https://www.deviantart.com/ifritnox/art/726439638
Nejakai hatte sich von dem überraschenden Angriff des Nachtmahrs erholt und riss die Arme hoch, während Abarax den anderen folgte. Gleißendes Licht schoss auf den Nachtmahr zu, um ihn zu verschlingen. Cary war wie erstarrt, als sie die Szene mit aufgerissenen Augen verfolgte.
Doch dann schoss Terziel aus dem Himmel wie eine Möwe, die einen köstlichen toten Fisch erblickt hat und diesen vor allen anderen erreichen will. Er war schnell, verschwamm zu einem einzigen, weiß-goldenen Streifen im dunklen Himmel.
Der Engel prallte in den Lichtstrahl und es folgte eine Explosion, die Cary von den Füßen riss.
Sie hörte und sah nichts mehr, spürte nur den Boden, der unter ihr zu schwanken schien. Sie schüttelte den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben und riss die Augen auf.
Sie sah verschwommen, dass Stella an ihr vorbei rannte, eine undeutliche Ansammlung von Orangetönen. Dann sah sie einen Lichtstrahl, der offenbar von Terziel gespiegelt wurde und Nejakai davonspülte, als wäre sie ein Stück Strandgut im Sturm. Die weiße Magierin verschwand.
Nun hatten sich Carys Augen erholt und sie konnte Terziel sehen, der aus dem Himmel fiel. Weiße Federn hinterließen eine Spur zwischen den Wolken, aber noch bevor der Engel aus den Boden aufschlug, war ein dunkler Schatten heran und Abarax hüllte Terziel ein.
Dann hörte Cary auf einen Schlag die durcheinander wirbelnden Schreie wieder. Sie rappelte sich auf und lief zum Wald, noch immer halb betäubt. Sie hoffte, dass Terziel noch lebte, aber sie wusste es nicht.
Am Waldrand warteten Najaxis, Iljan und Gudrun, die bereits alles Gepäck trugen. Wortlos flüchtete die Gruppe in den Wald, ein wilder Schrei von den Wiesen folgte ihnen. Cary blicke zurück. Der Zentaur humpelte ein paar Schritte hinter ihnen her, doch Sophram, so schien es, sagte einige Worte und Faymurk blieb stehen. Dann wandte der Zentaur sich ab und hielt offenbar nach Nejakai Ausschau.
Sie liefen, noch ganz berauscht vom Adrenalin des Kampfes, bis der Waldrand nicht mehr zu sehen war. Merkanto war der erste, der zusammenbrach; er fiel der Länge nach auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Gudrun warf ihr Gepäck neben dem Zauberer ab und drehte ihn ächzend auf den Rücken, um nach seinem Atem zu lauschen. Jackie, wieder in Menschenform, stolperte gegen einen Baum und rutschte daran herunter, dann blieb sie zitternd und zusammengekauert liegen. Stella trat schnaubend zu ihnen, ihr Feuer war erloschen. Iljan warf eine Decke über Jackie, dann wandte er sich Abarax zu.
Der Nachtmahr trat in Menschenform zu ihnen, Terziel wie ein Kind auf dem Arm tragend. Behutsam legte er den Engel auf den Boden.
»Was … was ist mit ihm?«, fragte Cary und zwang sich, zu ihnen zu gehen. Die Angst machte ihre Knie weich. Wenn Terziel gestorben war, so war es ihre Schuld. Sie hatte ihn ziehen lassen, hatte ihn allein zu den Feinden gehen lassen, ohne Waffen und Schutz.
Abarax beugte sich schweigend über den Engel und legte ihm eine graue Hand an die Wange. Cary wagte nicht zu atmen.
»Er lebt«, sagte Abarax dann rau. »Ich denke, er wird sich erholen.«
»Und Merkanto?«, fragte Cary nun.
Der Zauberer antwortete selbst. Er reckte eine Hand mit zwei gestreckten Fingern in den Himmel wie einen Salut. »Bin in Ordnung. Nur alt. Tschuldigung.«
Mit einem erstickten Schluchzer sackte Cary auf den Boden. Ihre Knie hatten vor lauter Erleichterung nachgegeben. Sie spürte Tränen auf ihren Wangen und musste vor lauter Verlegenheit lachen – das fehlte ja noch, dass sie hier zusammenbrach.
Sie spürte einen Arm um ihre Schultern und wurde von jemandem in eine Umarmung gezogen. Erleichtert ließ sie sich fallen, wenigstens für den Moment. Sie hatte zu viele Ängste um ihre kleine Gruppe ausgestanden, denn inzwischen waren ihr alle Kinder der Sonne ans Herz gewachsen.
Erst später erkannte sie, dass es Iljan war, der sie schweigend tröstete, während die anderen ein Nachtlager aufschlugen.
Merkanto erwachte von der Kälte der ersten Morgenstunden, die von einem eisig kalten Regenguss begleitet wurde. Stöhnend setzte er sich auf und fand sich auf dem Erdboden liegend, wie er am Vortag hingefallen war. Kleine Bäche aus Schlamm rannen zwischen den anderen hindurch, bis auf Gudrun weckte der kalte Regen sie alle.
Schleunigst hängten sie eine Decke in die Zweige eines Baumes, um ein provisorisches Zelt zu erschaffen, doch der Stoff wurde innerhalb weniger Minuten durchtränkt. Also hockten sie bibbernd im strömenden Regen, der immer stärker und stärker wurde, bis selbst Gudrun aufwachte und sich halb ertrunken zu ihnen rettete.
Sie saßen auf einem kleinen Hügeln, einer Insel inmitten der strömenden Fluten, an der Seite des immer noch bewusstlosen Terziels. Abarax beugte sich über den Engel und strich ihm wieder und wieder über die Stirn wie eine Mutter, die ein vom Fieber erschöpftes Kind beruhigt. Es war etwas, das so gar nicht zu dem düsteren Nachtmahr zu passen schien.
»Reizendes Wetter«, brummte Merkanto.
»Es wird sich bessern«, sagte Cary bestimmt. »Es ist nur ein Vorbote der Regenzeit.«
Die anderen sahen Cary entsetzt an. »Regenzeit?!«
»Nun ja«, sie zögerte einen Moment. »Es gibt eine Zeit, da es im Dschungel mehrere Monate am Stück regnet. Die Regenzeit beginnt bald.«
»Na toll, das musste ja so kommen!«, fauchte Gudrun und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Brr!«
Doch der Regen ließ tatsächlich bald nach, ebenso plötzlich, wie er begonnen hatte. Nun war die Insel unter der durchnässten Decke der feuchteste Ort, also traten sie nach draußen auf den durchweichten Boden und Abarax trug Terziel unter dem tropfenden Stoff hervor.
»Wie geht es ihm?«, erkundigte sich Cary bei dem Nachtmahr.
»Diese Magierin hat ihn ziemlich erwischt«, antwortete Abarax. »Aber es geht ihm schon besser. In ein paar Tagen ist er wieder ganz der Alte.«
Cary zögerte einen Moment, als wollte sie noch etwas sagen, dann nickte sie und ging davon.
»Wir werden eine Pause machen, solange Terziel sich erholt. Merkanto, du kannst wohl auch etwas Ruhe gebrauchen.«
»Es geht schon, wirklich«, brummte Merkanto zur Antwort. »Ich werde nur zu alt für dieses ganze Herumgerenne.« Er hasste sich bereits für den Schwächeanfall am Abend zuvor.
»Da wir schon einmal wach sind,«, fuhr Cary fort, ohne seinen Einwurf zu beachten, »können wir bereits nach einem besseren Lagerplatz in der Nähe suchen. Wir brauchen etwas, wo wir vor dem Regen geschützt sind, am besten vielleicht eine Hütte aus Zweigen und Blättern. Und wir werden Wachen brauchen, falls die Weißen Wächter uns verfolgen. Jackie, kannst du das übernehmen? Warne uns einfach, falls die drei den Wald betreten.«
Jackie nickte und ging wortlos hinter einem Farnwedeldickicht in Deckung. Wenig später schoss eine rote Wölfin aus den Farnen hervor und schnürte den Pfad zurück, den sie gekommen waren. Iljan ging in das Dickicht und kam mit Jackies Kleidung wieder hervor.
Sie verteilten sich im Wald. Najaxis war es, der auf einen guten Lagerplatz traf, eine kleine Anhöhe unter einer Ansammlung großer, breitblättriger Palmenbäume. Deren fleischige Blätter hielten Regen und Sonnenlicht vom Boden ab, sodass zwischen den fünf dicken Stämmen ein großer Platz ohne Pflanzenbewuchs entstand. Allein in der Mitte der Insel gab es einen kleinen Tümpel; die Bäume wiesen das Wasser nach außen ab, doch in ihrer Mitte liefen mehrere Blattspitzen übereinander aus und so kam hier ein wenig Regenwasser auf den Boden.
Merkanto half tatkräftig dabei, den Platz zu befestigen, indem sie Zweige und Äste als Barrikaden zwischen die Stämme schichteten. Wie um sich von seiner Schwäche nach dem Kampf reinzuwaschen, arbeitete er doppelt so viel wie alle anderen. Sie kamen schnell vorwärts und erschufen eine Art Kokon aus Holz, der sich über ihren Köpfen beinahe schloss, nur über dem Tümpel ließen sie eine Lücke. Dann hingen sie ihre durchfeuchtete Ausrüstung an Ästen in der Nähe auf. Es wurde ein warmer Tag, während ihr Gepäck also trocknete, badeten sie nacheinander in dem Tümpel. Es war das erste Mal seit ihrer Reise, dass sie mehr als nur das nötigste ablegten, doch behielten sie wenigstens ihre Unterwäsche an. Für die meisten kostete es ein wenig Überwindung, nur bei Najaxis machte es überhaupt keinen Unterschied.
Nach dem Baden teilten sie sich ihre Vorräte, Stella lief davon, um Jackie ihren Anteil zu bringen. Noch etwas später lagen sie in den wenigen Sonnenflecken im Dschungel und ließen sich trocknen.
»Auf den Wiesen ist alles still«, berichtete Jackie.
Der Abend senkte sich über den Dschungel und sie hatte ihren Wachposten aufgegeben.
»Gut. Das Essen ist gleich fertig«, rief Gudrun fröhlich, die am Feuer hockte und Brote belegte.
»Ich vermisse Fleisch«, seufzte Jackie wehmütig und Iljan drückte sie einen Moment an sich.
»Wir werden wieder Fleisch bekommen«, versprach er.
»Werden wir das wirklich?«, fragte Jackie im Flüsterton. »Ich denke, die Sonnenländer essen kein Fleisch.«
Nun war es an Iljan, leise zu seufzen. »Ich weiß es nicht, Jackie. Vielleicht gewöhnst du dich auch daran.«
»Wenn ich erst einmal vom Wolfsfluch befreit bin, nehme ich ein Leben ohne Fleisch gerne in Kauf!«, antwortete sie zu seiner Verwunderung mit einem Lächeln. Es gab also immer noch nichts, das Jackies Optimismus trüben konnte.
Iljan drückte ihre Schulter nochmals fest. »Ich bin froh, dass du meine Freundin bist, Jackie!«
Sie grinste ihn an. »Ich weiß. Du brauchst mich.«
Gudrun schlenderte zu Abarax herüber.
»Du hast echt 'nen Narren an dem Engel gefressen!«
Abarax drehte sich um und schenkte ihr einen bösen Blick. »Was willst du, Gudrun?«
»Dir dein Essen bringen«, sie streckte ihm einen Viertellaib Brot mit etwas Käse hin. »Die anderen machen sich Sorgen, du hast dich den ganzen Tag über nicht von der Stelle gerührt.«
Abarax nahm das Essen mit einem Seufzen an. »Es geht sie nichts an.«
»Hör mal, es geht nicht darum, ob ihr beiden ein Pärchen seid, das ist vollkommen egal. Aber –«
»Wir sind doch kein Pärchen!«, fuhr Abarax erbost auf. »Wir sind – denken alle, dass wir verliebt wären? Gut, hol die anderen, ich erklär es euch.«
Gudrun hob beide Augenbrauen. »Echt?«
»Beeil dich!«, knurrte Abarax.
Der Rest ihrer Gruppe hatte sich in Lichtgeschwindigkeit um Abarax versammelt.
»Wir sind nicht zusammen«, knurrte Abarax direkt als Einleitung. »Kein verliebtes Pärchen. Ich weiß nicht, wieso ihr das glaubt.«
Alle Augen richteten sich auf Gudrun.
»Ich weiß genau, wer das glaubt, und ich bin es nicht«, sagte Iljan.
»Ich hab's auch gedacht!«, meldete sich Najaxis aus dem Hintergrund.
Abarax seufzte. »Terziel ist mein Bruder.«
Stille legte sich über die Gruppe. Man hörte die Blätter um sie herum zu Boden fallen und das leise Gluckern des Tümpels. Irgendwo rief ein seltsamer Vogel und kleine Wesen raschelten im dichten Unterholz.
»Ich habe mich den Kindern der Sonne angeschlossen, weil ich wusste, dass ich ihn hier treffen würde«, erzählte Abarax weiter. »Wir wurden vor Jahren getrennt, damals waren wir beide Menschen. Er ist zu einem Engel geworden, ich dagegen …«
Jetzt sah er die anderen mit festem Blick an. »Das ist unser großes Geheimnis, keine heimliche Liebe.«
»Wäre aber romantischer gewesen«, murrte Gudrun.
In diesem Moment regte Stella sich unruhig, warf den Kopf hin und her und trampelte schnaubend auf der Stelle. Das Feuer war längst erloschen, nun, da sie diese Form unter Kontrolle hatte. Sie warf Abarax einen Blick zu.
»Das passt nicht«, schnaubte das Einhorn. »Deine Geschichte passt nicht zu deinem wahren Namen.«
Abarax sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Und was ist mein wahrer Name, Stella?«
»Fratricida«, antwortete Stella leise. »Der Brudermörder.«
Abarax nickte ihr zu, mit einem verschlossenen Gesichtsausdruck, wie ein Verurteilter, dessen Freund soeben den vernichtenden Beweis vorgebracht hatte, als Ausdruck seines Verzeihens nicken würde.
»Diese Geschichte werde ich ein anderes Mal erzählen, denn sie erfordert viel Zeit. Jetzt muss ich mich um Terziel kümmern.«
Die anderen verstanden, nickten, und entfernten sich.
»Hättet ihr das gedacht?«, fragte Gudrun in gedämpftem Tonfall, sobald Abarax außer Hörweite war. Sie hatten sich ein wenig von dem geschützten Haus entfernt, wo Abarax den Engel pflegte.
»Natürlich nicht!«, schnaubte Najaxis. »Wer rechnet denn mit sowas?«
»Es war ja schon schwer genug, zu glauben, dass unser Nachtmahr sich für irgendjemanden als sich selbst interessiert«, brummte Merkanto. »Fragt sich nur, was er mit Terziel vorhat, wenn er schon so einen düsteren Namen trägt.«
»Genug davon!«, unterbrach Iljan scharf. »Es ist ihre Geschichte, das geht uns nichts an.«
»Aber verdächtig ist es schon«, Gudrun wühlte sich zwischen Merkanto und Najaxis nach vorne. »Was, wenn Abarax nur hier ist, um Terziel zu töten? Weißt du, ob er hinter deiner Mission steht, Iljan, und nicht aus anderen Gründen mitgekommen ist?«
»Ich weiß nur, was ich sehe«, gab Iljan zurück. »Und im Moment kümmert Abarax sich um Terziel. Das ist, was zählt.«
»Abgesehen davon ist Terziel noch lange nicht hilflos«, mischte sich Cary ein. Ihr Tonfall machte klar, dass sie keine weiteren Wiederworte akzeptieren würde.
Gudrun schnaubte enttäuscht und trat gegen eine Wurzel.
»Sagt mir später aber nicht, ich hätte euch nicht gewarnt!«, brummte sie in sich hinein.