https://www.deviantart.com/ifritnox/art/728854238
Jackie erwachte schon früh vom Kreischen der Dschungelvögel, die in den Baumwipfeln einen solchen Radau machten, dass man glauben könnte, dass Ende der Welt stünde bevor.
Die anderen schliefen seelenruhig weiter; sie hatten sich während der letzten Tage an den Lärm gewöhnt. Ein Gedanke, der Jackie nur darin bestärkte, dass das Wolfsdasein nichts für sie war – Werwölfe hatten ein zu empfindliches Gehör.
Sie verließ das Lager leise und trat unter die Blätter der Bäume, von denen es beständig nach unten tropfte. In der Nacht hatte es geregnet, die grünen Wipfel über ihr waren immer noch voller Nässe. Jackie streckte sie ausgiebig, legte ihre Kleidung ab und sprang in einen der vielen kristallklaren Tümpel zwischen fleischigen Farngewächsen.
Die Augen geschlossen legte sie den Kopf in den Nacken und spürte die schwache Wärme der ersten Sonnenstrahlen im Gesicht, während sie den Duft der wilden Blumen tief einatmete. Das Wasser war eisig kalt, doch sie entspannte sich trotzdem.
Sie hörte Schritte und wirbelte herum. Sie fürchtete halb, dass es Nejakai und die Verfolger sein könnten, die sie unvermittelt aufgestöbert hatten – dabei hatten sie seit Tagen keine Spur der Weißen Wächter gesehen – doch es war jemand anderes, mit dem Jackie fast ebenso wenig gerechnet hätte.
»Terziel!«, rief sie aus, als sie den Engel erkannte. »Du bist wach!«
»Oh, hallo, Jackie«, der Engel wandte verlegen das Gesicht ab. Er wirkte immer noch blass und kränklich, doch dafür, dass er bis gestern in einer Art Koma gelegen hatte, war er erstaunlich vital. »Ich wollte nicht stören.«
»Du störst doch nicht. Gib mir nur eine Sekunde«, Jackie hatte sich daran erinnert, dass sie nackt war. Schnell sprang sie aus dem Wasser und wickelte sich in das grüne Tuch, das sie immer bei sich trug. Sie trat zu Terziel.
»Wie geht es dir? Wir haben uns mächtig Sorgen um dich gemacht!«
»Es geht mir schon besser«, antwortete der Engel ausweichend. »Diese Magierin hat mich ziemlich schwer erwischt. Wie lange war ich … bewusstlos?«
»Heute ist der vierte Tag seit dem Kampf auf dem Hügel«, berichtete Jackie. »Bist du sicher, dass du schon herumlaufen solltest?«
»Ich bin ein Engel«, sagte Terziel. »Wir können uns im Traum selbst heilen.« Seine Stimme, zuerst steif und förmlich, wurde mit einem Mal fröhlicher. »Ich bin wieder ganz der Alte, nur etwas hungrig!«
»Warte hier. Wir haben einen tollen Flecken in der Nähe gefunden, wo allerhand Fruchtbäume wachsen. Ich hole dir etwas zum Frühstücken!«, Jackie sprang davon.
Nach und nach wachten alle auf. Merkanto hielt sich etwas abseits im Schatten und beobachtete Jackie und Terziel, die sich lachend über einige Früchte hermachten.
Dem Zauberer bereitete der trügerische Frieden Sorgen. Die letzten Tage waren ruhig gewesen, schließlich hatte Jackie sogar ihre Wache am Waldrand aufgegeben.
Er wartete ungeduldig, bis Caryellê aufgestanden war und gefrühstückt hatte. Dann ging er zu ihr.
»Wir werden zu unvorsichtig«, brummte er statt einer Begrüßung. »Ich finde, dass wir bald weiter sollten. Terziel ist wach und offensichtlich wieder gesund, es gibt keinen Grund, weiter hier zu bleiben!«
Cary sah ihn mit ihren unergründlichen Augen an. »Ich weiß nicht, ob Terziel schon bereit für eine lange Wanderung ist.«
»Diese Wächter haben uns doch wohl nicht vergessen«, zischte Merkanto, darauf bedacht, dass keiner der anderen ihr Gespräch belauschte. »Sie werden uns suchen. Wir vergeuden hier wertvolle Zeit!«
»Sie werden sich um ihre Magierin kümmern müssen«, sagte Cary ruhig. »Terziel hat ihre Macht nur gespiegelt und dabei einen Bruchteil von dem abbekommen, was Nejakai erwischt hat. Ich verstehe deine Sorge, Merkanto, aber wir haben Zeit. Gib ihnen noch ein, zwei Tage.«
Der Zauberer seufzte und nickte widerstrebend, obwohl er sich fühlte, als würde jede einzelne Sekunde immer länger und länger werden, während die Zeit gleichzeitig davonraste. Frustriert ließ er sich in einiger Entfernung ins Gras sinken.
Cary ging zu Terziel, um den sich inzwischen auch alle anderen (außer Merkanto) versammelt hatte.
»Mir geht es gut«, sagte er zur Begrüßung, als Cary näher kam. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du das fragen wolltest.«
Cary lächelte und setzte sich neben ihn. »In der Tat. Und es freut mich, zu hören, dass du keine bleibenden Schäden davongetragen hast.«
»Das kann ich noch nicht sagen«, entgegnete Terziel. »Manche Wunden werden erst mit der Zeit offenbar. Aber ich fühle mich gut und sogar stark genug für eine kurze Wanderung.«
Er sah Cary fragend an.
»Wir werden weiterziehen«, antwortete sie auf seine stumme Frage. »Aber noch nicht heute. Vielleicht morgen oder übermorgen.«
»Das freut mich, denn nach einer langen Wanderung ist mir noch nicht zumute«, sagte Terziel.
Cary lächelte und schwieg, dafür rührte sich Gudrun.
»Genug höfliche Worte jetzt! Ich will endlich die ganze Geschichte erfahren! Wo ist Abarax – los, ich will alles wissen!«
Terziel sah auf und starrte den Nachtmahr alarmiert an. »Wovon redet sie?«
»Ich hab es ihnen gesagt«, antwortete der Nachtmahr ruhig. »Ich hatte keine andere Wahl, sie dachten, wir wären verliebt.«
Terziel runzelte die Augenbrauen und starrte in den Kreis. Gudrun wurde nicht einmal rot.
»Aber was hast du ihnen alles gesagt?«
»Nicht mehr als nötig: Dass wir Brüder sind und vor langer Zeit getrennt wurden«, sagte Abarax. »Mehr wollte ich nicht erzählen, ohne dich zu fragen.«
Terziel seufzte und seine Schultern sackten ein Stück nach unten. »Tja, das hat euch allen wohl einen großen Schreck eingejagt, wie?«
»Kann man nicht so sagen«, warf Gudrun ein. »Ich war mehr enttäuscht.«
»Ich verstehe es nicht«, meldete sich Stelle leise. »Wie können Wesen von zwei verschiedenen Seiten verwandt sein?«
Abarax tauschte einen Blick mit Terziel und der Engel nickte.
»Es ist eine komplexe Sache«, erzählte der Nachtmahr dann. »Ihr müsst dazu wissen, dass wir beide alt sind, selbst nach dem Maßstäben von Elfen. Als wir geboren wurden, gab es noch mehr Menschen als Fabelwesen. Doch es ist so, dass Menschen zu verschiedenen Fabelwesen werden können.«
»Umira«, sagte Stella und Abarax nickte. »So nennt man diese Fähigkeit heute, ja. Menschen konnten damals frei zwischen den Seiten wechseln, aber manchmal … blieben sie hängen. Wenn man sich zu lange im Dunkeln aufhält, dann kriecht der Schatten in das eigene Herz. Und schlimmer noch: Wenn man zu tief in die Nacht blickt, dann blickt die Nacht auch in dich hinein. Eine besondere Tat – besonders gut oder besonders böse – kann dich genauso verdammen wie hundert Jahre im Licht oder im Schatten.«
Inzwischen war auch Merkanto leise hinzu gekommen und lauschte aufmerksam. Die Geschichte von Terziel und Abarax war etwas, das alle Kinder der Sonne interessierte, so eng schien sie mit ihrer eigenen Mission verknüpft.
»Die Wandlung kann ebenso schleichend sein, man wird blasser zum Beispiel, kälter und hartherziger, und der Hunger wächst, bis man eines Tages merkt, dass man ein Vampir ist. Andere Wandlungen verlaufen durch magische Transformationen. Wenn man auf der falschen verzauberten Wiese schläft, kann man plötzlich als Einhorn erwachen.«
»Wenn es so einfach ist, wieso weiß dann niemand davon?«, fragte Cary, die sich nicht mehr beherrschen konnte.
»Es ist nicht einfach, überhaupt nicht«, berichtigte Abarax. »Ich glaube, heute gibt es keine magischen Wiesen mehr, die dich verwandeln. Es gibt nur noch wenige, die so alt sind wie Terziel und ich, und selbst wir erinnern uns kaum noch an unser vorheriges Leben. Die Meisten, die das Wissen noch besaßen, sind im Ewigen Krieg gestorben, im Kampf von Licht und Dunkel. Aber mehr noch, das Wissen verblasst mit der Zeit. Das frühere Leben wird zu einem alten Traum, farblos und surreal. Ich kann mich noch so genau erinnern, weil sich dieser Moment für immer in mein Gedächtnis gebohrt hat. Zwingt mich nicht, darüber zu sprechen. Verblendet von flüsternden Stimmen habe ich etwas Unverzeihliches getan, das mich und meinen Bruder für immer trennen sollte.«
»Er hat mich umgebracht«, sagte Terziel leichthin. »Es war irgendeine Geschichte von Eifersucht, weil ich meinen kleinen Bruder nicht beachtet habe.«
Abarax starrte den Engel an. Der Nachtmahr war hellgrau geworden.
»Ich …«, stammelte er.
»Wir waren Kinder«, erzählte Terziel unbeirrt weiter. »Nachdem ich tot war, wurde ich irgendwie zurückgeschickt. Ich habe mich nie an viel erinnert, nur an eine Welt voller Licht und Dunkelheit. Ich musste eine Entscheidung treffen und entschied mich, Abarax zu verzeihen. Als ich wieder aufwachte, hatte ich diese hier.« Er wedelte mit den Flügeln.
»Ich dachte, du wärst tot und für immer fort!«, platzte Abarax heraus. »Wie hast du … nein, also wie konntest du wieder aufwachen?«
Terziel zuckte mit den Schultern. »Du hast mich wohl auf einer verzauberten Wiese umgebracht. Jedenfalls ist das die Art, wie Engel entstehen. Wir sind tote Menschen mit guten Herzen. Was ich aber sagen muss, ich dachte, du wärst schon lange tot. Gehängt für den Brudermord oder erschlagen in irgendeinem Kampf.«
»Ich hatte Glück«, brummte Abarax. »Ich kann mich immerhin in eine Wolke verwandeln und fliehen.«
Iljan war nach dieser Geschichte ziemlich sprachlos, wie auch der Rest der Zuhörer. Wer hätte dem verschwiegenen Nachtmahr und dem stolzen Engel auch eine solche Vergangenheit zugetraut? Andererseits waren sie alle anders, jeder auf seine Art. Die Kinder der Sonne sowieso, doch auch Cary, Stella und Terziel waren nicht wie gewöhnliche Lichtwesen. Während Iljan zuhörte und besonders in der Stille, die der Erzählung folgte, wurde ihm mit einem Mal bewusst, wie unwahrscheinlich ihre Geschichte bis hierher war. Konnte es wirklich allein der Zufall gewesen sein, der sie alle hierhin geführt hatte? War es nicht eher Schicksal gewesen, so, wie Abarax es angedeutet hatte – dass Iljan und Jackie loszogen, die anderen sich ihnen anschlossen, sie drei Wächter gefangen nahmen – zu viele Puzzleteilchen passten mit einem Mal zusammen.
Er stand auf und wechselte ein paar letzte Worte, doch sie alle waren jetzt nachdenklich, also überließen sich Abarax und Terziel sich selbst und gingen ihrer Wege. Jeder hatte mehr als genug, um darüber nachzudenken.
Iljan suchte sich einen Platz im Schatten ihres Lagers, von dem aus er die anderen sehen konnte. Es hatten sich kleine Grüppchen gebildet, durch Sträucher und Wildpflanzen vor dem Blick der anderen verborgen, vom Lagerplatz aus aber gut zu sehen.
Da waren Stella und Gudrun, die inzwischen unzertrennliche Freunde waren. Nun Terziel und Abarax, aber auch Najaxis saß neben den Brüdern. Caryellê sprach mit Merkanto und Jackie, offenbar waren die drei in eine Beratung vertieft.
Iljan musste lächeln. Ihre alten Bündnisse waren aufgehoben, die Vergangenheit vergessen. Er schlenderte zu Cary, Merkanto und Jackie herüber, denn dort war auch sein Platz.
»Was zieht ihr so düstere Gesichter?«, fragte er.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte Merkanto, eine Aussage, mit der Iljan fest gerechnet hatte.
»Die Weißen Wächter?«, fragte er.
Merkanto nickte. »Jackie berichtet, dass auf den Wiesen nichts von ihnen zu sehen ist. Sie machen keine Jagd auf uns. Dann frage ich mich aber, was sie stattdessen tun.«
Jetzt wandte sich auch Cary zu Iljan um. »Sobald es Terziel besser geht, in ein, zwei Tagen, müssen wir weiter. Ich denke nicht, dass wir viel länger hierbleiben sollten.«
»Gut«, meinte Iljan. »So gern ich wünschte, dass wir hier bleiben könnten, unser Ziel liegt im Süden. Wir können morgen aufbrechen und den halben Tag wandern, dann wird sich herausstellen, ob Terziel bereits wieder gesund ist.«
So war es beschlossen. Iljan gab die Botschaft an die anderen weiter. Terziel, als er von dem baldigen Aufbruch hörte, nickte nur tapfer, als ob er sich im Stillen schwöre, keine Last mehr zu sein.
Diese letzte Nacht in ihrem kleinen Lager erfüllte sie alle mit Wehmut. Sie hatten einige lange, schöne Tage in Frieden verbracht. Die geschützte Stelle zwischen den Bäumen, mitten im pulsierenden Leben des Dschungels, war ihnen sehr ans Herz gewachsen. Während Iljan gemeinsam mit den anderen seine Vorbereitungen traf und zusammenpackte, hörte er hier und dort ein gemurmeltes »Auf Wiedersehen, kleiner Teich!« oder »Ade, du süße Lichtung!« oder »Lebewohl, getreuer Baum!«
Es war mehr als nur das flüchtige Glück weniger Tage, das sie hier zurückließen – sie hatten an diesem Ort neue Hoffnung geschöpft und die Aussicht darauf erhalten, was ihr Ziel war: Ein Leben im Land der Sonne.
Iljan konnte den Abschiedsschmerz seiner Freunde nachvollziehen und lächelte wehmütig, wenn er ihre leisen Worte hörte.
In der Nacht schliefen sie alle tief und fest, erschöpft von der Arbeit des Tages. Sie hatten alle Spuren ihres Aufenthaltes verwischt und Merkanto hatte sorgsam darauf geachtet, dass sie auch unter jede noch so kleine Pflanze sahen und jeden noch so verwischten Fußabdruck entfernten.
Der nächste Morgen dämmerte klar und kühl, die Luft war angefüllt mit Schreien und Kreischen, Singen und Keckern, Fauchen und Zischen. Der Dschungel, der selbst in der Nacht niemals völlig zur Ruhe kam, war am lautesten wenn die Sonne unter- oder aufging, wenn die Tiere der Nacht den Tieren des Tages in den Weg kamen. Es erinnerte an eine große Schlacht, die tobte: Auf dem Erdboden und darunter, in den Wipfeln und darüber und an den Stämmen, auf den Ästen der Bäume.
Die Kinder der Sonne nahmen ihr Gepäck auf und schnürten sich die stinkenden Blätter unter die Füße, die Merkanto ihnen bereits gezeigt hatte.
So brachen sie auf. Iljan sah ein letztes Mal zurück zu dem Ring in den drei Bäumen und dem kleinen Teich. Dieser Ort war für ihn zu einem Zuhause geworden.
Zum ersten Mal fragte er sich ernstlich, wie sein neues Leben hier aussehen könnte. Er würde wohl kaum in einem Schloss mit vielen Bediensteten wohnen wie früher mit seinem Vater. Doch dieses Leben vermisste er kaum. Er hatte sich immer eine kleine, strohgedeckte Hütte auf einem grünen Hügel vorgestellt, die er gemeinsam mit Jackie und einigen Freunden bewohnen würde – doch ihre Gruppe war angewachsen und Iljan wollte kein Kind der Sonne missen (Gudrun zählte er nicht dazu und sie konnte seiner Meinung nach auch von einem Gruftwurm gefressen werden).
Man würde sie sicherlich nicht so einfach akzeptieren, sondern ausstoßen, also war es wahrscheinlich, dass sie eine kleine Siedlung irgendwo in der Ferne gründen würden, an einem Ort, wo es Wälder gab für Jackie und Wiesen für Stella und alles, was sie sonst brauchten. Sie würden als Gruppe zusammenbleiben, jedenfalls hoffte Iljan das.
Und wenn nicht?, fragte ein bösartiger Hintergedanke, der Iljan bereits durchschaut hatte.
Wir wissen beide, um wen du dich am meisten sorgst!, flüsterte der Gedanke. Wenn sie nun zurückkehrt zu den Weißen Wächtern? Immerhin ist das ihre Berufung.
Iljan sah Cary an. Sie lief direkt hinter Merkanto und warf nur ab und zu den Blick zurück, vergewisserte sich, dass Terziel nicht zurückblieb und rief kurze, harte Worte der Ermutigung, damit die Kinder der Sonne weiterliefen.
Würde Cary bei ihnen bleiben? Iljan konnte nicht länger verhehlen, was er empfand. Cary schüchterte ihn ein, sie machte ihm Angst, aber gleichzeitig war er in ihrer Nähe einfach nur glücklich, er genoss ihren Geruch und die Art, wie sie lief und sich bewegte. Wann immer er sie gefahrlos beobachten konnte, tat er es auch.
Wohin würde sie gehen, wenn diese Reise vorbei war? Hatte Iljan eine Chance, diese Entscheidung zu beeinflussen?