachtmahr. »Es wäre möglich. Oder sie haben sich in der Stadt versteckt, um nicht entdeckt zu werden.«
»Dann ... gehen wir zurück?«, die Vorstellung gefiel Najaxis nicht wirklich. Er war für eine Rettungsmission ausgewählt und nun wollte er auch etwas leisten.
»Noch nicht. Vielleicht wurde ihre Gefangennahme auch verheimlicht.«
»So viel Ungewissheit!«, seufzte der Inkubus.
»So ist das im Krieg. Das ist eine Taktik, um –«
Abarax brach ab, etwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Najaxis spürte, wie der Nachtmahr seine Augen übernahm.
»He, was ist denn?«
Abarax' Präsenz zog sich vom linken Auge zurück, sodass Najaxis ebenfalls etwas sehen konnte. Es war nichts besonderes – in der Krone des großen Baumes flatterte ein blaues Tuch im Wind.
»Erkennst du es nicht?«, fragte Abarax ungeduldig. »Das ist der Stoff von Merkantos Robe!«
Najaxis legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf, wo hoch – hoch! – über ihnen die Robe im Wind flatterte.
»Verdammt«, sagte er anerkennend. Wenn er dies schaffte, so würde die Befreiung eine echte Heldenleistung sein. Mit einem Mal war er froh, dass wenigstens Abarax bei ihm war.