https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430678
»Ich kenne diese Gruppe.«
Jafis' Stimme hallte laut über den Versammlungsplatz. Kein anderes Geräusch war zu hören, selbst die Grillen und der Wind waren verstummt.
Die Anspannung war beinahe mit Händen zu greifen. Angesichts dieser Menge an handfester Energie fühlte Abarax sich zunehmend unwohl in seiner Haut. Unter anderen Umständen hätte er die Angst, die von seinen Begleitern ausging, willkommen geheißen.
Das war etwas anderes, wenn man selbst Furcht empfand. Als Nachtmahr war Abarax es gewöhnt, auf Angst zu reiten wie ein Surfer auf den Wellen. Doch genau wie das Meer konnte auch die Angst zu einer tödlichen Gefahr werden, wenn man unter ihre Wogen geriet. Dann war es umso schlimmer, je größer die Wellen waren.
Unzählige Waswenns geisterten ihm im Kopf herum: Was, wenn das Urteil schlecht ausfiel? Sollten sie sich einfach ihrem Schicksal ergeben? Hätten sie noch die Kraft, um zu kämpfen? Er ließ den Blick über die versammelten, wütenden Cereceri schweifen. Nein, ein Kampf käme nicht in Frage. Er selbst könnte vielleicht fliehen, doch die anderen waren verloren gegen so viele Gegner. Ganz zu schweigen von der Macht, die die Comori eventuell darstellen mochten. Freiwillig hatten die Kinder der Sonne sich in eine Todesfalle begeben.
Abarax rückte seinen Mantel zurecht und gab sich alle Mühe, nicht vor lauter Nervösität an seinen Fingernägeln zu kauen. Schweigend sah er Jafis an.
Jafis, Königin der Cereceri. Das hätte sie während ihrer gemeinsamen Reise durchaus mal erwähnen können. Abarax fühlte sich paradoxerweise verraten, und dieser Schock hatte ausgereicht, um sein Herz rasen zu lassen. Wenn Jafis jetzt die falschen Worte sprach, wäre es mit ihrer Mission vorbei. Es hing alles an den Lippen der Nebelparder-Cereceri. Ein Gedanke, der Abarax überhaupt nicht gefiel.
»Ich bin weit mit ihnen gereist«, führte Jafis ihre Ansprache fort, »Ich habe einen Teil der Gruppe von Wipfelgarten nach Quyhst und die ganze Gruppe von Quyhst hierher begleitet. Sie wussten nicht, dass ich über ihr Schicksal entscheiden würde, was mir die Gelegenheit gab, ihre Bekanntschaft ohne vergoldete Zungen zu machen. Ich kann mit einiger Sicherheit behaupten, dass ich diese Wesen kenne – die Monster und Abtrünnigen.«
Abarax' Herz sank ihm in die Hose. Sein Blick suchte den von Terziel. Sie waren so weit gekommen, nur um jetzt zu scheitern?
»Ich sehe keine Gefahr, die von dieser Gruppe ausgeht«, sagte Jafis da und die Kinder der Sonne sahen unisono auf. Die Königin der Cereceri lächelte sie an. Sie genoss das Spiel. Die Cereceri dagegen brüllten vor Wut auf.
»Halt! Hört mich an«, unterbrach Jafis ihr Volk. »Ihr habt nicht gesehen, was ich gesehen habe, an der Grenze von Quyhst. Ja, ihr habt den Bericht gehört. Doch lasst mich nun berichten: Was ich dort sah, als ich eintraf, war eine Gruppe Wesen, die um ihr Überleben kämpfte, so verzweifelt und so grausam, dass ihre Macht einer Naturkatastrophe gleichkam. Ich bekam es mit der Angst zu tun: Solche Wesen sollten niemals in unser schönes Land gelangen, doch sie aufzuhalten, das war unmöglich. Sie waren rasend in ihrem Zorn und stark genug, um es mit drei weißen Drachen aufzunehmen.«
Erstaunte Ausrufe ertönten und verängstigte Blicke huschten zu den Kindern der Sonne.
»Doch dann hörten sie auf«, sagte Jafis ruhig. »Sie hatten die Oberhand und sie hätten die Drachen, dort und dann, töten können. Doch sie bremsten sich aus. Ihr, vor allen anderen Lichtwesen, die ihr halb Mensch und halb Tier seid, wisst, wie schwer sich die Berserkerwut abkühlen lässt. Ihr kennt rasenden Zorn und wie lange er brennt. Diese Wesen«, Jafis wies mit einer Geste auf Abarax und die anderen, »haben geschafft, was selbst Lichtwesen schwerfällt: Sie haben ihren Zorn überwunden, ehe er sie zu etwas Unverzeihlichem trieb. Das ist beeindruckend, Cereceri! Und es beweist, dass sie den Willen und das Herz haben, um hier zu leben. Die Kinder der Sonne sind keine Monster!«, Jafis' Stimme, zuletzt laut und hallend, wurde mit einem Mal so ruhig, dass man sie nur noch verstand, wenn man die Ohren spitzte. Alle hielten die Luft an. »Sie sind zukünftige Lichtwesen. Ich spreche sie frei.«
»Ja!«, schrie Gudrun, sprang auf und reckte eine Faust in die Luft. »Jahaa!“
Iljan stand ebenfalls auf und verneigte sich Jafis gegenüber. Die Cereceri schienen kollektiv zu seufzen, dann klatschten die ersten verhalten. Einige warf ihnen auch anerkennende Blicke zu, doch das waren wenige. Wieder einmal wurde Abarax daran erinnert, dass ihr größter Feind die altvorderen Vorurteile waren, und die ließen sich nicht leicht überwinden.
»Ihr habt zu viele Königinnen in eurem Land!«, flüsterte Iljan, als er sich zu Cary herüber beugte.
Sie hob den Blick und lächelte, von einer Welle von Erleichterung durchflutet. Freigesprochen. Langsam, sozusagen Tropfen für Tropfen, sickerte die Erkenntnis des Urteils zu ihr durch. Freigesprochen! Das war wie ein Neuanfang, auf jeden Fall bedeutete es ihnen Hoffnung, denn vielleicht würden sie ja tatsächlich zum Weißen Schloss kommen.
»Zum Glück!«, meinte sie zu Iljan. »Dass die Königin uns bereits kennt, war das größte Glück, was uns hätte passieren können.«
»Ich frage mich nur, wie die Königin des Sonnenlandes da noch jemand besonderes sein kann«, brummte Merkanto, der soeben zu ihnen trat. »Sie ist ja auch nur eine Königin unter vielen.«
»Es sind doch nur Worte«, meinte Cary, für die das vollkommen normal war. »Jeder, der ein Volk führt, ist ein König oder eine Königin. Nur ist Havinairies Adiaramat eben die Königin der Königinnen. Korrekt müssten wir sie wohl Kaiserin nennen, oder aber alle anderen Baronin oder Herzogin, doch das suggeriert eine Rangfolge, und so sind wir eben nicht.«
»Ich liebe dieses Land«, grinste Iljan.
Merkanto verdrehte die Augen. »Nur, weil du schon immer schlecht im Auswendiglernen warst.«
»Echt mal«, antwortete Iljan, »Wer kann sich die ganzen Adelstitel schon merken?«
Die Kinder der Sonne hatten inzwischen eine Traube gebildet. Die Cereceri erhoben sich ebenfalls und verließen den Schauplatz der Verhandlung. Jafis kam zu der Gruppe herüber geschlendert, selbstsicher und mit einem breiten Grinsen.
»Das war gemein, uns so im Unklaren zu lassen!«, klagte Gudrun und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Königin.
»`Uns´?«, bezweifelte Najaxis halblaut im Hintergrund. »Seit wann heißt es denn plötzlich wieder `wir´?«
Jafis hob beide Hände, wie um sich zu ergeben. »Es tut mir sehr leid, euch getäuscht zu haben.«
»Sollte es«, knurrte Jackie halbherzig. »Sowas ist unsere Aufgabe!«
Jafis lächelte die Werwölfin wohlwollend an. »Genau damit musste ich rechnen – nicht persönlich gemeint. Wenn ihr gewusst hättet, dass ich am Ende entscheide, hättet ihr euch verstellen können. Ich musste aber ein unverfälschtes Bild von euch erhalten.« Sie zuckte mit den Achseln. »Das ging nicht anders.«
Es gab sicherlich einige unausgesprochene Worte in diesem Moment, Cary sah es an dem wütenden Funkeln in den Augen ihrer Begleiter, doch niemand sprach ein Wort. Offenbar hatte die Anwesenheit der Königin sie hinreichend eingeschüchtert.
»Nachdem du dein Urteil gefällt hattest, hättest du uns doch aufklären können«, sagte Cary in versöhnlichem Tonfall.
»Das hätte ich, ja«, meinte Jafis. »Irgendwie gab es nie die richtige Gelegenheit, außerdem war eure Aussage vor Gericht so sehr viel authentischer. Ich muss auch an mein Volk denken, sie teilen mein Vertrauen in euch nicht.«
Die Kinder der Sonne spähten an der Königin vorbei zu den Cereceri, die soeben zurück zum Hauptwald der Tigerpfote trotteten. Viele warfen missmutige Blicke auf die Freigesprochenen.
»Wenn ihr mir nicht zu sauer seid, würde ich euch gerne einladen, noch einige Tage zu bleiben«, sagte Jafis dann. »Natürlich, um eure Vorräte aufzufüllen und auch, um euren nächsten Schritt zu planen, mein Hauptanliegen ist jedoch politischer Natur. Es kann eurer Mission nur helfen, wenn einige Cereceri euch persönlich kennenlernen und sich davon überzeugen können, dass ihr keine Monster seid.«
Iljan warf einen Blick zu Cary, die jedem der Kinder der Sonne in die Augen sah und sie stumm nach ihrer Meinung fragte. Die überwiegende Mehrheit zuckte mit den Schultern, Merkanto und Jackie nickten leicht.
»Sehr gerne«, sagte Cary und verneigte sich förmlich vor Jafis.
Die Nebelparder-Cereceri lachte. »Ihr müsst nicht höflich sein. Ich habe mich nicht verändert, also gibt es keinen Grund, mich anders zu behandeln als während unserer Reise. Doch seid willkommen in der Tigerpfote, dem Herzen des Cereceritums!«
Auf Jafis' großzügiges Angebot hin zogen die Kinder der Sonne in einen der Ballenhaine ein. Jafis ließ es ihnen an nichts fehlen: Sie bekamen Betten aus weichem Laub und Wollfarnen, dazu Pelze als Decken. Einige besonders mutige Cereceri, sowie Korba und Iska, die die Gruppe schon kannten, brachten ihnen Früchte, Obst und Gemüse zum Essen. Zum ersten Mal, seit sie die Grenze überquert hatten, bekam Jackie frisches Fleisch: Die Cereceri hatten eine andere Einstellung zur Jagd als die meisten Sonnenländer. Jackies Wolfsseele war so glücklich wie schon lange nicht mehr.
Im Laufe des zweiten Tages nach der Verhandlung stellte Jafis ihnen einige hochrangige Cereceri vor. Da die Etikette in der Tigerpfote nicht besonders streng genommen wurde, konnten sich alle Kinder der Sonne durch den diplomatischen Smalltalk manövrieren. Jedoch nur die Kinder der Sonne – Gudrun schien es darauf anzulegen, jedes Fettnäpfchen mit Kopfsprung zu nehmen. Nach einem besonders blamablem Wortspiel mit Schwänzen trat Stella zu Gudrun und führte die Hexe stillschweigend fort von der Unterhaltung.
Von solchen Zwischenfällen abgesehen erlangte die Gruppe jedoch einige Freunde unter den Cereceri und Jafis teilte ihnen am dritten Tag mit, dass sie zu einer großen Festlichkeit am Abend eingeladen wurden.
»Ich bin zuversichtlich, dass ihr einen guten Eindruck machen werdet«, sagte sie, während sie im Kreis der Kinder auf dem Boden saß und an einer Mango knabberte. »Nur die Hexe macht mir Sorgen.«
»Mir auch«, grummelte Iljan. »Sie gehört nicht wirklich zu uns.«
Jafis nickte. »Vielleicht könnt ihr während der Feier ein Auge auf sie haben.« Damit war die Sache erledigt. Davon, dass sie Gudrun alleine im Hain lassen könnten, wollte Jafis nichts hören und Iljan musste zugeben, dass ihm die Aussicht auch nicht besonders zusagte – ohne Aufsicht könnte Gudrun auf die Idee kommen, seinen Vater zu kontaktieren und ihre Mission zu sabotieren.
Einige Stunden später, die Dämmerung senkte sich über das silbrige Gras zwischen den Hainen, trafen die Kinder der Sonne ihre Vorbereitungen. Sie hatten sich gebadet und ihre Kleidung gewaschen. Gudrun hatte eine Menge kleinerer Risse geflickt, aus irgendeinem Grund unterstützt von Najaxis, der offenbar Spaß am Nähen gefunden hatte. Merkanto saß nicht weit von der Hexe und brachte denen, die zuhören wollten (und Gudrun, ob die nun wollte oder nicht) die Grundlagen der Höflichkeit bei.
Iljan entfernte sich schlendernd von ihrem Lagerplatz. Cary war nicht bei den Anderen. Er machte sich auf die Suche nach ihr und fand sie an dem kleinen Teich, wo noch einige Kleidungsstücke trockneten.
Cary kniete vor dem Wasser und betrachtete offenbar ihr Spiegelbild. Als Iljan näher kam, sah er, dass sie ihren Dolch in den Händen hielt.
»Cary?«, fragte er behutsam.
»Iljuscha, endlich!«, seufzte sie, als hätte sie ihn erwartet. Sie reichte ihm ihr Messer: »Ich brauche deine Hilfe.«
»Wobei … ?«
»Ich habe nachgedacht«, Cary wies nach dem stillen Wasser: »Was sieht du?«
»Mein Spiegelbild?«, Iljan wusste nicht, worauf sie hinaus wollte.
»Das Gesicht, das auf tausenden von Steckbriefen überall im Land zu sehen ist«, korrigierte Cary. »Mit mir ist es noch schlimmer, alle Weißen Wächter wissen, wie ich aussehe.« Sie strich sich über die rasierte Kopfseite, die längst nicht mehr ordentlich rasiert war. »Es sei denn, ich sehe nicht mehr aus wie auf den Steckbriefen.«
»Was hast du vor?«, fragte Iljan, als Cary mit einer geschickten Verrenkung ihre langen Haare zusammenfasste und den Zopf in Iljans Richtung hielt. Er nahm ihre Haare an, die ihm wie Seide durch die Hände glitten. Weich und glatt.
»Schneid sie ab«, sagte Cary und deutete mit der Hand: »Ungefähr hier. Versuch, es ordentlich aussehen zu lassen.«
»Was?!«, entfuhr es Iljan. »Das kann ich nicht machen!«
»Klar kannst du«, spottete Cary. »Nur für mich wird das etwas schwierig, in meinem Nacken zu schneiden.«
Iljan setzte schweren Herzens die Klinge an. Carys Haare waren so schön – wollte sie sie wirklich für seine Mission opfern?
»Es sind nur Haare, Iljan«, sagte Cary, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Die wachsen nach.«
Ihr Einzug zum Fest der Cereceri wurde mit neugierigen Blicken quittiert. Einige Cereceri wirkten ängstlich, als fürchteten sie, die Kinder der Sonne könnten sie jederzeit anfallen. Andere wirkten hasserfüllt, doch Neugier schien zu überwiegen. Cary und Iljan, die Hand in Hand einmarschierten, zogen besonders viele Blicke auf sich.
Cary hatte sich die Haare geschnitten, was sie, wie Terziel fand, noch kämpferischer aussehen ließ. Jetzt ließen die Haare den Nacken frei und auch der freche Vorhang langer Strähnen, der Carys rechte Gesichtshälfte verdeckt hatte, war verschwunden, um ihre harte Schönheit nach Außen zu bringen. Sie sah wie eine Fremde aus.
Iljan dagegen hatte seine schwarze Jacke abgelegt und trug nur sein helles Hemd, noch dazu bis zur Brust aufgeknöpft. Wäre die blasse Haut nicht gewesen, hätte man glatt vergessen können, dass er ein Vampir war.
Merkanto hatten diese Veränderungen fasziniert und er hatte direkt angekündigt, dass sie alle ähnliche Schritte ergreifen sollten, ehe sie weiterzogen. Darum hatten die ersten begonnen, neue Kleidungsstile auszuprobieren. Nachdem sie sogar untereinander Mäntel und Umhänge ausgetauscht hatten, wirkte ihre Gruppe nun mehr und mehr wie ein Zug Zigeuner. Für die Cereceri sicherlich ein spannender Anblick.
Das Fest fand im Dschungel von Wisan statt, unweit der Tigerpfote, aber gut verborgen vor Blicken von den Wiesen her. Es gab keine Musik und wenig Alkohol (trotzdem war Najaxis irgendwann ziemlich betrunken), dafür Gespräche und Essen, so viel das Herz begehrte. Es gab keine Förmlichkeiten: Jackie wurde von einigen Wolfs- und Hundecereceri zu einer spielerischen Balgerei entführt, Merkanto und Relabai wanderten bald in Gespräche vertieft fort von der Feier.
Terziel fand sich von einigen Cereceri umringt, die Vogelformen annehmen konnten – Schwäne und große Adler – und musste seine Flugkünste unter Beweis stellen. Zum Glück waren seine Schwingen inzwischen verheilt.
Bevor der Abend zur Neige ging, bekam er wieder und wieder von unterschiedlichen Cereceri versichert, dass sie Iljans Mission geheim halten und nicht an die Weißen Wächter verraten würden. Es rührte ihn, dass sich so viele Fremde für sie einsetzen wollten, gleichzeitig erinnerte es ihn daran, dass sie nicht viel länger würden bleiben können.
In den frühen Morgenstunden erst zog sich die Gesellschaft zurück und die Kinder der Sonne fielen in ihrem Lager in tiefen Schlaf, aus dem sie erst Nachmittags erwachten. Hier schließlich verkündete Cary, dass sie am nächsten Tag – dem fünften seit der Verhandlung – zum Weißen Schloss aufbrechen würden.