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»Der Vollmond muss über euren Pfaden scheinen«, sprach Kea, »dass er euch herführte, sodass Rait euch finden konnte. Er ist einer meiner mutigsten Hengste, Rait.«
Auf diese Worte hin trat ein junger, silberweißer Hengst vor und neigte bescheiden den Kopf.
Stella starrte das kleinere Mondhorn an. Ihr schwirrte immer noch der Kopf von all diesen fremdartigen Dingen, die sie erfahren hatte. Trotzdem erkannte sie in Rait das allererste Ziegeneinhorn, das ihnen begegnet war.
»Ihr habt uns erwartet?«, fragte Iljan und klang nicht besonders erfreut.
»Nicht erwartet. Gesucht«, verbesserte Kea und schüttelte den schmalen Hals, worauf die lange Mähne im Wind flatterte. »Wir hörten von einer abscheulichen Gruppe von Eindringlingen – blutrünstige Vampire, wilde Bestien, die schrecklichsten verdrehten Schattenwesen und sogar abtrünnige Wächter – und als wir hörten, dass Caryellê Assadar sich euch angeschlossen hat, da begannen wir zu hoffen. Lange verfolgten wir die Nachrichten, in der Hoffnung, dass euer Pfad euch in den Wald der Seen führen würde.«
Kea hielt inne und ließ den Blick über die Kinder der Sonne gleiten, doch die von ihr erhoffte Reaktion blieb aus.
Iljan war noch bleicher geworden und ballte die Hände zu Fäusten. Jackie knurrte: »Blutrünstige Bestien? Das sagen sie über uns?«
Merkanto bewahrte Ruhe und sah Kea direkt an. »Falls ihr hofft, dass wir diesen Beschreibungen gerecht werden, so muss ich euch enttäuschen. Wir haben es vermieden, zu töten, wann immer es möglich war.«
»Natürlich habt ihr das«, Kea blinzelte sanft. »Diese Berichte sind maßlos übertrieben, sie müssen es sein, denn alles andere wäre eine Gefahr für die Weltordnung der Licht- und Schattenlande. Was, denkt ihr, würden die Bewohner beider Lande davon halten, dass eine Gruppe bösartiger Nachtwesen friedlich durch das Sonnenreich zieht, mit einer einzigen, noblen Mission: Anerkennung und Akzeptanz, ein neues Leben, eine zweite Chance.« Hier blieb Keas Blick an Gudrun hängen. »Zu mindestens für die meisten dieser Gruppe ist dies das Ziel.«
Die sonst so freche Hexe senkte den Blick und schwieg.
»Wieso sollten wir keine zweite Chance bekommen?«, fragte Iljan traurig. »Niemand von uns hat sich dafür entschieden, was er oder sie heute ist.«
Stella betrachtete die gebeugte Gestalt des Vampirs und wurde unvermittelt von einer Welle großen Mitgefühls überspült. Sie konnte Iljans Verzweiflung sehen, seine Angst vor dem Scheitern, all die widerstreitenden Gefühle ob der Verantwortung für ihre Gruppe. Sie konnte sehen, wie hilflos sich der junge Vampir fühlte.
»Adamas«, sagte sie und Iljan hob erstaunt den Kopf. »Wir werden es schaffen.«
Einen Augenblick hielt Stella den Blick der schwarzen Vampiraugen fest. Sie verstanden einander, Stella verstand Iljans Zweifel und Iljan verstand ihren Trost – und ihren Treueeid, den sie ihm gleichzeitig schwor.
Die anderen hatten sich bei Stellas Worten umgedreht, doch sie verstanden wohl nicht, was zwischen dem Vampir und dem Einhorn vorging.
»Ohne Verbündete und Verpflegung schaffen wir überhaupt nichts!«, zischte Najaxis und riss Stella wieder zurück in die Wirklichkeit.
»Und genau deshalb haben wir euch hergeholt«, mischte sich die Mondhornkönigin Kea ein, vielleicht aus Angst, vergessen zu werden. »Wir wollen euch Ausrüstung und Verpflegung geben, außerdem sicheres Geleit bis zum Rand des Waldes.«
»Kommt diese Großzügigkeit mit einem Preis?«, fragte Merkanto misstrauisch.
»In der Tat«, antwortete Kea. »Ihr müsst unserer Geschichte zuhören – danach werdet ihr verstehen, wie viel größer eure Aufgabe ist und warum es uns so sehr kümmert, ob ihr scheitert oder triumphiert.«
Merkanto hob eine Augenbraue. »Das scheint ein lächerlich geringer Preis.«
»Er ist es nicht«, Keas Augen ruhten auf Iljan. »Denn unsere Offenbarung wird das Gewicht eurer Mission um ein Vielfaches erhöhen und jedem von euch eine unmögliche Last auferlegen. Seid ihr wirklich bereit?«
Die Kinder der Sonne zögerten nicht lange, sondern nickten. Stella überlegte müßig, dass neues Gewicht und neue Dringlichkeit vielleicht genau das war, was sie nun brauchten – denn in ihren Herzen standen viele bereits kurz vor dem Aufgeben.
»Der Mond ist, wie ich bereits sagte, ein wankelmütiges Gestirn. Viele bestaunen ihn des Nachts, doch würde ich euch fragen, ob der Mond dem Licht oder dem Dunkel verpflichtet ist, so wüsstet ihr keine Antwort. Sicher, die Werwölfe und Vampire leben nach seinem Lauf – doch ebenso die Mondelfen und einige Drachen der guten Seite. Der Mond leuchtet heller als die Sterne, er ist ein größeres Himmelslicht, und doch beobachten wir Monat für Monat, wie sein Licht wächst und schrumpft.
Der Mond, so weiß man, ist nur ein Gesteinsbrocken, der sich danach richtet, ob er im Licht oder im Schatten liegt. Darum nennen einige ihn Umira – die Wandelbare.«
Hier bewegte sich Stella unruhig und auch Gudrun zuckte zusammen. Die Hexe öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann ließ sie es bleiben. Alle Kinder der Sonne lauschten Keas Geschichte ehrfürchtig.
»Ja, Umira, wie auch die Pforte an der Grenze heißt. Und wir, die Mondhörner, nennen uns die Einhörner Umiras. Sie ist unsere Göttin, die Herrin der Gezeiten.
Es gibt einen Grund, warum wir Mondhörner unsere Zuflucht in ewiges Zwielicht hüllen und uns im tiefsten Unterholz verbergen. Es gibt einen Grund, warum kaum ein Wesen von uns gehört hat – der Grund liegt darin, dass wir Umiras Fähigkeit zur Wandlung verliehen bekommen haben.
Jedes Einhorn, das hier vor euch steht, besitzt, wie der Mond, auch eine dunkle Seite, derer wir uns schämen, solange unser Fell in Gold und Silber getaucht ist. Doch das ändert sich. Unser gesamtes Wesen ändert sich, wenn sich der Schicksalsmond wandelt, jener unsichtbare Mond unseres eigenen Lebens. Mein persönlicher Schicksalsmond steht schon ewig im Vollmond, sodass ich die Königin unserer Herden im hellen Land bin. Doch auch in den dunklen Landen gibt es eine Herde jener, deren Monde im Neumond stehen. Rait selbst, der euch hergebracht hat, war noch vor kurzem verdunkelt.«
»Wollt ihr damit sagen«, unterbrach Merkanto höflich, der es nicht länger aushielt, »dass Rait bis vor kurzem noch jenseits der Grenze gelebt hat?«
»Genau«, bestätigte Kea. »Er war ein Schattenwesen, ein Neumond-Einhorn, ehe ihn das Licht erreichte. Diese Verwandlung liegt außerhalb unseres Verstehens, wir können es auch nicht beeinflussen. Doch ist es das Erbe unseres Volkes, dass wir während unseres Lebens zwischen Licht und Dunkel wandeln, im Zwielicht verborgen vor den Augen aller Wesen.«
»Ihr wechselt die Seiten!«, rief Iljan aus. »Ihr seid der Beweis dafür, dass es gehen kann!«
»Von Beweisen würde ich nur höchst ungern sprechen«, wandte Kea ein. »Wir haben weder auf Seiten der Dunkelheit noch auf Seiten des Lichts Verbündete oder gar Freunde; akzeptiert wurden wir nirgendwo. Deshalb ist eure Mission für uns so wichtig: Ihr müsst für uns den Beweis erbringen, dass es eine Rückkehr vom Schatten gibt. Ihr müsst beweisen, dass die Nacht keine verderbende, korrumpierende Fäulnis, sondern ein gleichwertiger Gegner des Guten ist. Ihr, Kinder der Sonne, müsst zeigen, dass das Herz das Wesen bestimmt und nicht umgekehrt.«
Die Kinder der Sonne schwiegen. Kea hatte nicht gelogen – diese Offenbarung erlegte ihnen ein schier untragbares Gewicht auf. Es war an ihnen, die Grundfesten der Welt zu erschüttern, indem sie allen Wesen eine neue Wahrheit zeigten.
Stella trat vorsichtig nach vorne.
»Herrin Kea«, sagte sie höflich, unsicher, wie man eine Königin anzusprechen hatte. »Ich habe eine Frage. Seit einiger Zeit besitze ich eine neue und verwirrende Fähigkeit, die als Umira-Fähigkeit bezeichnet wurde. Ich kann … mein Wesen wandeln. Ich kann zu Feuer werden, zu Gift und … nun, zu Alkohol. Wisst ihr etwas über diese Gabe?«
Kea betrachtete Stella lange und schweigend. Dann neigte sie den Kopf. »Umira, so nennen wir unsere Gabe, die Seiten zu wechseln. Ich habe natürlich davon gehört, dass es noch mehr Wandlungen geben soll, solche, wie du sie beschreibst, doch hielt ich diese Berichte für Mythen und Verklärungen der Wahrheit.«
Stella neigte den Kopf. »Ich kann bestätigen, dass es nicht nur Geschichten sind.«
Kea nickte. »In dem Fall bist du mit einer äußerst seltenen Gabe beschenkt, Stella Cantici. Ich weiß nicht, warum der Mond dir solche Fähigkeiten schenkt, noch zu welchem Zweck. Wenig ist über die Umira-Fähigkeit bekannt, doch sie kann euch auf eurer Fahrt hilfreich sein.«
»Wie das?«, fragte Gudrun. Sie und auch die anderen waren neugierig näher gekommen und hatten einen Kreis um Stella und Kea gebildet.
Kea lachte glockenhell. »Es ist eine mächtige Waffe, natürlich. Jene mit der Umira-Fähigkeit können die Eigenschaften bestimmter Elemente absorbieren, sie nutzen und sie sogar wieder hervorrufen. Wenn du, Stella, bereits einmal im Feuer gerannt bist, Gift in deinen Adern oder Alkohol in deinem Blut hattest, so kannst du diese Gaben immer wieder hervorrufen und gegen deine Feinde oder für deine Freunde einsetzen.«
»Wirklich?«, fragte Stella.
Kea seufzte. »So heißt es jedenfalls in den Legenden. Das Wissen über die Fähigkeit, so es denn noch existiert, wird wohl in der Bibliothek des weißen Schlosses aufbewahrt. Wenn ihr dort angelangt, werdet ihr mehr erfahren können, dessen bin ich sicher.«
»Wundervolle Aussichten«, knurrte Gudrun gedämpft. »Das Wissen wäre uns auf dem Weg dorthin mehr von Nutzen!«
»Wohl wahr«, entgegnete Kea ungerührt. »Doch mehr vermögen wir euch bei Weitem nicht zu geben. Wir werden es in Vorräten wieder gut machen, so hoffe ich. Ruht euch aus, denn morgen brechen wir auf.«
Obwohl das Mondhorn dies mit keiner Geste zu erkennen gab, waren ihre letzten Worte ein Befehl. Iljan verneigte sich höflich und sorgte dann dafür, dass die Kinder der Sonne in ihre Grasnester zurückkehrten. Sie waren nicht lange wach gewesen, doch die Entbehrungen der letzten Tage forderten nun doppelten Tribut. Selbst Iljan fühlte sich zerschlagen und war bereits wieder müde, den anderen ging es ähnlich. Vielleicht lag es auch an dem ewigen Zwielicht der Lichtung, das ihnen einen anbrechenden Abend vorgaukelte.
Jedenfalls lag Iljan bald wieder in der geschützten Höhle und hatte den Blick nach oben gewandt, wo hinter den verzweigten Blättern ein ewig gleicher, sternenloser Himmel zu erkennen war. Welchen Zauber die Mondhörner auch verwendeten, um diesen Ort zu verbergen, es war ein trostloser.
Iljan suchte vergeblich nach Sternbildern und ließ seine Gedanken kreisen. Sie hatten großes Glück gehabt, auf Verbündete im Sonnenreich zu treffen. Mehr Sorgen bereitete ihm die weitere Reise, die noch zahlreiche Gefahren, Bedrohungen und Schrecken versprach. Könnte er es verkraften, noch mehr Mitglieder seiner treuen Gruppe zu verlieren? Jackie … oder Caryellê?
Iljan wälzte sich auf die Seite, um auf die Lichtung zu sehen, wo die kleinen Mondhörner lautlos und grazil über die Steine kletterten.
Über diesen düsteren Gedanken und unwirklichen Bilder schlief er schließlich ein.
Der Aufbruch gestaltete sich als aufwendiger Zug über die Lichtung der Mondhörner. Die ganze Herde, so schien es, hatte sich als Gewimmel heller Weißtöne zu beiden Seiten des Pfades versammelt, der in ihrer Vorstellung wohl direkt vor das Weiße Schloss führte. Kea verabschiedete die Kinder der Sonne persönlich, nachdem sie ihnen die versprochenen Vorräte gegeben hatte: Es waren Pflanzen, Früchte und Blüten verschiedenster Arten, dazu Wasser aus den zahlreichen Quellen der Lichtung, das Gudrun in ihre Flasche hatte füllen dürfen. Auch waren sie mit verschiedenen Dingen ausgestattet worden, die sich wie Treibgut ausnahmen: Mäntel und Schlafsäcke, hier einen Feuerstein, dort ein paar alter Wanderschuhe – es wirkte wie Dinge, die die Wanderer des Waldes zurückgelassen oder verloren hatten.
Stella kam sich in Gegenwart der kleineren Mondhörner schon von vorneherein groß und klobig vor, laut wie ein Bär nach dem Winterschlaf und dabei so ungeschickt wie ein junges Kitz. Nun musste sie Rait, dem Einhorn, das sie hierher gebracht hatte, durch das Spalier von Mondhörnern folgen. Während Rait seine Hufe sicher auf die Steine und Hügel setzte, rutschte und schlitterte Stella darüber und war nur froh, dass sie den Rand der Lichtung erreichte, ohne in den Matsch zu fallen. Die Lichtung blieb hinter ihnen zurück, bald verhallten auch die letzten Rufe der Mondhörner. Nur Rait blieb bei ihnen, um sie auf sicheren Pfaden zum Rand des Waldes zu führen.
Sie reisten schnell und unbemerkt, froh, wieder in das Licht von Sonne und Mond eintauchen zu können. Rait trieb sie nicht zur Eile, nicht mit Worten, doch hielt er des Abends erst an, wenn sich die Kinder der Sonne kaum noch auf den Beinen halten konnten, und das Mondhorn stand schon vor den ersten Sonnenstrahlen auf und wartete darauf, dass die anderen ihm weiter folgten.
Er war ein wenig gesprächiger Hengst und während ihrer Reise erfuhr Stella nur wenig von ihm, das sie nicht auch schon von Kea wusste: Rait hatte bis vor kurzem im Schattenland gelebt und erst vor wenigen Wochen hatte sich sein „Schicksalsmond“ in einen Vollmond verwandelt, worauf er in das Sonnenland gewechselt war. Doch darüber, wie dieser Wechsel ablief, ließ er kein Wort verlauten.
Schließlich – sie waren beinahe eine Woche gewandert – schimmerte zwischen den Bäumen vor ihnen ein Stück grüner Wiese hindurch. Stella beschleunigte ihre Schritte, die anderen taten es ihr gleich, dann rannten sie alle auf das Sonnenlicht zu und lachend hinaus auf die freie Fläche. Nach so vielen Tagen unter der Blätterkrone war der Wald zu einem klaustrophobischen Tunnel verkommen, einer endlosen Folge von Birkenstämmen. Der Wind, der über die Grasebene pfiff, war kühl, stark und roch nach Freiheit.
Rait war ihnen nicht auf die Wiesen gefolgt. Stella sah zu ihm zurück und konnte noch beobachten, wie der junge Hengst seinen Kopf neigte – dann war er, schneller als ein Windhauch, in den bläulichen Schatten des Waldes verschwunden.
Stella blickte zum Wald und ihre Freude verflüchtigte sich. Nun waren sie wieder auf sich allein gestellt. Und vor ihnen lag eine gefährliche, offene Ebene.
Ihre Reise war noch nicht vorbei.