https://www.deviantart.com/ifritnox/art/741430712
Unter den Kindern der Sonne herrschte Aufbruchsstimmung. Inspiriert von Carys neuer Frisur versuchte der Rest, sich mit den wenigen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, ein neues Aussehen zu verpassen. Cary bekam das grüne Tuch, das Jackie für Notfälle besaß, und trug es wie eine Toga. Als Ersatz bekam Jackie den blauen Mantel von Merkanto, der wiederum erhielt Terziels goldenen Überwurf, während der Engel Iljans Frack entlieh. Najaxis konnte davon überzeugt werden, seine dünne Jacke gegen ein grobes Hemd und einen Pelzkragen einzutauschen. Selbst Gudrun beteiligte sich mit Begeisterung, einzig Abarax verzichtete.
Schließlich war Merkanto zufrieden mit dem Ergebnis. Natürlich würde jeder, der sie kannte, sie auch erkennen, aber aus der Ferne waren sie nicht länger mit der gemeingefährlichen Gruppe zu verwechseln, auf die überall ein Kopfgeld erhoben wurde.
Stella testete einige ihrer neuen Umira-Formen aus. Inzwischen konnte sie sie nach kurzer Konzentration rufen. Merkanto sah ihr zu und rieb sich kritisch das Kinn.
»Nein. Ich wünschte, du hättest weniger auffällige Formen«, urteilte er schließlich, nachdem Stella Gift, Feuer und – seit Neustem – Blitz ausprobiert hatte. In dieser Form sprühte sie knisternde Funken, also war auch das nicht wirklich eine gute Option. Die unauffälligste Form war sicherlich die Alkoholform, bei der ihre Mähne zu beigem Schaum, ihr Fell gerstenbraun wurde. Doch Stella beklagte, dass sie furchtbare Kopfschmerzen bekommen würde.
»Ich hätte vielleicht eine Idee«, sagte Gudrun, die daneben stand. »Abarax?«
Der Nachtmahr hob beide Augenbrauen, als er sah, wer ihn da rief, doch schließlich stand er auf und ging zu Gudrun, Merkanto und Stella herüber.
»Versuch doch mal, von Stella Besitzt zu ergreifen!«, schlug Gudrun vor. Nachtmahr und Einhorn starrten sie entgeistert an.
»Auf keinen Fall!«, protestierte Stella.
»Doch, das ist eine gute Idee«, mischte sich nun auch Merkanto ein.
Abarax warf Stella einen Blick zu. »Ich tue nichts, was du nicht willst, Einhorn. Aber ich glaube, ich weiß, worauf sie hinaus wollen.«
Stella senkte den Kopf und schnaubte resigniert. »Tu es.«
Abarax verwandelte sich in eine Wolke schwarzen Rauchs und schwebte auf das Einhorn zu. Die Dunkelheit umhüllte den weißen Kopf für eine Weile. Dann zog sich Abarax zurück und nahm wieder menschliche Form an.
Stellas Fell dagegen wurde zusehends dunkler. Merkanto spürte, wie er zu grinsen begann. Ja, das Einhorn verfärbte sich schwarz, mit blutroten Augen. Sie war nicht wiederzuerkennen.
»Wunderbar!«, sagte er.
»Auch nicht wirklich unauffälliger«, Cary war zu ihnen getreten. »Aber es sieht natürlicher aus als alle anderen Formen.«
Schließlich war der Moment des Abschieds gekommen. Jafis, Relabai, Korba und Iska waren gekommen, um ihnen Lebewohl zu sagen.
Relabai zog Merkanto in eine kurze Umarmung. »Pass auf dich auf, Nekromant!«
»Ich bin kein … «, Merkanto seufzte.
»Wir können euch nicht viel geben, außer unseren Glückwünschen«, meinte Jafis zu Iljan und Cary. »Hier, diese Beutel enthalten Proviant. Nicht viel, aber es sollte für eine Woche reichen.«
»Vielen Dank«, sagte Cary höflich. Iljan verneigte sich.
»Und dann gibt es noch das«, Jafis zog zwei Ketten aus dünnem Leder hervor, an denen jeweils ein Zahn baumelte. Sie streifte eine Kette über Carys Kopf, die andere über Iljans. Der Zahn war ungewöhnlich warm auf seiner Haut, als er ihm auf der Brust auflag, und so lang wie ein Finger. Iljan umschloss ihn mit der Hand.
»Das sind die Reißzähne eines großen Bestie, die diesen Wald in grauer Vorzeit heimgesucht hat«, erklärte Jafis. »Der Feuertiger. Er wurde erschlagen und mein Volk bewahrte seine Zähne und Knochen als Andenken. Es ist das Wertvollste, was ich zu geben habe. Nehmt es als Zeichen, dass die Gedanken der Cereceri stets mit euch sind.«
»Vielen Dank«, sagte Cary erneut. Ihre Stimme zitterte leicht. »Das … wir … «
Jafis lächelte über die Sprachlosigkeit der Elfe gutmütig. »Viel Glück auf eurer Reise.«
Sie zogen in einer kurzen Karawane aus der Tigerpfote aus. Unzählige Cereceri, in Gestalt von Menschen oder Tieren, und sicherlich auch einige Comori waren zu ihrem Abschied angetreten. Doch es schien Iljan, dass Jafis die Gesellschaft irgendwie verpflichtet hätte. Ihre vier Gefährten ausgenommen, wirkten die Cereceri nicht unbedingt bekümmert über den Abschied, einigen wenigen standen Missfallen und Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben. Keiner wandte sich offen gegen die Königin, doch der Hass auf die dunklen Wesen saß zu tief, um in wenigen Tagen zu verschwinden.
Iljan seufzte, als er mit Cary an der Spitze ihrer Gruppe voranschritt. Ihr Auszug gestaltete sich sehr wie eine Parade, deshalb war er froh, als die Wälder hinter ihnen außer Sicht gerieten. Bald löste sich die Marschkolonne auf und wurde zu einer unordentlichen Traube. Jackie verwandelte sich und huschte als Wolf durch das Gras vor ihnen, so klein, dass sie zwischen den hohen Halmen versank.
Wieder befanden sie sich auf offenen Wiesen, doch Merkanto sagte, dass sie bald Antordia erreicht hätten, ein kleines Meer (vielleicht eher ein großer See), worüber sie schließlich die Lande vor dem Weißen Schloss erreichen würden.
Das Ende ihrer Reise rückte näher.
Das langsame Tempo der Gruppe zerrte an Stellas Geduld. Seit sie mit Abarax' Schatten in Verbindung gekommen war, konnte sie eine Nachtmahr-Form annehmen. Doch ihr schwarzes Fell zog die Sonne an und wurde unerträglich heiß. Noch dazu schien sie die Nachteile eines Nachtmahrs übernommen zu haben, denn die Sonne machte sie müde und kraftlos. Sehnsüchtig erwartete sie die Nacht.
Als die Kinder der Sonne endlich ihr Lager aufschlugen und Dunkelheit über den Himmel kroch, fühlte Stella sich von neuer Energie durchflutet, obwohl sie eigentlich müde sein sollte. Stattdessen brauste das Blut in ihren Adern. So plötzlich wie eine Katze, die zu lange stillgesessen hatte, sprang das Einhorn los.
Oh, der Wind in ihrer schwarzen Mähne, der feste Boden unter ihren schwarzen Hufen – Stellas Herz schlug wild vor Freude, als sie über die Wiese galoppierte, die Rufe ihrer Freunde hinter sich missachtend. Es war, als wären ihr Flügel gewachsen und sie könnte plötzlich fliegen.
Sie vollführte ein paar buckelnde Sprünge, wieherte lebenslustig und stürmte dann mit gesenktem Horn vorwärts wie zum Angriff. Ihre Muskeln fühlten sich doppelt so stark. Sie fühlte sich unaufhaltsam.
»Das Gras ändert sich«, Merkanto zerrieb einen dicken Halm zwischen den Fingern.
Tatsächlich war das silbrige, daunenweiche Gras der Wiesen unmerklich diesen längeren, dunkleren Halmen gewichen, die sich unter dem Wind beugten wie dürre Erlen. Wer nicht acht gab, der riskierte, sich an den Kanten der Halme zu schneiden. Der Wind, der ihnen stets entgegen wehte, roch nach Salz.
»Wir nähern uns Antordia«, erklärte Cary, die mehrere der Halme abschnitt und zu Bündeln zusammenfasste. Trocken eigneten sich die Halme als Zunder. »Morgen, spätestens übermorgen, sollten wir die Grenze sehen können.«
»Die Grenze?«, fragte Merkanto.
Cary nickte. »Ein Zaun aus Holzstämmen, die eng nebeneinander in den Boden gerammt wurden. Etwa drei Meter hoch. Wir werden die Mauer überklettern, oder Antordia umrunden müssen.«
»Was schlägst du vor?«, fragte Merkanto.
»Ich weiß es nicht«, sagte Cary. »Um Antordia herum zu gehen, könnte uns Wochen, sogar Monate kosten. Wir müssten entweder auf den Wiesen bleiben und zu den Klippen gehen, ein Weg ohne jede Deckung, oder auf der anderen Seite ins Bergland gehen – ich weiß nicht einmal, ob es dort Pfade gibt, sie bilden nicht umsonst die Grenze unseres Reiches. Aber nach Antordia einzudringen, könnte ebenso gefährlich sein. Die Seekönige und Fischer sind ein eigenbrötlerisches Volk. Sie schätzen ihre Freiheit hoch, aber sie sind dem Weißen Schloss treu ergeben. Wenn sie uns entdecken, kann es ein böses Ende nehmen.«
»Beruhigende Aussichten«, brummte Merkanto. »Wie kommt es, dass ihr keine sichere Straße zu eurem Schloss habt?«
»Gibt es sowas denn bei euch?«, fragte Cary zurück. »Die Wiesen wären eigentlich sicher genug, und es gibt immer noch die unterirdischen Straßen durch die Zwergenminen. Nur für Eindringlinge gibt es keine sicheren Straßen.«
Merkanto unterdrückte ein Gähnen im Kragen seines Mantels. »Ich würde diese Überlegungen gerne auf Morgen verschieben. Aber wir werden uns bald für einen Weg entscheiden müssen.«
»Wenn du meine Meinung hören willst«, setzte Cary an und Merkanto nickte eilig. »Ich denke, das Beste wäre es immer noch, durch Antordia zu gehen. Wie gesagt, wir können die Grenze vielleicht überklettern, und dahinter erwartet uns offene See. Mit einem Schiff können wir viel Weg zurücklegen und es besteht die Chance, keiner Seele zu begegnen. Außerdem würde Nejakai nicht erwarten, dass wir es nach Antordia schaffen. Und ich mache mir immer noch Sorgen, dass sie uns folgen könnte.«
»Diese Magierin hat also nicht aufgegeben?«
»Ich glaube kaum, dass sie das tun würde«, Cary lächelte schmallippig. »Nach allem, was ich weiß, könnte sie die neue Anführerin der Weißen Wächter sein – obwohl traditionell eher Zentauren für diese Position gewählt werden, es könnte also auch Faymurk sein. So oder so, wir sind im Moment wohl die größte Bedrohung im Sonnenland. Sie werden die Jagd nicht abbrechen, ehe sie uns haben.«
Die Besprechung am nächsten Morgen war kurz. Während die anderen das Lager abbrachen, setzten sich Cary, Iljan und Merkanto zusammen. Cary wiederholte, was sie auch Merkanto schon erzählt hatte, und sprach sich dann wieder dafür aus, die Grenze zu überwinden.
»Wir die Grenze bewacht?«, fragte Iljan.
»Natürlich«, antwortete Cary ihm. »Die Seefahrer mögen es nicht, dass Fremde in ihrem Land umgehen. Ich habe nicht gesagt, dass es nicht riskant wird. Aber die Wiesen werden möglicherweise strenger bewacht als die Meere von Antordia.«
Iljan verzog das Gesicht. »Ich kann kein Schiff führen. Kannst du es?«
Cary verneinte mit einem Kopfschütteln. »So schwer kann es doch nicht sein.«
Merkanto hob eine Augenbraue. »Es ist schwieriger, als es aussieht. Aber ihr habt Glück, zufällig habe ich ein wenig Ahnung vom Segeln. Antordia ist nur ein großer See, oder?« Cary nickte. »Dann werden wir keine Probleme mit Wellengang haben. Wir können es schaffen.«
Iljan schwieg, dann nickte er bedächtig. »Gut. Ich muss sagen, von offenen Wiesen habe ich langsam genug. Und mit unbekanntem Land möchte ich es auch nicht versuchen. Wir gehen zur Grenze und versuchen, unerkannt nach Antordia zu kommen!«
Und so geschah es dann auch. Sie brachen auf, eilten über die Wiesen, sich nervös nach Verfolgern umsehend, aber da nichts geschah mit wachsendem Selbstbewusstsein.
Zum Nachmittag wurden sie von einer dunklen Wolke eingeholt, die schweren, klatschenden Regen brachte, eine Erinnerung daran, dass Wisan noch nicht weit hinter ihnen lag. Der Regen wurde ungewöhnlich stark. Für eine halbe Stunde oder etwas mehr hüllten die Wassermassen sie in graue Wände ein, die ihre Sicht auf wenige Meter beschränkten. Der Boden verwandelte sich unter ihren Füßen in Schlamm.
Als der Regen aufklarte, gewahrten sie plötzlich eine dunkle Linie am Horizont, gezackt schnitt sie mitten durch die Gräser, wie eine dünne Säge, die ein Riese liegen gelassen hatte.
Als sie näher kamen, erkannten sie, dass dies die Grenze war.
Merkanto wusste nicht, was er erwartet hatte, doch es war nicht das, was sich seinem Blick offenbarte. In einer langen Kette waren angespitzte Pfähle – Baumstämme, deren Äste entfernt worden waren – in die Erde gerammt worden. Querliegende Balken in einer Doppellinie stützten die Konstruktion von Außen, die Grenzmauer war sicherlich drei Meter hoch, an manchen Stellen auch höher, je nach Länge der Baumstämme. Mit dem Regenwasser, das über sie perlte, erschienen die Stämme pechschwarz.
»Das nenne ich mal einen Zaun«, kommentierte Gudrun.
Merkanto musste stillschweigend zustimmen. Obwohl sie aus Holz war, schien die Grenze für die Ewigkeit gemacht. Es waren keine Tore oder Eingänge zu erkennen. Sie würden klettern müssen, doch es war unmöglich, zu sagen, was auf der anderen Seite lag.
In schweigende Bewunderung versunken traten die Kinder der Sonne an den Zaun heran. Wasserpfützen hatten sich vor den Stämmen gestaut, manche waren knietief.
»Ich könnte drüber fliegen«, bot Terziel an.
»Warte«, sagte Abarax. »Wir wissen nicht, was dahinter ist. Man könnte dich sehen. Lass mich den Späher spielen.«
Merkanto trat zu dem Nachtmahr, als dieser auf die Mauer sah und sich offenbar bereit machte.
»Lass dir Zeit«, riet der Magier. »Ich denke, wir werden eine Pause machen und den Überstieg erst Morgen wagen. Du kannst in Ruhe nach einer geeigneten Stelle suchen.«
Abarax nickte und zerfloss zu schwarzem Rauch. Merkanto rieb sich müde die Augen. Kaum zwei Tage wieder unterwegs, und er fühlte sich vollkommen ausgelaugt. Das Reisen war keine Beschäftigung für einen alternden Magier. Er sollte in einem schwarzen Schloss sitzen und Angst und Schrecken über Dörfer bringen, statt hier knietief in Regenwasser zu stehen.
»Schlagt das Lager auf!«, sagte er zu den anderen. Jetzt war es sowieso zu spät, um sich für einen anderen Lebensweg zu entscheiden. In seiner Heimat war er ein Verräter.