https://www.deviantart.com/ifritnox/art/734634686
Die Drachen flogen immer noch im Mondschein. Unter ihnen glitten die Dschungel von Wisan dahin, Meile um Meile, zurück zur Grenze. Am Horizont zeigte sich die erste, beschämte Röte des Morgens, noch verhüllt von einem dichten Nebel, den der letzten Regenguss über dem Dschungel zurückgelassen hatte.
In so großer Höhe war es kalt, die gefangenen Kinder der Sonne zitterten im Griff der Drachen. Sophram und seine beiden Begleiter kümmerten sich nicht davon, sondern glitten zielstrebig mit dem Wind vorwärts.
Abarax warf einen Blick zu Terziel herüber, doch sein Bruder war im Laufe der Nacht eingeschlafen. Im Moment ruhte der Engel mit dem Kopf an einer großen Kralle, in seine Flügel gewickelt wie in eine Decke. Sein blasses Gesicht war so friedlich wie das Gesicht eines Kindes.
Abarax betrachtete den Engel einen Moment länger. Er hatte seinen Bruder wiedergefunden! Und es schien, als sei keine Zeit vergangen – immer noch erfüllte ihn die gleiche, zwiespältige Liebe zu Terziel. Immer noch konnte er seinem Bruder jeden Gedanken ansehen.
Der Nachtmahr wandte den Blick ab und sah in die Tiefe. Seine größte Befürchtung war dabei, sich zu bewahrheiten, denn sie waren unterwegs zur Grenze. Iljans Mission war schließlich gescheitert, wie es unweigerlich hatte kommen müssen. Doch völlig unerwartet entdeckte Abarax, dass er für Iljans Mission kämpfen wollte. Es war nicht länger bloß der naive Traum eines verzogenen Vampirsprösslings, nein, Iljans Mission war die einzige Möglichkeit, Terziel zu retten.
Auf der anderen Seite, im Schattenreich, würde der Engel nicht lange überleben. Er war vielleicht stark, doch er besaß zu viel Ehre und Stolz, um sich in den vielen heruntergekommenen Städten der dunklen Seite durchzuschlagen. Und als Engel würde Terziel Ziel von nicht nur Hohn und Spott, sondern richtigen Angriffen sein. Abarax bezweifelte, dass er seinen Bruder lange würde beschützen können.
Einmal jenseits der Grenze, wäre Terziels Schicksal besiegelt. Nein, es gab nur einen Weg: Sie durften die Grenze nicht erreichen.
Cary war dabei, diverse hoffnungslose Fluchtversuche im Kopf durchzugehen, als sie ein wütendes Brüllen hörte. Sie wandte den Kopf und gleichzeitig zuckte auch der Drache, in dessen Klaue sie hing, zusammen und wendete in einer engen Kurve. So konnte sie deutlich sehen, wie der letzte Drache ihrer Reihe verzweifelt mit einer Klaue nach einer dunklen Wolke haschte. Doch Abarax – denn es war der Nachtmahr, der hier einen Ausbruchsversuch unternahm – bestand bereits nur noch aus Rauch und war für den Drachen nicht zu greifen. Die dunkle Wolke schoss jetzt auf den Kopf des Drachen zu, der reflexartig die Zähne bleckte.
»Nicht beißen!«, rief Sophram mit donnernder Stimme. »Lass ihn nicht in dich rein!«
Der Drache reagierte schnell und duckte sich unter Abarax' Angriff hinweg. Ein spitzer Schrei ertönte, als der Drache urplötzlich in die Tiefe schoss – das war Najaxis, der in der hinteren Klaue hing.
Abarax schoss dem sinkenden Drachen hinterher, ebenso Carys Bewacher und Sophram.
»Sephrith!«, brüllte Sophram.
»Sephrith!«, rief auch der Drache, der Cary trug. »Vogelzug!«
Für einen Moment hörte und sah Cary nichts. Der Wind rauschte in ihren Ohren und der tosende Sturzflug schleuderte sie in der Drachenpranke hin und her. Dann stabilisierte der Drache seinen Flug. Sie flogen nun dicht über der Blätterkrone, Blätter und kleine Zweige peitschten um Carys weiche Stiefel. Sophram flog parallel zu ihnen auf gleicher Höhe und in gleicher Geschwindigkeit. Dann kam der dritte Drache heran, verfolgt von Abarax und begleitet von Najaxis' Kreischen.
»Sephrith!«, rief der Drache, der Cary trug. »Hierher!«
Sephrith musste der Name der weißen Drachin sein, die nun in aberwitzigem Tempo auf die beiden nebeneinander fliegenden Artgenossen zuhielt.
Dann tauchte Sephrith zwischen Sophram und dem anderen Drachen hindurch und Abarax folgte. Der Nachtmahr konnte nichts von der Absprache der Drachen mitbekommen haben, denn nach allem, was Cary wusste, nahm er in seiner jetzigen Form nur Energien und Schatten wahr.
Sie wandte den Blick ab, als Abarax auf Sephriths Spur durch das kurze Spalier der beiden anderen Drachen zischte. Sie spürte allerdings den Ruck, der ihren Drachen durchlief, als dieser zuschnappte.
Ein dröhnender Schmerzensschrei ertönte, doch Cary konnte trotzdem noch Sophrams Stimme vernehmen: »Gute Arbeit, Mirkanish.«
Das Trommeln der Hufe hallte durch den nächtlichen Wald wie ein drängender Rhythmus. Ein rasendes Herz, das schlug und schlug, um zu retten … um hoffentlich rechtzeitig zu kommen.
Die Cereceri hatten ihre Tierformen angenommen. Relabai war, wenig überraschend, zu einem großen Mantikor geworden, pechschwarz bis auf die grün-gelbe Mähne und die leuchtenden Augen. Mit halb aufgespannten Schwingen lief die Chimäre seitlich von Merkanto durchs Unterholz. Er trug auch Gudruns Gepäck auf dem Rücken.
Jafis' Form war die einer grauen Raubkatze mit großen Flecken, eine Leoparden-Unterart, wenn Merkanto sich nicht täuschte. Sie lief voran, sprang geschickt über hohe Wurzeln und niedrige Äste und führte die Gruppe auf dem schnellstmöglichen Weg vorwärts.
Die Gestalt von Iska hatte Merkanto offenbart, warum das Kind mitkommen sollte, denn das junge Mädchen war nun eine Elchkuh, für einen Cereceri eine riesige Verwandlungsform, denn für gewöhnlich konnten die Tiermenschen nur die Form eines Tieres annehmen, dessen Körpermasse mehr oder weniger mit der eines Menschen überein stimmte. Iskas Zwillingsbruder Korba konnte zu einem Fuchs werden und war damit für einen Cereceri beinahe unmöglich klein. Beide hatten große Schwierigkeiten mit der Wandlung. Normale Cereceri konnten sich in einem Augenblick verwandeln, konnten als Mensch in die Luft springen und dann in Tierform landen (obwohl sie es bevorzugten, sich bei Bedarf einfach nach vorne kippen zu lassen und auf „allen Vieren“ weiterzulaufen). Iska und Korba jedoch unterliefen eine Transformation ähnlich wie ein Werwolf, bei der sich ihre Gliedmaßen sichtbar verrenkten und wuchsen oder schrumpften, bis sie letzten Endes „im Pelz“ waren. Die Prozedur war nicht schmerzhaft, aber schrecklich mitanzusehen.
Nun saß Merkanto auf dem Rücken von Iska, die mit geschickten Sprüngen durch das Unterholz trabte. Jafis hatte einen Weg gewählt, den das Elchmädchen gut laufen konnte. Hinter Iska folgte die giftbunte Stella mit Gudrun auf dem Rücken.
Sie kamen schnell voran. Die Cereceri kannten alle Abkürzungen im Dschungel. Sie mussten sich nicht auf die verschlungenen und zugewachsenen Wege verlassen, sondern konnten in Fluglinie reisen. Die vier Begleiter, die für sie ausgewählt worden waren, waren zudem schnell und geschickt. Merkanto zweifelte nicht daran, dass sie die Geschwindigkeit eines Drachen erreichen konnten – solange dieser Drache auf einer horizontalen Linie flog und nicht etwa durch Sturzflüge an Geschwindigkeit zunahm. Und selbst so fürchtete der Zauberer, dass sie zu spät kommen würden. Die Luft kribbelte und zitterte unter statischer Energie. Merkanto war schon immer feinfühlig gewesen, jetzt spürte er, dass ein Sturm bevorstand.
Er beugte sich tiefer über Iskas kurzes, rotbraunes Fell. Sie trug einen dünnen Schal, der ihm als Halteriemen diente, ansonsten wäre er von ihrem nach hinten abfallenden Rücken gerutscht.
Sein Herz hämmerte im gleichen Rhythmus, in dem sie Hufe trommelten. Hoffentlich würden sie rechtzeitig kommen.
Mirkanish spuckte Abarax in Sephriths ausgestreckte Klaue. Cary konnte nur einen kurzen Blick auf den Nachtmahr erhaschen, der wieder menschliche Form hatte.
Er tropfte von Drachenspeichel und fiel so leblos wie eine Puppe in Sephriths Pranke, bevor er von ihren Klauen umschlossen wurde.
»Abarax!«, brüllte Terziel und kämpfte gegen die andere Pranke der Drachin an. »Abarax!«
Dann hörte Cary zu ihrem Erstaunen die unverkennbare, tiefe Stimme des Nachtmahrs. Obwohl sie kein Wort verstand, sah sie doch die Erleichterung auf Terziels Gesicht. Abarax lebte!
Die Drachen kreisten eine Weile eng und schwerelos umeinander, bevor sie sich wieder in ihre ursprüngliche Reihe ordneten. Der Vorfall hatte die weißen Giganten offenbar aufgeregt, doch sie wechselten keine Worte. Bald ging die Reise weiter, hoch über dem Dschungel und immer weiter zur Grenze.
Carys Mut sank. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, auf der anderen Seite der Grenze zu leben. Doch sie kannte nur Horrorgeschichten von dort drüben, einige davon von Iljans Gruppe selbst. Vampire, Werwölfe und andere dunkle Wesen waren dort nicht glücklich geworden – wie sollte eine Elfe, noch dazu eine ehemalige Wächterin, im Schattenland überleben?
Nein, es gab keinen anderen Weg: Die Kinder der Sonne würden fliehen müssen. Um keinen Preis durften sie die Grenze überqueren, denn was immer sie dort erwartete, würde keinem von ihnen gefallen. Cary dachte an Iljans Worte über seinen Vater. Und auch sie hatte bereits zu viel aufgegeben und riskiert. Sie liebte die Sonne zu sehr, um sich ewig von ihr zu trennen.
Sie sah auf den spitzen Ast. Als die Drachen tief geflogen waren, hatte er ihr Knie getroffen und war abgebrochen, mit einer schnellen Bewegung hatte sie ihn greifen können. Jetzt besaß sie eine Waffe und langsam reifte ein verzweifelter Plan in ihrem Kopf.
Sie musste die Kinder der Sonne befreien. Für Iljan!
»Er lebt noch«, rief Jackie halblaut.
Iljan sackte vor Erleichterung förmlich in sich zusammen. Einige bange Herzschläge lang hatte er geglaubt, dass Abarax gestorben war. Doch nun konnte auch er sehen, dass der Nachtmahr sich regte und – obwohl Terziel protestierte – versuchte, erneut seine Schattenform anzunehmen.
Einen Augenblick verschwamm die Gestalt von Abarax, doch Sephrith verstärkte den Griff ihrer Pranke und ein gedämpfter Schmerzensschrei ertönte.
»Gib es auf!«, sagte der Drache, der Iljan und Jackie trug. Er hatte den Kopf nach hinten gedreht und in diesem Augenblick erkannte Iljan, dass es sich um Sophram, Nephanirs Ziehsohn, handelte. »Ihr habt keine Macht, die stärker ist als die eines Drachen.«
Für einen Moment glühte es golden um Sephriths Pranke und Abarax gab seine Fluchtversuche knurrend auf.
Iljans Hoffnungen sanken weiter. Ihre Entführer waren jetzt auf der Hut. Und Sophram hatte Recht: Gegen drei Drachen konnten die Kinder der Sonne wenig ausrichten. Sie hatten Nephanir damals nur mit viel Glück und alle vereint töten können, doch nun waren sie von dreien ihrer Gefährten getrennt und hatten dafür drei Drachen als Gegner.
Es war hoffnungslos. Seine Mission war verloren, denn einmal im Schattenland, würden Nepumuks Späher sie bald gefunden haben – wenn sie sie nicht bereits erwarteten!
Iljan schloss die Augen. Ungewollt überkam ihn die Vorstellung, was sein Vater mit den Begleitern seines ungehorsamen Sohnes anstellen würde. Jackie in Ketten zurück zu den Werwölfen schicken, Abarax und Terziel Seite an Seite auf kleiner Flamme rösten, dem frechen Najaxis vermutlich die Zunge herausreißen. Und Cary … Caryellê würde aller Wahrscheinlichkeit nach in den Harem des Vampirfürsten wandern und nie wieder das Licht des Tages sehen.
Iljan zitterte bei der Vorstellung – denn es war seine Schuld, dass dies alles geschehen würde.
Ein lautes Brüllen durchschnitt die Nacht.
Iljan riss die Augen auf und konnte zuerst nicht fassen, was er sah. In verlangsamten Tempo – denn Adrenalin rann durch seine Adern und machte seine Wahrnehmung übermenschlich schnell – sah er Caryellê schweben, die sich aus dem Griff des Drachen Mirkanish befreit und mit beiden Füßen abgestoßen hatte. Sie hielt einen Arm ausgestreckt, das Ende einer Wurfbewegung. Mirkanish war es, der gebrüllt hatte, denn irgendein schmales, dunkles Geschoss hatte seinen Kopf getroffen, war in die Wange eingedrungen und ragte nun oben aus dem Auge wieder heraus.
Der Drache schrie so laut, dass es in der Luft widerhallte. Simultan gerieten die beiden anderen Drachen aus dem Gleichgewicht, als Mirkanish sich voller Schmerz herum warf. Sophram und Sephrith trudelten und schwankten wie Schiffe bei starkem Seegang.
Cary schien zu schweben, rückwärts auf der Luft liegend. Doch der Moment verging und Iljans Wahrnehmung wurde wieder normal. Für einen Moment begegnete er dem Blick von Carys großen, dunkelblauen Augen. Sie sah ihn ernst an und er verstand, dass sie es für ihn getan hatte. Er verstand so vieles, was sie ihm nicht sagen konnte.
Dann lief die Zeit normal weiter und Cary fiel. Die Drachen ruderten hilflos durch den Himmel.
»Cary!«, schrie Iljan, so laut er konnte. Doch Lautstärke machte keinen Unterschied bei einem Sturz. Er konnte ihr nicht helfen und dann verschwand Cary im Dunkel der Bäume unter ihnen.
Iljan war starr vor Schreck. Alles andere, auch der lange, wilde Sturzflug der drei Drachen, geschah wie im Traum, wie im Leben eines anderen. Es berührte ihn nicht. Was kümmerte es ihn, dass die Drachen sich in der Luft zu halten versuchten und doch immer weiter absackten, was kümmerte es ihn, dass sie sich mit knapper Mühe auf eine freie Fläche retteten, den Rand der Dschungel von Wisan, die Grenze zu Quyhst?
Was kümmerte ihn all das? Cary war tot.
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Stimmungsaufhellende Anekdote am Rande: Ich wollte ein cooles Tier für Jafis' verwandelte Form haben. Nach vielen Hin und Her wandte ich mich völlig ratlos an meine Betaleserin. Was kam als Ergebnis?
„Nebelparder!“
Bitte was? Aber ja, das Tierchen gibt es wirklich. Eine (mir) vollkommen unbekannte Großkatzenart. Könnt ihr ja mal googlen.