https://www.deviantart.com/ifritnox/art/732396277
Die Comori hatten sich entschlossen, die Kinder der Sonne vorerst nicht als Gefangene zu behandeln. Doch trotzdem bat Ajandorr sie, Wipfelgarten nicht zu verlassen. Obwohl die Bitte förmlich vorgetragen wurde (alles an diesen Baumwesen war förmlich und höflich), zweifelte Merkanto nicht daran, dass die Comori notfalls Gewalt einsetzen würden, um sie hierzubehalten. Noch vertrauten die Ents ihnen und ihrer Mission nicht.
Die Kinder der Sonne hatten eines der hohen Gebäude erklimmen dürfen und sich nun im Inneren der kreisrunden Hütte eingerichtet. Merkanto saß an einem runden, glaslosen Fenster und beobachtete die Comori, die unter ihnen im Kreis um den Stamm des Mammutbaums standen, in dessen Krone sich die Hütte befand.
Der Magier musste zugeben, dass er sich trotz aller Sorgen erleichtert fühlte. Zum ersten Mal begegneten sie Lichtwesen, die sich tatsächlich zuerst ihre Geschichte anhörten, statt sie zu verdammen.
»Wie viel Staub kann in so einen kleinen Schrank passen?«, schimpfte Gudrun in diesem Moment.
Merkanto drehte sich um und entdeckte die Hexe rücklings auf dem Boden der Hütte liegend und mit den kurzen Beinen zappelnd. Aus einem Hängeschrank über ihrem Kopf quoll eine graue Wolke hervor.
Nach einem kurzen Zögern eilte Najaxis der Hexe zur Hilfe und klappte den Schrank wieder zu.
»Vielleicht solltest du deine Nase nicht in die Schränke anderer Leute stecken!«, rief Iljan höhnisch von seinem Posten in der ovalen Türöffnung.
»Pah!«, schnaubte Gudrun und kämpfte sich auf die Beine. Dann nochmals: »Pah! Hier wohnt doch schon lange niemand mehr! Da wächst eine verdammte Blume auf dem Küchentisch!«
Tatsächlich hatte sich ein schillerndes, buntes Gewächs auf dem einzigen Tisch in der geräumigen Hütte angesiedelt, eine Pflanze mit großen, gewölbten Blättern. Laub und Dreck lagen auf dem Boden, nicht viel anders als Sand, der in einer Wüste leerstehende Gebäude verschlang. Die Hütte verlief kreisförmig um den Stamm des mächtigen Baumes herum, doch weder Fenster noch Türen waren geschlossen, es gab allerhöchstens Vorhänge aus geflochtenen Perlensträngen oder bunten Fäden als Schutz vor Insekten. Die Hütte wirkte – wie auch einige andere Gebäude, in die Merkanto während ihres Aufstiegs hinein gesehen hatte – verlassen. Es fehlten eindeutig Möbel, an den Wänden befestigte Schränke standen offen und waren leer, hier und da war ein Tisch zurückgelassen worden, meist, weil er an den Boden genagelt war, ab und zu stand noch ein Bettgestell in einer Ecke, doch vermutlich hatten die Bewohner des Dorfes hauptsächlich auf Strohlagern geschlafen.
Merkanto seufzte und sah wieder aus dem Fenster. Was mochte hier nur geschehen sein? Diese Frage ließ ihm keine Ruhe.
»Trotzdem solltest du Respekt vor dem Eigentum anderer haben!«, fuhr Iljan fort, mit Gudrun zu schimpfen. »Ich weiß, dass das für dich ein Fremdwort ist, aber versuch es doch wenigstens!«
Merkanto sah, wie die Hexe den Vampir böse anfunkelte, dann stürmte sie auf ihn zu. Iljan ging sofort in eine Kampfposition, beide Fäuste erhoben, doch Gudrun stolzierte an ihm vorbei durch die Tür.
»Was hast du vor?«, brüllte Iljan ihr hinterher.
»Ich gehe zu dem einzigen von euch, der Verstand hat!«, schnaubte Gudrun und machte sich an den Abstieg. Stella, das Einhorn, hatte die Baumwohnung nicht erklettern können, aber bereitwillig zugestimmt, alleine bei den Comori zu bleiben, denn sie mochte die Wesen des Waldes und wollte ein wenig mit ihnen sprechen.
Merkanto stieß sich vom Fenster ab. »Ich gehe besser hinterher, bevor sie noch irgendein Unheil stiftet.«
»Hab ein Auge auf sie«, sagte Iljan. »Wenn sie sich davon schleichen will oder etwas in der Art, halte sie auf.«
Merkanto nickte und trat an die oberste Stufe der Treppe, die lang, schmal und steil um den Baumstamm herum führte.
Er atmete tief durch. Er wurde zu alt für so etwas!
Nachdem Merkanto gegangen war, ging Cary auf leisen Sohlen zu Iljan herüber. Der Vampir starrte mit grimmiger Miene in den aufziehenden Abend.
»Wir haben einen Leitspruch im Sonnenland, einen von vielen, um genau zu sein«, sagte sie und musterte die abwehrende Haltung des Vampirs. »Wer Vergebung erbittet, muss zuvor vergeben.«
Iljan wandte ihr das Gesicht zu und der Ausdruck des Hasses in seinen Augen erschreckte Cary so sehr, dass sie beinahe zurückgewichen war. In Iljans Gesicht war deutlich zu lesen, welche Bestien die Vampire sein konnten. Cary hatte vergessen, dass man Iljans Art nicht ohne Grund fürchtete.
»Es geht um Gudrun, ja?«, fragte Iljan.
»Du gehst mit ihr um, als wäre sie eine Schwerverbrecherin!«, sagte Cary und beruhigte sich wieder, denn Iljans Stirn glättete sich.
»Weil sie genau das ist«, antwortete der Vampir düster. »Sie hat sich aus freien Stücken zu einem Leben auf der dunklen Seite entschieden.«
»Trotzdem ist sie mit dir gekommen«, rief Cary ihm in Erinnerung.
Iljan lachte nur freudlos. »Wir haben sie gefesselt über die Grenze geschleppt. Jetzt folgt sie uns, weil sie hofft, eines Tages mit mir zu meinem Vater zurückzukehren. Das überrascht dich jetzt, was, Cary? Gudrun gehorcht meinem Vater, sie ist ihm hörig wie ein Hund. Ihr Auftrag war es, mich aufzuhalten, nun wird sie versuchen, mich wieder zu ihm zurück zu bringen. Und wenn sie dazu alle anderen Kinder der Sonne töten muss. Sie war einmal eine weiße Hexe, doch in ihr ist nichts Gutes geblieben.«
Cary nickte und wandte sich ab. Es war klar, dass Iljan nicht weiter darüber reden wollte, und außerdem musste sie zuerst seine Offenbarung verdauen. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass Iljan sich in der Hexe täuschte. Stella hatte Gudrun ins Herz geschlossen – dafür musste es doch einen Grund geben!
Gudrun fand Stella am Fuß eines gigantischen Baumes in einem langsam wachsenden, dunkelblauen Schatten, worin das Fell des Einhorns wie Silber glänzte. Einen Moment fühlte Gudrun sich in ein antikes Gemälde der vergangenen Zeit versetzt. Sie hatte selbst so ein Bild besessen, eine naive Darstellung eines Einhorns auf einer nebelverhangenen, mysteriösen Lichtung, in einem Wald voller uralter Bäume und geheimnisvoller Farne.
Gudrun blieb am Fuß der Steige stehen und der Atem stockte ihr förmlich in der Brust. Stella stand ganz still und erst auf den zweiten Blick (und weil sie von diesen Wesen wusste) erkannte Gudrun, dass Stella den Blick auf die Comori gerichtet hielt, die wiederum zu dem Einhorn sahen.
Vorsichtig ging Gudrun weiter, als sich weder Einhorn noch Comori rührten.
»Was tust du?«, fragte sie leise, als sie bei Stella angekommen war.
»Ich rede mit ihnen«, antwortete das Einhorn, wandte ihr kurz den Blick zu und sah dann wieder zu den Comori.
»Per Telepathie?«, fragte Gudrun.
»Wenn du es so nennen willst«, antwortete Stella. »Hab einen Augenblick Geduld, ja?«
Gudrun seufzte und ließ sich auf eine große Baumwurzel fallen, die aber zu schräg war, um bequem darauf zu sitzen. Bald stand sie wieder auf und schlenderte hierhin und dorthin. Es dauerte nicht lange, und Merkanto kam – scheinbar zufällig – auf dem Boden an. Gudrun winkte ihm fröhlich, als wären sie Bekannte, die sich zufällig auf dem Markt begegneten. Merkanto verzog die Mundwinkel und spazierte in die andere Richtung davon.
»Ewige Schnüffler!«, zischte Gudrun leise.
Wenig später kam Stella zu ihr, doch das Einhorn wirkte bedrückt.
»Was ist?«, fragte Gudrun mit einer Fürsorglichkeit, von der sie selbst überrascht war.
»Ich habe mit den Comori darüber gesprochen, warum Wipfelgarten verlassen ist«, berichtete Stella leise. »Sie waren so traurig! Die meisten Bewohner sind in den Krieg zur Grenze gezogen und nicht zurückgekommen. Die anderen haben die Stadt verlassen und sind in andere Siedlungen gezogen. Die Comori sagen, dass hier nur noch die Geister der Fehlenden umgehen – ach, sie sind wirklich traurig darüber. Ihnen fehlt das Leben, das hier früher war.«
Gudrun hob beide Augenbrauen. »Können sie den Wipfelgärtnern nicht hinterher?«
»Sie sind Baumwesen, obwohl sie sich bewegen können. Sie haben sich in diesem Land verwurzelt und leben hier schon seit unzähligen Jahren. Jetzt sehen sie den Glanz von Wipfelgarten verfallen, aber sie werden trotzdem nicht gehen.«
Das Einhorn schnaubte hoffnungslos.
»Komm, bringen wir dich auf andere Gedanken!«, schlug Gudrun vor. »Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang? Die Luft ist frisch und aromatisch und es gibt unzählige Heilpflanzen zu entdecken. Ich fürchte nur, wir müssen in Sichtweite von Merkanto bleiben.«
»Iljan vertraut dir immer noch nicht?«, Stella setzte sich in Bewegung und Gudrun passte ihre Schritte dem langsamen Tritt des Einhorns an.
»Nun ja, er ist vielleicht … ein bisschen davon überzeugt, dass ich für seinen Vater arbeite und seine Mission sabotieren will«, gestand Gudrun achselzuckend.
»Stimmt das denn?«, fragte Stella.
Gudrun zögerte, dann nickte sie. »Nepumuk hat mich ausgeschickt, um ihm seinen Sohn zurückzubringen.«
»Nepumuk«, wiederholte Stella beinahe triumphierend und sah Gudrun an. »Er ist es. Er ist der Grund für deinen Namen, Aelinos.«
Gudrun konnte Stella nicht in die Augen sehen. Sie nickte stumm.
Merkanto sah zu, wie Gudrun und Stella am Rand der großen Lichtung entlang gingen.
Der Magier tat, als würde er sich für die Flechten an den Bäumen interessieren, doch insgeheim war er sich sicher, dass er niemanden damit täuschte – nicht einmal die Comori.
Gudrun machte keinerlei Anstalten, sich in den Wald davonzustehlen. Sie schien mit Stella zu reden, ab und zu blieben die beiden stehen und Gudrun begutachtete irgendein Gewächs oder Stella knabberte an einem Pflänzchen.
Die Nacht senkte sich nun über Wipfelgarten und große, butterfarbene Blumen in einigen der Flechten begannen, sanft zu glühen. Bald entstiegen Wolken von Glühwürmchen den Sträuchern wie auch damals im Wald der Seen, doch hier wurden sie begleitet von schimmernden und schillernden Schmetterlingen. Auf dem Boden leuchteten Pilze und die Schritte von Merkanto, Gudrun und Stella hinterließen goldene Spuren im Moos, die langsam verblassten.
Dazu kam das Gurren und Singen unzähliger unsichtbarer Wesen, das Rascheln kleiner, schwarzer Jäger im Geäst und ferne Papageienschreie, Rufe und klagende Katzenlaute.
Merkanto ließ seinen Blick bald müßig über die Lichtung schweifen, über die Wege und Steige von Wipfelgarten, die von blassen Lampen erhellt wurden.
Schließlich kam einer der Comori auf schlangenähnlichen Wurzeln herüber, in einer Asthand (die Comori besaßen nicht nur zwei Hände, sondern unterschiedlich viele, die wie Äste an allen Stellen aus dem Stamm ragten) trug er einen Bastkorb, der mit Früchten, Beeren und Obst gefüllt war.
»Ihr werdet hungrig sein«, meinte das Baumwesen. »Diese Vorräte sind für euch.«
»Danke!«, sagte Merkanto erstaunt und einen Moment fehlten ihm die Worte. Er war überrascht, aber gleichzeitig sagte sich ein Teil von ihm, dass dies das war, was er auf der Sonnenseite eigentlich erwartet hatte. Und ein weiterer Teil seines Bewusstseins fragte sich, wo der Haken an der Sache war.
»Vielen Dank«, sagte Merkanto nochmals und nahm den Korb entgegen. »Wir haben eigene Vorräte, aber sie müssen noch lange vorhalten. Auch wussten wir nicht, welche Früchte des Dschungels essbar sind.«
»Die wenigsten kann man gefahrlos essen und viele sind sehr giftig«, meinte der Comori. »Aber diese wurden von den Bewohnern von Wipfelgarten immer gegessen, sie sollten euch kaum schaden können!«
Als Merkanto sich mit dem schweren Korb in beiden Armen umwandte, stand er unvermittelt Gudrun und Stella gegenüber.
»Gibt's etwa Essen?«, fragte die Hexe und schnüffelte.
»In der Tat, es wäre ein Wunder, Nahrungsmittel vor dir verbergen zu können!«, stöhnte Merkanto. »Ich werde gehen und die anderen herunter holen, dann müssen wir Stella nicht alleine lassen (und den Korb nicht nach oben schleppen). Pass solange auf den Korb auf und wehe, es fehlt am Ende etwas!«
»Schon gut, schon gut, ich weiß, was sich gehört!«, brummte Gudrun, nahm Merkanto den Korb ab und schnupperte. »Mhh! Beeil dich!«
Merkanto seufzte und machte sich daran, die Wendeltreppe zu erklimmen.
Als er den halben Weg mit schmerzenden Knien und vor Anstrengung keuchend zurückgelegt hatte, hörte er plötzlich Geräusche über sich, die er nicht einordnen konnte.
Er blieb stehen und lauschte. Der Wind klang mit einem Mal heftiger, als ob ein Sturm aufkomme. Dann hörte Merkanto hohes Kreischen und Fauchen.
Dann hörte er Schreie.
»Iljan!«, brüllte er und hetzte die Stufen hinauf, während er gleichzeitig die Blitze zu sich rief. Die Angst trug ihn vorwärts, doch immer noch war er zu langsam. Als Merkanto schließlich die Hütte erreichte, war diese verlassen. Der Staub war aufgewirbelt und der vormals festgenagelte Tisch war aus dem Boden gerissen. Im Dach klaffte ein riesiges Loch, durch das Zweige und Äste hereingeregnet waren, Merkanto konnte durch ein beinahe kreisrundes Loch in der dicken Wipfelschicht den Himmel sehen. Für einen Moment sah er eine schwarze Gestalt, die hoch über ihm am Mond vorbei flog.
»Iljan!«, brüllte Merkanto wieder, seine Stimme stieg hoch über den Dschungel auf.
Doch der Vampir und die Kinder der Sonne waren fort.